Kreisarchiv Viersen. Moderner Speicher für die historische Überlieferung. Von Helge Drafz

Im August 2022 feierte das Kreisarchiv Viersen nach rund zweieinhalb Jahren Bauzeit die Eröffnung seines Neubaus. Im Gegensatz zu den meisten Kommunal- und Kreisarchiven erhält der Kreis Viersen damit ein Gebäude, das ganz auf die Zwecke der Archivierung ausgerichtet ist. Das Kreisarchiv verwahrt nicht nur die Überlieferung des Kreises, sondern auch die der kreisangehörigen Städte und Gemeinden Brüggen, Grefrath, Kempen, Nettetal, Niederkrüchten, Schwalmtal, Tönisvorst und Viersen. Die Publikation des Historikers und Journalisten Helge Drafz, die vom Landrat des Kreises Viersen herausgegeben wurde, begleitet die Einweihung und bietet sowohl Einblick in das neue Archivgebäude als auch in die Bestände des Kreisarchivs vom Mittelalter bis in die 1980er Jahre. Dabei entschied sich der Autor für ein chronologisches Vorgehen und erzählt anhand von sechzig ausgewählten Archivalien Geschichte, vor allem aber einzelne Geschichten und Geschichtchen.

Den Auftakt bildet ein einführender Text zur Entstehung des Kreisarchivs Viersen und über seine Entwicklung bis hin zum gegenwärtigen Neubau (S. 12–23). Drafz beschreibt nicht nur das Gebäude und die neuen Räumlichkeiten, sondern äußert auch grundlegende Gedanken zu modernen kommunalen Archiven, den Zweck von Archiven und ihren Funktionsweisen. Nach Drafz sind Archive dem Großteil der Bevölkerung fremd, weshalb er seine Publikation als Versuch versteht, Archive und ihre Schätze einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Nachdem Drafz zunächst die gängigen Klischees aus Literatur und Film aufgreift, charakterisiert er heutige Archive als Wissens- und Materialspeicher (S. 22), in denen überliefert wird, was Menschen in der Vergangenheit wussten und wie sie handelten. Archive seien weitaus mehr als „Fenster in die Vergangenheit“ (S. 19): Als „Zukunftsressource“ (S. 19) würden sie auch heute die infrastrukturellen Rahmenbedingungen des Handelns und des Transfers von Wissen schaffen. Das breite Spektrum archivischer Tätigkeit schildert Drafz anhand einiger der zentralen Herausforderungen moderner Archivarbeit, u. a. der Digitalisierung von Archivbeständen, der Serviceorientierung und Öffentlichkeitsarbeit, Citizen Science und der Einbindung moderner Kommunikationstechniken wie Social Media.

Ein weiterer Aspekt, der vom Autor mehrfach herausgestellt wird, ist die Umsetzung des Viersener Neubaus nach ökonomischen und ökologischen Gesichtspunkten (S. 22). Der Neubau ist nach Angaben der Bauverantwortlichen an den Prinzipien der zirkulären Wertschöpfung orientiert (S. 23), d. h. Nachhaltigkeit und Energieeffizienz spielten bei der Konzeption und Umsetzung des Bauprojekts eine wesentliche Rolle. Damit zähle das Kreisarchiv Viersen mit dem von ihm beschrittenen Weg als „Leuchtturmprojekt“, das für die Nachahmung prädestiniert sei – was im Übrigen auch für das 2021 eröffnete Kölner Stadtarchiv zutrifft.

In seinen Geschichten und Geschichtchen deckt Drafz eine große Breite an Themen ab, erzählt Überraschendes, Unterhaltsames oder auch bisher Unbekanntes. Er beginnt seine Tour durch die Bestände des Kreisarchivs mit einer Urkunde von 1305, an der das Kempener Stadtsiegel angebracht ist (S. 26). Das Archivale ist ein Beispiel für den umfangreichen mittelalterlichen Urkundenbestand des Kreisarchivs, der historisch gesehen sicherlich zu den wertvollsten Beständen des Hauses zählt. Es folgt eine bunte Mischung aus Erzählungen zu verschiedensten Themen, die einzelne Quellen ins Licht rücken, z. B. eine topographische Skizze aus dem Jahr 1768, in der unter anderem die Gerichtsstätte auf den Hinsbecker Höhen eingezeichnet ist (S. 46). Dort wurde Jahrhunderte lang das Landschöffengericht abgehalten, d. h. Gerichtsverhandlungen für Verbrechen, die nicht der Blutgerichtsbarkeit unterlagen. Todesurteile wurden auf dem ebenfalls eingezeichneten sogenannten „Galgenbergh“ vollstreckt, wobei man die Toten zur Abschreckung über längere Zeit am dortigen Galgen hängen ließ. Eine eher kuriose Geschichte ist die Suche des hochverschuldeten Niederkrüchten-Elmpter Pferdezuchtvereins nach einem Zuchthengst im Jahr 1920 (S. 116). Nur durch die Vorleistungen der Vereinsmitglieder konnte für die Summe von 40.000 Reichsmark der belgische Hengst „Mousseux de Rebecq“ gekauft werden, der in den kommenden Jahren für eine erfolgreiche Zucht sorgen sollte und entsprechend in der Region beworben wurde. Unglücklicherweise machte eine Beinverletzung ihn zwei Jahre nach dem Kauf zum Invaliden und für die Zucht untauglich – ein erheblicher Rückschlag für den Pferdezuchtverein. Immerhin war die Zeugungskraft von Mousseux mit der Kaufsumme von 40.000 Reichsmark versichert worden, sodass dem Verein zumindest finanziell kein Nachteil entstand. Die letzte Geschichte behandelt den Besuch der „Eisernen Lady“ Margaret Thatcher bei der britischen Luftwaffe im Rheinland im Jahr 1983 (S. 168–170). Schwarzweißfotografien, die über den Nachlass eines Pressefotografen der Rheinischen Post ins Kreisarchiv kamen, zeigen die damalige Premierministerin im Kostüm und mit Gehörschutz im Kreis ihrer Offiziere am Flughafen.

Die mit etwa 100 Abbildungen reich illustrierte Publikation richtet sich an eine breite, historisch interessierte Öffentlichkeit. Die Gestaltung erinnert an einen Ausstellungkatalog und die ganzseitigen Abbildungen der Quellen, die teilweise stark vergrößert wurden oder nur in Ausschnitten abgebildet sind, stellen einzelne Archivalien in den Mittelpunkt. Positiv anzumerken ist hierbei, dass Drafz die Bestandssignaturen der Archivalien angibt, sodass die Leserinnen und Leser sie leicht im Archiv recherchieren können. Die einzelnen Erzählungen nehmen vom Umfang her jeweils nur ein bis zwei Buchseiten ein und sind damit als Schlaglichter zu verstehen, die bewusst sehr knapp gehalten sind. Kleinere Fehler, wie etwa eine Textdopplung im Einleitungsteil (S. 19/22), mindern nicht die Qualität der Publikation. Der Bildband lädt dazu ein, immer wieder eines dieser Schlaglichter aufzuschlagen und zu entdecken. Und vielleicht kann dieser Zugang die regionalgeschichtlich interessierten Leserinnen und Leser dazu verleiten, das Kreisarchiv Viersen selbst aufzusuchen.

 

Drafz, Helge: Kreisarchiv Viersen. Moderner Speicher für die historische Überlieferung, Köln 2022, 176 S.; ISBN: 978-3-7743-0933-3.

 

Zitierweise:
Fiegenbaum, Thea: Rezension zu “Kreisarchiv Viersen. Moderner Speicher für die historische Überlieferung.”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 28.08.2023, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2023/08/rezension-kreisarchiv-viersen-fiegenbaum

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Thea Fiegenbaum
Thea Fiegenbaum

Über Thea Fiegenbaum

Thea Fiegenbaum ist wissenschaftliche Referentin beim LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum. Sie war zuvor im Historischen Archiv der Stadt Köln tätig und promoviert über Waisen- und Findelkinder der Stadt Köln in der Frühen Neuzeit. Sie studierte Geschichte, Mittelalterstudien und Literaturwissenschaft an den Universitäten Köln und Bielefeld.

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