Gut untergebracht. Die Geschichte der Kinderheime des Landkreises Köln Von Jutta Becher

Mit „Gut untergebracht“ legt die Historikerin und Diplom-Pädagogin Jutta Becher eine umfassende Untersuchung der Geschichte der Kinderheime des Landkreises Köln seit deren Gründungen in den 1920er Jahren vor. Die Grundlage dafür bieten „Quellen hauptsächlich aus den Archiven in Bergheim, Brühl, Köln und Pulheim“ sowie Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen (S. 13). Die Untersuchung gliedert sich neben Einleitung und Schlussbetrachtung in sechs inhaltliche, chronologisch aufeinanderfolgende Hauptkapitel.

Ausgangspunkt der Studie ist der Anstieg der durch Flucht und Vertreibung in Not geratenen Kinder und Jugendlichen nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Laut Becher erkannte der damalige Leiter des Kölner Kreisjugendamts, Jakob Sonntag, diesen Notstand und initiierte die Einrichtung eines Kinderheimes für den Landkreis (S. 11). 1950 wurde zunächst ein provisorisches „Kreiswaisenhaus“ in der nordwestlich von Köln gelegenen Gemeinde Brauweiler eingerichtet (S. 11). Acht Jahre später wurde diese Übergangslösung aufgegeben und es erfolgte der Umzug in einen neu gebauten Gebäudekomplex in der Stadt Brühl. Diese Brühler Einrichtung steht im Fokus von Bechers Studie. Dazu skizziert sie im zweiten Kapitel „Vorgeschichten“ die Anfänge der Kinderfürsorge in Brühl vor der Gründung des Kinderheimes. In der Darstellung von Becher waren es vor allem Ordensfrauen, zunächst Schwestern der Ordensgemeinschaft der Salvatorianerinnen und später der Cellitinnen zur hl. Maria in der Kupfergasse aus Köln, die für die Betreuung der Kinder sorgten (S. 11).

Das erste inhaltliche Hauptkapitel, Kapitel 3, beschäftigt sich mit dem schon in den 1920er Jahren gegründeten Kinderheim des Landkreises Köln, das seinen Standort in Barkhausen im ostwestfälischen Kreis Minden hatte. Becher geht auf die Einrichtung einer Heimschule zur Erziehung der dortigen Kinder sowie auf die Folgen der NS-Zeit auf die Gestaltungsmöglichkeiten im Bereich der Jugendfürsorge ein. Von 1950 bis 1958 habe die Einrichtung dann nur noch als reines Kindererholungsheim gedient. Becher lässt die Erinnerungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einfließen, denen das Haus in ihrer Kindheit bekannt war oder die jemanden vom früheren Hauspersonal kannten. Erinnert wurde hierbei vor allem die Isolation der Heimkinder gegenüber der einheimischen Bevölkerung (S. 103). Ehemalige hier untergebrachte Kinder oder früheres Personal konnte Becher nicht mehr ausfindig machen, was sie damit erklärt, dass die Einrichtung seit siebzig Jahren nicht mehr existiert (S. 103). Die Kreisverwaltung Köln habe die Einrichtung rückblickend als „wegweisende soziale Pioniertat“ bezeichnet, die zum Zeitpunkt der Schließung 1958 aber ausgedient hatte (S. 106–107).

Das vierte Hauptkapitel widmet sich dem Kreiskinderheim „Haus Ehrenfried“ in Brauweiler, das nach dem Zweiten Weltkrieg als Provisorium eingerichtet worden war. Dem folgt das fünfte Kapitel über die Fortsetzung am neuen Standort Brühl und der dortigen Einrichtung des Hauses Ehrenfried. Becher thematisiert den Wechsel des Hauspersonals, fragt nach dem alltäglichen Leben im Heim sowie den zugrundeliegenden pädagogischen Konzepten. Als weitere Themen werden der Platzmangel, die Finanzierung und Modernisierungsbestrebungen abgehandelt. Das kurz gehaltene sechste Hauptkapitel beleuchtet das Ende der Einrichtung und den Verkauf des Areals im Jahr 1987.

Das Kapitel 7 „Erinnerungen an ‚Haus Ehrenfried‘“ basiert auf den Berichten der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und erhält in der Studie viel Raum. Die Autorin will herausfinden, „wie Kinder und Jugendliche, Erziehungs- und Hauswirtschaftspersonal dort die Atmosphäre und den Alltag erlebt haben“ (S. 238). Positiv hervorzuheben ist, dass Becher die methodischen Herausforderungen der Interviews als historische Quellen reflektiert und transparent macht, dass die Themenauswahl den Interviewten überlassen wurde: „Der Schwerpunkt liegt auf der subjektiven Wahrnehmung, Blickwinkeln und Einschätzungen, Begegnungen und Gefühlen der ZeitzeugInnen.“ (S. 239). Becher sieht diese Interviews als Korrektiv gegenüber der „offiziellen Außendarstellung des Heims“ (S. 239) und dem, was aus den Schriftquellen greifbar ist. Auch stellt sie klar, dass ihrer Studie nur eine relativ kleine Anzahl von Interviews zugrunde liegt und die Befragungen „keinesfalls den Anspruch einer repräsentativen Stichprobe“ erheben (S. 239), gibt jedoch nicht an, wie viele Interviews sie verwendet hat. Inhaltlich folgt das siebte Kapitel den klassischen Themen der Kinder- und Waisenfürsorge, unter anderem werden die Wohnsituation, Ausstattung und Versorgung, die Gestaltung von Freizeit aber auch die Themen Bestrafungen und Misshandlungen aufgegriffen.

Das Schlusskapitel, Kapitel 8, fällt sehr knapp aus, wobei die zu erwartende Zusammenführung der wesentlichen Ergebnisse im Vergleich der Anstalten ausbleibt. Interessant ist der Ausblick auf das 1998 gegründete „Haus Schumaneck“, das anstelle von geschlossenen Einrichtungen auf dezentrale Familienwohngruppen bzw. sozialpädagogische Lebensgemeinschaften setzte, die im Brühler Stadtgebiet auch geographisch verteilt untergebracht wurden. Damit verweist Becher auf ein gewandeltes Verständnis des professionellen Umgangs mit vernachlässigten oder traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Auch bringt sie an dieser Stelle den Hinweis auf die neue Gesetzeslage: Am 1. Januar 1991 trat in den alten Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz (KHG) in Kraft (in den neuen Bundesländern übrigens schon am 3. Oktober 1990). Statt einer „stationären Heimerziehung“ zielte man nun auf die Unterbringung in familiären Strukturen (S. 286). Zugleich, so Becher, bestätigte die Einrichtung des Hauses Schumaneck den weiterhin großen Bedarf an Unterbringungs- und Versorgungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche, die nicht mehr in ihren Elternhäusern leben konnten (S. 287).

Nach dem Haupttext listet Becher in ihren „Zeitleisten“ die Eckdaten zur Entstehung und Entwicklung der zuvor behandelten Kinderheime auf. Für das Kreiskinderheim Haus Ehrenfeld arbeitet sie zudem die bekannten Heimleiterinnen und Heimleiter von 1950 bis 1983 heraus (S. 291). In den Hauptkapiteln und auf separaten Bildtafeln findet sich umfangreiches Bildmaterial, vor allem Schwarz-Weiß-Fotografien sowie Pläne und Gebäudegrundrisse der behandelten Kinderheime. Die fotografischen Aufnahmen zeigen Gebäudeansichten und Innenräume, die Heimkinder sowie das Personal der Einrichtungen. Durch das bildliche Material erhalten die betroffenen Kinder ein Gesicht und die Thematik einen gewissen Grad an Lebendigkeit. Die Erinnerungsberichte der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bindet Becher entweder als – teilweise gekürzte – Abschriften oder als Paraphrasen bzw. direkte Zitate in ihren Haupttext ein.

Die Studie von Jutta Becher ist eine Grundlagenarbeit für die Geschichte der Kinderheime im Kölner Raum der Nachkriegszeit. Sie wählt dabei mit ihren lokalen bzw. regionalen Beispielen einen sozialgeschichtlichen Ansatz, der es ihr ermöglicht, tief in die überlieferten Quellen einzusteigen, Details herauszuarbeiten und Besonderheiten in den Blick zu nehmen. Ein nächster Schritt – den Becher leider nicht geht – wäre, nach überregionalen Strukturen in der Entwicklung und Fortführung von Kinderheimanstalten zu fragen. Bechers Untersuchung geht auf Archivrecherchen sowie Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zurück. Ihre Aufrufe erreichten unter anderem ehemalige Heimkinder und Mitarbeitende, wodurch sie „Auskünfte über die individuell erlebte und verarbeitete Heimrealität“ (S. 290) erhalten habe.

Leider mangelt es der Studie an der Entwicklung einer konkreten Fragestellung bzw. eines roten Fadens, wobei die Stückelung der Hauptkapitel in viele sehr kurz gehaltene Unterkapitel den Lesefluss beeinträchtigt. Ebensowenig ordnet Becher ihre Studie zu Beginn in das Forschungsfeld ein. Die in den letzten Jahrzehnten veröffentlichten zentralen Studien zur Waisen- und Kinderversorgung bezieht Becher mit ein, berücksichtigt aber einige der jüngeren Publikationen, etwa die Dissertationen von Verena Limper (2021) und Antje Schloms (2017) nicht.[1] Hinzu kommen inhaltliche Detailfehler wie die Aussage, in Deutschland seien Drehladen, also Vorläufer der modernen Babyklappe, erstmalig im Jahr 2000 in Hamburg-Altona eingerichtet worden (S. 14, Anm. 14), wobei sie kurz darauf von einer Drehklappe berichtet, die schon 1709 bis 1714 im Hamburger Waisenhaus eingerichtet worden war (S. 14, Anm. 8). Auch ist anzumerken, dass die teils kryptischen bzw. unvollständigen Signaturangaben der Archivalien sich nicht erschließen (z. B. wird auf S. 37 wiederholt nur mit der Angabe „Archiv der Stadt Brühl“ belegt), wobei es sich bei den Schriftquellen mit hoher Wahrscheinlichkeit vor allem um Verwaltungsschriftgut handeln wird. Die konkreten Quellennachweise und Angaben zum Bildmaterial im Anhang fehlen, sodass ihre Provenienz und der Entstehungskontext nicht nachvollziehbar sind. Besonders bei den fotografischen Aufnahmen erschwert die fehlende Datierung ihre zeitliche Einordnung. Hinzu kommt, dass nur selten Auskunft über die auf den Fotografien abgebildeten Personen gegeben wird, was aber wahrscheinlich dem Umstand geschuldet ist, dass sich gerade die nachträgliche Identifizierung der Kinder äußerst schwierig gestalten dürfte.

Becher, Jutta: Gut untergebracht. Die Geschichte der Kinderheime des Landkreises Köln (Studien zur Geschichte an Rhein und Erft 9), Köln 2022, 338 S.; ISBN 978-3-412-52319-0.

 


[1] Limper, Verena: Flaschenkinder. Säuglingsernährung und Familienbeziehungen in Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar 2021.
Schloms, Antje: Institutionelle Waisenfürsorge im Alten Reich 1648–1806. Statistische Analyse und Fallbeispiele. Stuttgart 2017.

 

Zitierweise:
Fiegenbaum, Thea: Rezension zu “Gut untergebracht. Die Geschichte der Kinderheime des Landkreises Köln”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 08.08.2022, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2022/08/rezension-gut-untergebracht-kinderheime-koeln-fiegenbaum

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Thea Fiegenbaum

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