Die Abstracts zur Tagung „Die Stadt und die Anderen“ Sektion V: Literarische Konstruktionen von Fremdheit

Die letzte Sektion der Tagung behandelt Texte, die gemeinhin als literarisch bzw. philosophisch bezeichnet werden, mit Blick auf die Frage nach städtischen Identitäts- und Alteritätskonstruktionen aber auch interessante historische Quellen darstellen. Nicht zuletzt fordern sie dazu heraus, die gängigen disziplinären Grenzen zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft sowie Philosophie zu hinterfragen. Das Panel ist dementsprechend interdisziplinär zusammengesetzt.

Referieren wird zum einen der Philosoph Univ.-Doz. Dr. Sergius Kodera, Dekan der Fakultät Gestaltung an der New Design University St. Pölten und Dozent an der Universität Wien, der sich umfassend mit dem Werk seines Protagonisten Giordano Bruno befasst und verschiedene von dessen Texten ediert hat.[1] Zum anderen leistet der Historiker Prof. Manfred Groten, vormaliger Inhaber des Lehrstuhls für Rheinische Landesgeschichte an der Universität Bonn, einen Beitrag zu der Sektion. Er ist Spezialist für Kölner Stadtgeschichte und nicht zuletzt für das Werk Hermann Weinsbergs.[2] Beide Referenten befassen sich mit Texten zum London des 16. und 17. Jahrhunderts. Moderiert wird die Sektion von dem Germanisten und Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Stephan Kraft von der Universität Würzburg, der sich seit vielen Jahren mit Selbstzeugnissen und Ego-Dokumenten sowohl der Frühen Neuzeit als auch des 20. Jahrhunderts beschäftigt.[3]

Im Anschuss an die Sektion wird die Historikerin Prof. Dr. Susanne Rau, Professorin für Geschichte und Kulturen der Räume in der Neuzeit an der Universität Erfurt, die Tagung kommentieren und damit die Schlussdiskussion einleiten. Sie ist Spezialistin für vormoderne Stadtgeschichte und städtische Erinnerungskulturen.[4]

Di., 25.09.2018, 14.30–15.15 Uhr
Univ.-Doz. Dr. Sergius Kodera (Wien/St. Pölten)
Giordano Bruno – ein Süditaliener im London Shakespeares

Als der entsprungene Dominikaner Giordano Bruno (1548–1600) unter dem Schutz des französischen Botschafters Michel de Castelnau im April 1583 von Paris nach London kommt, ist er in vieler Hinsicht ein europäisches legal alien. Seine Flucht aus dem Dominikanerkonvent San Domenico Maggiore in Neapel (1576) hatte ihn bereits über viele Zwischenstationen durch halb Europa geführt. In London ist der exzentrische Meister der Gedächtniskunst gelandet, weil für den Günstling von Henri III auch in Frankreich der Boden zu heiß geworden war. In einer gewiss nicht eben bequemen Dachkammer der Londoner Botschaft wird er in den kommenden zweieinhalb Jahren jene italienischen Dialoge über die Philosophie des unendlichen Universum verfassen, die seinen Weltruhm als Philosoph begründen. Diese über weite Stecken hinreißend komischen Texte erzählen auch von Brunos außerordentlich negativen, ja verheerenden Erfahrungen mit den Bewohnern von London; zudem wird in diesen Dialogen – insbesondere in „La cena delle ceneri“ („Das Aschermittwochsmahl“) –  ein topographisch detailreiches Bild der Stadt gezeichnet. Es sind Erfahrungen von Fremdheit, ja von Barbarei, die Bruno aus seiner süditalienschen Perspektive konstruiert. Der Vortrag wird zunächst wesentliche, zu diesem Thema vorhandene Sekundärliteratur Revue passieren lassen, um sich dann der spezifisch literarischen Verfasstheit von Brunos Konstruktion von Alteritätserfahrungen und deren kognitiver Funktion im Rahmen seiner Philosophie zu widmen.

Di., 25.09.2018, 15.15–16.00 Uhr
Prof. Dr. Manfred Groten (Bonn)
Fremdheit im Vertrauten. Daniel Defoes (fiktiver) Erlebnisbericht über die Pest in London 1665

Der Vortrag verfolgt nach Vorgabe des Tagungsthemas zwei Ziele:

1. Bestimmung der Textsorte, der der Text angehört, den wir als „Journal of the Plague Year“ von Daniel Defoe kennen: Es handelt sich um ein am Schluss von einem H. F. gezeichnetes (fiktives) Egodokument, das sich als Augenzeugenbericht präsentiert (zu „pseudofactual documentary fiction“ vgl. grundlegend Barbara Foley 1986). Der Bericht soll auf der Grundlage von Notizen wesentlich später in die vorliegende Form gebracht worden sein. Dieser Befund wirft die Authentizitätsfrage auf, die wiederholt erörtert worden ist (vgl. Watson Nicholson 1919, Frank Bastian 1965). Aus diesem Dilemma resultiert die Frage nach dem Quellenwert des Textes für den Historiker.

2. Die Londoner Pestepidemie von 1665 wird als Einbruch des Fremden schlechthin in eine großstädtische Lebenswelt interpretiert: Jenseits der nicht abschließend zu klärenden Frage der Faktizität des Berichts soll in einem Neuansatz unter mentalitätsgeschichtlichen Vorzeichen der Text als Auseinandersetzung eines Londoners mit dem Phänomen der Pest für ein (vornehmlich) Londoner Publikum analysiert werden. Dabei verdienen drei Aspekte besondere Aufmerksamkeit: Die Wahrnehmung der Pest aus der Perspektive von H. F.; die Frage, welche Strukturen und Verhaltensweisen sich angesichts der Zerstörungskraft der Epidemie in der Wahrnehmung von H. F. behaupten können; und schließlich die Frage nach den von H. F. beschriebenen Bewältigungsstrategien.

Di., 25.09.2018, 16.30–17.15 Uhr
Prof. Dr. Susanne Rau (Erfurt)
Kommentar und Schlussdiskussion

 


[1] Giordano Bruno: Cabala del cavallo pegaseo, auf der Grundlage der Übers. v. Kai Neubauer bearb., kommentiert und hrsg. v. Sergius Kodera (Giordano Bruno, Werke italienisch-deutsch 6), Hamburg 2009; Giordano Bruno: Cadelaio / Der Kerzenzieher, übers., kommentiert u. hrsg. v. Sergius Kodera (Giordano Bruno, Werke italienisch-deutsch 1), Hamburg 2013.

[2] Manfred Groten: Köln im 13. Jahrhundert. Gesellschaftlicher Wandel und Verfassungsentwicklung (Städteforschung A/36), 2. Aufl., Köln/Weimar/Wien 1998; Manfred Groten (Hrsg.): Hermann Weinsberg (1518–1597) – Kölner Bürger und Ratsherr. Studien zu Leben und Werk (Geschichte in Köln. Beihefte 2), Köln 2005.

[3] Stefan Elit / Stephan Kraft / Andreas Rutz (Hrsg.): Das ‚Ich’ in der Frühen Neuzeit. Autobiographien – Selbstzeugnisse – Ego-Dokumente in geschichts- und literaturwissenschaftlicher Perspektive = zeitenblicke. Online-Journal für die Geschichtswissenschaften 1 (2002), Nr. 2 [20.12.2002]; Gottfried Benn / Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel 1932–1956, hrsg. v. Harald Steinhagen, Stephan Kraft u. Holger Hof, 4 Bde., Stuttgart/Göttingen 2016.

[4] Susanne Rau: Geschichte und Konfession. Städtische Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung in Bremen, Breslau, Hamburg und Köln (Hamburger Veröffentlichungen zur Geschichte Mittel- und Osteuropas 9), Hamburg/München 2002; Susanne Rau: Räume der Stadt. Eine Geschichte Lyons 1300–1800, Frankfurt a. M./New York 2014.

 

Zitierweise:
Rutz, Andreas: Die Abstracts zur Tagung „Die Stadt und die Anderen“. Sektion V: Literarische Konstruktionen von Fremdheit, in: Histrhen.  Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 29.08.2018, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2018/08/die-stadt-und-die-anderen-sektion-fuenf

Druckversion
Prof. Dr. Andreas Rutz
Prof. Dr. Andreas Rutz

Über Prof. Dr. Andreas Rutz

Prof. Dr. Andreas Rutz ist Inhaber des Lehrstuhls für Sächsische Landesgeschichte an der Technischen Universität Dresden und Direktor des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde. Studium in Bonn, Paris und New York, Promotion 2005 und Habilitation 2014 in Bonn, danach Lehrstuhlvertretungen in Münster, Bonn und Düsseldorf sowie eine Kurzzeitdozentur in Tokio/Japan. Forschungsschwerpunkte sind die vergleichende Landes- und Stadtgeschichte sowie die Geschichte der Frühen Neuzeit; aktuelles DFG-Projekt: „Weibliche Herrschaftspartizipation in der Frühen Neuzeit. Regentschaften im Heiligen Römischen Reich in westeuropäischer Perspektive“.

Beitrag kommentieren

Ihre E-Mail wird nicht öffentlich sichtbar sein. Erforderliche Felder sind markiert mit einem *

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.