Bonner Leerstellen Ein Blog für vergessene Orte der NS-Gewalt

Grabstätte dreier sowjetischer Zwangsarbeiter auf einem Friedhof in Wesseling, Foto: Simon Kalt/Bonner Leerstellen.

„Obwohl die flächendeckende Verfolgung von Zivilisten, vor allem aber der millionenfache Mord an der Zivilbevölkerung und an Kriegsgefangenen im besetzten östlichen Europa zentrale Elemente der NS-Herrschaft waren, haben die Opfer bis heute keinen angemessenen Platz im Gedächtnis Deutschlands.“ Das Memorandum der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste aus dem Jahr 2011 verweist auf eine Leerstelle in der öffentlichen Erinnerungskultur Deutschlands. Die Erinnerung an Millionen osteuropäischer Zivilisten – unter ihnen Opfer der Belagerung Leningrads, Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter hat immer noch einen nachrangigen Platz im allgemeinen historischen Bewusstsein – trotz der soliden Forschungssituation zum Thema Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Deutschland.

Auf die Bedeutung lokaler und regionaler Erinnerungsinitiativen zur Entfaltung der selbstkritischen, demokratischen Erinnerungskultur ist mehrmals hingewiesen worden.[1] Einzelaktionen der Gedenkstättenaktivisten wie die Ausgestaltung der SS-Schießstätte Hebertshausen[2] zu einer Gedenkstätte, das Namensziegelprojekt der Gedenkstätte Lager Sandbostel[3], die Memorial Archives der Gedenkstätte Flössenburg sind nur einige wenige zivilgesellschaftliche Interventionen, um den Opfern ihre Namen und somit ihre Würde zurückzugeben.

Auch im Rheinland setzen sich Aktivisten und Geschichtsvereine für die Entwicklung der Erinnerung an den historischen Orten der Gewalt ein. Das vielleicht bekannteste Beispiel dafür, dass die Erinnerung an den Ort der Gewalt „von unten“ eingefordert und danach von der Stadt übernommen wird, ist das ehemalige Gestapo-Haus in Köln (EL-DE Haus), heute das NS-Dokumentationszentrum.[4] Noch immer in gesellschaftlicher Hand und somit vor dem Problem der mangelnden finanziellen Ausstattung gestellt sind die Gedenkstätte und NS-Dokumentationszentrum Bonn e.V.[5] und die lokalen Geschichtsvereine, wie z.B. der Geschichtsverein Rösrath e.V., der sich für die Erinnerung an das Kriegsgefangenenlager Hoffnungsthal und Gedenken an die polnischen und sowjetischen Opfer einsetzt.[6]

Die Orte, die mit dem Zweiten Weltkrieg in der Rheinregion verbunden sind, sind vor allem Friedhöfe, an denen die sowjetischen Kriegsgefangenen, die zur Zwangsarbeit herangezogen wurden, und die ZwangsarbeiterInnen aus dem östlichen Europa beigesetzt sind.[7] Oft befinden sich ihre Grabstätten am Rande der Friedhöfe, nicht selten ist ihre Ausgestaltung durch die ästhetischen Vorgaben des Nationalsozialismus geprägt. Es sind keine Orte der Information über die Ausbeutung und Gewalt, nur selten tragen die Grabsteine Namen der Opfer. In die Infrastruktur des Gedenkens sind diese Orte nicht einbezogen, es finden keine Gedenkrituale an diesen Orten statt,[8] abgesehen von den Praktiken der russischsprachigen Erinnerungsgemeinschaft.

Dabei hat die Forschung der letzten 20 Jahre viel Neues über die Schicksale und das Leid osteuropäischer ZwangsarbeiterInnen ans Licht gebracht.[9] An der Universität Bonn erforschte ein Historiker-Team 2006 die Zwangsarbeit in Bonn 1940-1945.[10] Von ca. elf Tausend ZwangsarbeiterInnen waren die meisten aus Polen und der Sowjetunion verschleppt. Zu erwähnen sind vor allem die Forschungen von Julia Hildt, Britta Lenz und Jolanta Altman-Radwanska zu sowjetischen bzw. polnischen Zwangsarbeiter in Bonn während des Zweiten Weltkrieges.[11] Die Nutzung der Abtei Brauweiler (Pulheim) als Arbeitsanstalt und Gefängnis für die osteuropäischen ZwangsarbeiterInnen während der NS-Zeit ist durch die 2013 erschienene Monografie von Hermann Daners und Josef Wißkirchen dokumentiert.[12]

Wie spiegelt sich dieses Wissen im öffentlichen Raum? Der Erforschung der Orte und der Gedenkinitiativen hat sich das Projektseminar an der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn „Leerstellen – Lehrstätten: Orte der NS-Gewalt in Bonn und Umgebung“ im Wintersemester 2019/20 gewidmet.

So beschreiben die Studien zu …

  • Gräberfeld auf dem Friedhof Platanenweg Bonn-Beuel – wie an das Schicksal der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Polen erinnert wird.
  • Gräberfeld in Frechen-Bachem – wie die Namen auf den verwitterten Grabsteinen durch akribische Archivarbeit einzelne Biografien und Leidensschicksale rekonstruieren lassen.
  • Kloster Endenich – wie die Geschichte des NS-Sammellagers für jüdische BonnerInnen hinter der Geschichte vom christlichen Leidensweg verschwindet.
  • Mahnmal in Rheinbach – wie der Einsatz der lokalen Gesellschaft für die Erinnerung an die hingerichteten ukrainischen Zwangsarbeiter auch die lange verschwiegene Tätergeschichte ans Licht bringt.
  • Friedhof Wesseling – unter welchen Bedingungen ZwangsarbeiterInnen aus der Sowjetunion im Rheinland arbeiten und leben mussten und warum so viele von ihnen starben.
  • Friedhof Hürth-Knapsack – wie sich die Ausgestaltung des Gräberfelds der sowjetischen Zwangsarbeiter nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte.
  • Friedhof Bonn-Duisdorf – wie an das Stalag IV G heute erinnert wird und wie die Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit miteinander zusammenhängen.
  • JVA Siegburg – wie das Benediktiner-Kloster in Siegburg im Nationalsozialismus zur Bestrafung der sowjetischen Zwangsarbeiter genutzt wurde und was davon heute zu sehen ist.
  • Nordfriedhof in Siegburg – wie 108 Einzelgräber und ein Massengrab für die sowjetischen und polnischen Zwangsarbeiter sich heute in die Gedenklandschaft der Stadt Siegburg fügen.
  • Gedenkpraktiken der russischsprachigen Erinnerungsgemeinschaften – wer und warum heute an diesen Orten den Opfern gedenkt.
  • Erinnerungstheorien Reinhart Kosellecks – wie sein Wirken unseren Umgang mit der NS-Vergangenheit und den Gedenkorten prägte.
  • Gedenktag für die Opfer der NS-Gewalt am 27. Januar 2020 – in welcher eigentümlichen Verbindung das Beethoven-Jahr und das Opfergedenken standen.

Die Einleitung der Projektleiterin Dr. Ekaterina Makhotina reflektiert die Gründe, warum die sowjetischen Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in der Tätersprache „russifiziert“ wurden sowie die Bedeutung der lokalen Erinnerung als Chance einer dezentralen, demokratischen Erinnerungskultur.

Die Feldforschung und die Arbeiten an der Verschriftlichung der Ergebnisse sowie das Programmieren des Blogs geschah rein ehrenamtlich – ein Hinweis darauf, dass eine lebendige Erinnerung nicht viel braucht: Sie braucht vor allem das Wissen-Wollen um die „Geschichte vor der Haustür“.

Alle hier vorgestellten Einzelbeiträge finden Sie frei verfügbar auf dem Blog „Bonner Leerstellen“, hrsg. von Ekaterina Makhotina, Redaktion: Hera Shokohi, Bonn 2020.

 


[1] So z.B. Andreas Hilger: Schwieriges Gedenken. Sowjetische Kriegsgefangene im Erinnerungshaushalt der Bundesrepublik Deutschland nach 1989. In: Klei, Alexandra; Stoll, Katrin (Hg.): Leerstellen. Der deutsche Vernichtungskrieg 1941-1944 und die Vergegenwärtigungen des Geschehens nach 1989. Berlin 2019, S. 117-136, 135.

[2] Siehe: http://www.muenchner-leerstellen.de/archives/category/gedenkstaette.

[3] https://www.stiftung-lager-sandbostel.de/pädagogik-1/namensziegelprojekt/.

[4] https://museenkoeln.de/ns-dokumentationszentrum/default.aspx?s=335.

[5] http://www.ns-gedenkstaetten.de/nrw/bonn/besucherinformationen.html.

[6] https://www.gv-roesrath.de.

[7] Hesse, Hans; Purpus, Elke: Gedenken und Erinnerung im Rhein-Erft-Kreis. Ein Führer zu Mahnmalen, Denkmälern und Gedenkstätten des Ersten Weltkrieges und zur NS-Zeit. Essen 2008.

[8] Auf der Webseite http://www.sowjetische-memoriale.de kann man sich ein Bild vom Zustand der Gedenksteine machen.

[9] Fings, Karola: „Gezwungenermaßen“ – Zwangsarbeit in der Region Rhein-Erft-Rur. Bergheim 2002.

[10] Dahlmann, Dittmar (Hg.): „Schlagen gut ein und leisten Befriedigendes“. Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Bonn 1940-1945. Bonn 2006.

[11] Hildt, Julia; Lenz, Britta: „Ostarbeiterinnen schlagen gut ein…“ Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus der Ukraine, Russland und Weißrussland in Bonn 1941-1945. In: Dahlmann, Dittmar (Hg.): „Schlagen gut ein und leisten Befriedigendes“. Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Bonn 1940-1945, Bonn 2006. S. 21-124; Radwanska-Altman, Jolanta: Polnische Zwangsarbeiter in Bonn. Eine Fallstudie mit Beispielen aus der Beueler Jutespinnerei. In: Ebd., S. 125-172.

[12] Daners, Hermann; Wißkirchen, Josef: Die Arbeitsanstalt Brauweiler bei Köln in nationalsozialistischer Zeit. Essen 2013.

 

Zitierweise:
Makhotina, Ekaterina: Bonner Leerstellen. Ein Blog für vergessene Ort der NS-Gewalt, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 25.05.2020, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2020/05/bonner-leerstellen/

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Dr. Ekaterina Makhotina
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