Westfalen. Geschichte eines Landes, seiner Städte und Regionen in Mittelalter und Früher Neuzeit Von Werner Freitag

Das vorliegende knapp 670 Seiten starke Werk ist die „wesentlich erweiterte Form“ (S. 9) der über zwei Semester angelegten Abschiedsvorlesung von Werner Freitag, der von 2004 bis 2021 Professor für Westfälische und Vergleichende Landesgeschichte an der Universität Münster war. Diese „Gesamtschau“ (S. 9) zur westfälischen Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit stellt den (vorläufigen) Abschluss einer fast vierzigjährigen Publikationstätigkeit Freitags zur westfälischen Landesgeschichte der Vormoderne dar.

Dabei legt Freitag dezidiert seine eigene Sichtweise auf Westfalen zugrunde und versteht seine „Synthese als ein Angebot“ (S. 20), „aus dem unendlichen Chaos vergangener Handlungen“ (S. 19) Linien und Konturen herauszuschärfen, die für die Geschichte Westfalens charakteristisch sind. Diese Leitlinien, Brüche und Konturen seines Westfalens werden in 13 vornehmlich chronologisch geordneten Kapiteln herausgearbeitet. Die Darstellung erschöpft sich nicht in einer für Gesamtwestfalen gültigen chronologischen Übersicht, sondern es werden Differenzen und Besonderheiten zwischen Territorien weltlicher und geistlicher Landesherren sowie zwischen einzelnen Städten oder von Stadt und Land aufgezeigt. Dies entspricht dem Anspruch Freitags, nicht eine Gesamtgeschichte, sondern eine Geschichte der verschiedenen Räume, Territorien und Vorstellungen Westfalens zu schreiben.

Nachdem im einleitenden Kapitel das durchaus komplexe Gebiet ‚Westfalen‘ als Mental-Map und Organisationsrahmen vorgestellt wird, wird damit zugleich auch der heterogene Forschungsgegenstand, nämlich ein Westfalen, das sich vom Emsland bis zum heutigen Teilbundesland Nordrhein-Westfalen erstreckt, konturiert und die Relevanz einer solchen Geschichte Westfalens begründet. Ab Kapitel II beginnt Freitag dann die Entwicklung dieses Raums ab dem 8. Jahrhundert nachzuzeichnen. Es gelingt ihm dabei über alle Kapitel die große chronologische Linie beizubehalten sich jedoch nicht in reiner Ereignisgeschichte zu verlieren, sondern jeweils leitende Faktoren wie die Entwicklung der Städte und der ländlichen Gesellschaft, der Kirchen-, Glaubens- und Frömmigkeitsgeschichte sowie der Alltags- und Sozialgeschichte aber auch der Wissens- und Ideengeschichte zu verfolgen.

Die Kapitel II–VI (S. 27–292) behandeln die mittelalterliche Entwicklung ausgehend von der Darstellung der Sachsen (Kap. II) über die Fränkischen Eroberungen (Kap. III) und der damit einhergehenden Christianisierung sowie der Ausbildung von Bistümern und westfälischen Städten. Dem Hochmittelalter wendet sich Freitag in Kapitel IV zu, wobei verstärkt die Rolle des Adels betont wird, bevor in Kapitel V („Umbrüche 1180 – ca. 1350“) die Territorialisierung Westfalens zur Richtschnur wird. In Kapitel IV, das unter dem Titel „Das ‚lange‘ 15. Jahrhundert (ca. 1350–1530/50)“ wiederum fast zweihundert Jahre behandelt, werden die wichtigen Leitstränge der Betrachtung Freitags zur mittelalterlichen Geschichte (Vorstellungen Westfalens, territoriale Spezifika, Wirtschafts-/Agrargeschichte, Städte- und Alltagsgeschichte, religiöse Geschichte und Sozialgeschichte) in je einzelnen Unterkapiteln betrachtet und zu einem vorläufigen Zwischenfazit gebracht. Dabei gelingt es Freitag, die großen Linien der Entwicklung des mittelalterlichen Reiches im Kleinen gut erkennbar und deutlich zu machen und dabei auch jüngere Forschungsergebnisse einzubeziehen.

Der zweite im Buchtitel angesprochene Zeitraum, die Frühe Neuzeit (Kapitel VII–XIII), nimmt etwas mehr Raum ein (S. 293–646) und beginnt mit der Feststellung, dass die fundamentalen Differenzierungsprozesse der Reformation erst mit einiger Verspätung in Westfalen anzutreffen waren. Dieser Beobachtung wird mit dem Täuferreich von Münster noch eine weitere spezifische Besonderheit Westfalens an die Seite gestellt. Diese Phänomene der konfessionellen Differenzierung beleuchtet Freitag in Kapitel VII genauer, wobei er nicht allein nach gelungenen und fehlgeschlagenen Reformationen unterscheidet, sondern unterschiedliche Arten von Reformationsbestrebungen in verschiedenen Gemeinwesen („Erfolgreiche Reformation in den Autonomiestädten“ S. 299–310; „Gescheiterte Stadtreformationen“ S. 310–324; „Die landesherrliche Reformation“ S. 324–334; „Zwischen den Bekenntnissen, die humanistische Reform“ S. 335–339) untersucht werden.

Kapitel VIII wendet sich dann der Verfestigung konfessioneller Kulturen und der Staatsbildung innerhalb der westfälischen Territorien zu, wobei die Entwicklung der brandenburgisch-preußischen Territorien im Kapitel IX separat betrachtet wird. In beiden Kapiteln werden Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte sowie Kirchen- und Konfessionspolitik untersucht. Ein Vergleich am Ende von Kapitel IX rundet diese dichotomische Betrachtung ab.

Die folgenden zwei Kapitel bilden erneut ein kontrastiv-komplementäres Paar, indem einerseits verschiedene westfälische Städte (Kapitel X) untersucht werden, um anschließend die Entwicklung auf dem Land (Kapitel XI) nachzuvollziehen. Die Unterscheidung einzelner Städtetypen („Residenz- und Hauptstädte der geistlichen Staaten, Arnsberg, Münster, Osnabrück und Paderborn“; „Detmold als Haupt- und Residenzstadt der Grafschaft Lippe“; „Die preußische Verwaltungsstadt Hamm“; „Die brandenburgisch-preußischen Festungsstädte: Hamm, Lippstadt und Minden“; „Iserlohn die Stadt des Wirtschaftsbürgertums“; „Die Reichsstadt Dortmund“; „Die Klein- und Minderstädte“) und das heuristische Potenzial der Differenzierung werden dabei ausgeschöpft. Sowohl hier wie bei der Betrachtung der kleineren und Minderstädte sowie im anschließenden Kapitel zur Entwicklung auf dem Land profitiert die Darstellung von der großen Fachkenntnis des Autors, die sich merklich aus der langen Beschäftigung mit den verschiedenen westfälischen Städten speist.

Der Sozialgeschichte im weitesten Sinne wendet sich Kapitel XII unter dem Leitmotiv der „Knappheitsgesellschaft“ zu, in dem neben Hungerereignissen und Kriegserfahrungen die Policeyordnungen aber auch der Umgang mit als deviant wahrgenommenen Gruppen der Gesellschaft (Arme, Diebe, „Zigeuner“, Hexen aber auch jüdischer Minderheiten) thematisiert werden.

Der Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts und der westfälischen Spielart der Aufklärung widmet sich Kapitel XIII, das über die gesellschaftlichen Prozesse der Aufklärung den Bogen zum Anfang schlägt und mit „Westfalen als aufgeklärter Zukunftsvision“ (S. 617) auf die Herausbildung der Strukturen hinweist, die zur Entwicklung einer “Mental-Map” Westfalens führen, die letztlich mit zur Erstellung dieses Bandes beigetragen haben. Damit gelingt es Freitag den großen Bogen seiner Geschichte Westfalens elegant zu schießen. Kapitel XIV stellt lediglich einen zweiseitigen Epilog dar.

Wie bereits angedeutet, stellt das Buch „Westfalen“ ein Ergebnis langjähriger landesgeschichtlicher Forschung im besten Sinne dar. Durch die gute Strukturierung und klare Aufbereitung der einzelnen Teilkapitel kann es sowohl als guter Überblick zu einzelnen Themen, aber auch als einführende Lektüre dienen. Durch die gezielt auch im Text eingestreute Quellenbasis wie durch anschaulich wiedergegebenes Detailwissen dürfte es bei Studierenden wie Forschenden zur westfälischen Geschichte gleichsam Anklang finden. Der eingängige und gut lesbare Stil des Autors sowie die unaufdringlichen und leicht verständlichen Erklärungen von Fachvokabular öffnen das Buch auch für interessierte Westfälinnen und Westfalen, die lediglich einen Eindruck von der bewegten Geschichte ihres Landes gewinnen mögen, obschon die Wechsel zwischen verschiedenen Akteur*innen, Orten und Jahren für themenfremde Leser*innen herausfordernd sein dürften. Auch gelegentlich vorkommende irritierende Passagen, die persönliche Eindrücke oder Assoziationen des Autors wiedergeben (wie etwa: „heute dicht bevölkert mit Windrädern“ S. 179; „Wie bei Michel aus Lönneberga“ S. 577) können den positiven Eindruck nicht trüben. Mit diesem Werk als Abschied von der Professur für westfälische Landesgeschichte hat Freitag einen Ankerpunkt in der sich stetig entwickelnden Forschungslandschaft gesetzt, der einen breiten Forschungsstand zur westfälischen Geschichte der Vormoderne abbildet.

Besonders hervorgehoben werden müssen die über achtzig zumeist farbigen Abbildungen. Neben eindrücklichen Bildern vermitteln die jede einzelne Abbildung begleitenden Bildnachweise und erklärenden Bildunterschriften ein vertiefendes Wissen und bereichern den Band ungemein, sodass die Abbildungen nicht nur zu reiner Illustration des Fließtextes beitragen, sondern einen eigenen Beitrag zur analytischen Tiefe liefern. Zudem ist der Band gut lektoriert und durch ein Ortsregister und ein ausführliches Inhaltsverzeichnis auch leicht erschließbar. Es liegt also eine tiefreichende Gesamtschau vor, die durch ihre verschiedenen Facetten selbst an das vielfältige Westfalen der Vormoderne erinnert, sowohl als Einführung, Vertiefung und Handbuch zur westfälischen Geschichte bezeichnet werden kann und sicherlich unter Studierenden, Forscherinnen und Forschern sowie Interessierten (egal ob sie aus Westfalen stammen oder nicht) eine begeisterte Leserschaft finden wird.

 

Freitag, Werner: Westfalen. Geschichte eines Landes, seiner Städte und Regionen in Mittelalter und Früher Neuzeit, Aschendorff 2023. 667 Seiten, ISBN: 978-3-402-24952-9

 

Zitierweise:
Schulte, David: Rezension zu “Westfalen. Geschichte eines Landes, seiner Städte und Regionen in Mittelalter und Früher Neuzeit”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 13.05.2024, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2024/05/rezension-freitag-westfalen-schulte

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Über David Schulte

Studium der Geschichte und Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft (B.A.) in Bonn und Wien und des Masterstudiengangs Geschichte, Fachrichtung Allgemeine Geschichte in Bonn (M.A.). Er promoviert zur landständischen Geschichte des Kurfürstentums Köln und arbeitet zugleich an der Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte.

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