Der vermeintliche „Märtyrer“ Werner von Oberwesel Kult und Erinnerungskultur am Mittelrhein

Wernerkapelle in Bacharach, Foto: Annika Zöll

„Die Geschichte der Kultentstehung um den sogenannten „guten Werner“ […] ist geradezu das Paradeexempel dafür, wie im 13. Jahrhundert am Mittelrhein ein Heiliger ganz gezielt kreiert werden konnte – ein Heiliger zumal, der […] keinerlei besonderen persönliche Verdienste aufzuweisen hatte, sondern […] lediglich Gegenstand einer durchaus unheiligen, aber sehr erfolgreichen Inszenierung durch interessierte Zeitgenossen wurde.“[1]
– meinen wie Matthias Schmandt auch Annika Zöll und Hannah Judith. Im Folgenden zeichnen sie die mittelrheinische Heiligenlegende im Spannungsfeld von Kult, Politik, Rheinromantik und Erinnerungskultur nach.

1. Die Genese der Werner-Legende im 13. Jahrhundert und ihre Textgeschichte

Die Legende um den Heiligen Werner von Oberwesel ist eine klassische antijudaistische Ritualmordlegende des Mittelalters. Schon ihre älteste belegte Form aus den Gesta Trevorum zu den Jahren 1260–1299[2] enthält alles, was diese Gattung ausmacht: Ein armer christlicher Junge heuert bei einer jüdischen Familie als Hilfsarbeiter an. Eines Tages nutzen die jüdischen Dienstgeber eine günstige Gelegenheit und ermorden den Jungen. Sie lassen den zerfleischten Leib ausbluten und verscharren ihn in einem abgelegenen Gebüsch. Zur Zeugin des grausamen Vorfalls wird die christliche Magd der Familie. Der Vorfall löst anschließend Pogrome der Bevölkerung gegen die jüdischen Bürger aus. Die Leiche sei schließlich in den Nachbarort Bacharach überführt worden, wo zur Ehre des nun als Märtyrer bezeichneten Jungen eine Wallfahrtskapelle errichtet wurde.

Spätere Ausschmückungen in den lokalen Verehrungstraditionen, etwa die mittelhochdeutsche, poetische Legende,[3] fügen weitere klassische Elemente der Gattung „Ritualmordlegende“ hinzu. Vor diesem Hintergrund lässt sich gattungsgeschichtlich eine klare Linie zur ältesten bekannten Ritualmordlegende ziehen: Die Erzählung um William von Norwich aus dem Jahr 1144.[4] Ausgehend von dieser Erzählung verbreiteten sich im 12. Jahrhundert über Großbritannien auf dem gesamten europäischen Kontinent zahlreiche Ritualmordlegenden und daraus erwachsende Heiligenverehrungen. Immer verlaufen sie inhaltlich nach dem gleichen, hier dargestellten Schema und werden durch herrschende Gruppierungen und kirchliche Machthaber „theologisch“ unterfüttert. Datiert wurden die Geschehnisse meist prominent auf den Karfreitag. Nach dieser Hermeneutik geschieht am christlichen Opfer das, was dem Gottessohn selbst durch seine „jüdischen Schächer“ am Karfreitag wiederfuhr.

So weit scheint alles eindeutig: Auch am Mittelrhein gab es antijudaistische Ansichten die in einer prominenten Figur ihren Ausdruck fanden: dem Heiligen Werner von Bacharach und Oberwesel. Vor diesem Hintergrund waren auch die Juden am Mittelrhein Opfer von antijüdischen Pogromen.

2. Weltliche und kirchliche Inszenierung, oder: Vom Bacharacher Pfarrer und seinem Pfalzgrafen

Anonym, Der Heilige Werner von Oberwesel, 1711, Öl auf Leinwand, 113 x 71,5 cm, Quelle: Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 1999/250/0, Foto: Jens Ziehe

Doch wem war es ein Anliegen, auch am Mittelrhein eine solche Erzählung in Form einer Ritualmordlegende zu verorten und zu propagieren? Welche Akteure und Motive lassen sich historisch fassen? Wer hatte Interesse an der Verehrung des angeblichen Judenopfers als Märtyrer? Und warum wurde die Leiche des heiligen Werner in den Nachbarort des Geschehens, Bacharach, verbracht und die Verehrung damit dort installiert? Wer dieser Spur nach Bacharach folgt, gelangt an den Ort der Verehrung unweit des Pfarrhofes des Bacharacher Ortspfarrers. Daraus ergibt sich die wahrscheinlichste erste These:

„[…] die Heiligenvita aus Norwich [wurde] tatsächlich als Regieanweisung am Rhein genutzt[… D]ie Spur führt eindeutig zum Ortspfarrer von Bacharach. Dafür sprechen zunächst ganz praktische Gründe. Von grundlegender Bedeutung für die schnelle Verbreitung von Werners Heiligenruf war sicher die Entscheidung, den Leichnam in der exponiert gelegenen Kunibertskapelle zu Füßen der Burg Stahleck zu bestatten. […] Doch der Zugriff auf diese bald nach dem „heiligen“ Werner benannte und spätestens ab 1289 in gotischen Formen neu errichteten Kapelle, die ja in unmittelbarer räumlicher Nähe von Pfarrkirche und Pfarrhof lag, stand von Anfang an niemand anderem zu als dem Pfarrherrn von Bacharach: Sie befand sich „in propria dote Pastoriae Bacheracensis Ecclesie […]“.[5]

Pfarrer von Bacharach und dieser These folgend damit Initiator der Heiligenlegende und -verehrung, war Heinrich von Crumbach. Sowohl mit Blick auf seine Herkunft, als auch in Bezug auf sein Pfarrgebiet könnte man ihn als „Mann zwischen den Lokalfronten seiner Zeit“ bezeichnen. Er befand sich räumlich und personell mitten im Gebietskonflikt zwischen Kurmainz und Kurpfalz – und schlug sich auf die Seite des pfälzischen Kurfürsten Ludwig II. (1229–1294).[6] Ludwig II. war bestrebt, seine Vormachtstellung am Mittelrhein über seine Präsenz als Stifter zu stärken. So errichtete er auch an der legendarischen Fundstelle der Leiche bei Oberwesel das Wilhelmitenkloster Fürstenthal. Zu dieser Stiftung fügt sich sein Interesse an der Finanzierung und dem Ausbau des Wallfahrtsortes Bacharach. Damit schaffte es sein Vertrauter, Heinrich von Crumbach, die Heiligenlegende an seine Pfarrei zu binden und verhalf Ludwig II. dafür zum Ruf eines idealen Fürsten, der aus christlichem Movens heraus religiöse Bußstiftungen übernahm.[7]

Dieses paradigmatische Zusammenspiel von weltlicher und geistlicher Macht wiederholte sich schließlich auch bei der Wiederaufnahme des Kanonisationsverfahrens Werners von Oberwesel 1426. Inzwischen waren alle Bautätigkeiten am gotischen Großprojekt der Wernerkapelle mit einer Beschlagnahmung der Baukasse durch den Trierer Erzbischof 1338 zum Erliegen gekommen. Und wieder waren es der pfälzische Kurfürst (jetzt Ludwig III.) und „sein Pfarrer“, die durch die Sammlung von auf Werner zurückgeführten Wundern das Verfahren erneut in Gang brachten und den Pilgerbetrieb zu neuen Spitzenwerten ankurbelten. In diese Zeit der Legendenfestigung fiel auch die oben erwähnte mittelhochdeutsche, poetische Legendenfassung. Ludwig III. erhielt zur Kanonisation jedoch nicht nur Unterstützung durch Bacharacher Ortskleriker, sondern schaffte es, Kardinal Giordano di Orsini zum Auftakt der Prozessaufnahme zur Ausrufung eines Ablasses von 180 Tagen zu bewegen. Wohl auch auf Grund dieser öffentlichkeitswirksamen Unterstützung wurde die Legende des Heiligen Werner im Kanonisationsverfahren von Rom nicht weiter kritisch hinterfragt. Dennoch schlief das Verfahren im Laufe des 15. Jahrhunderts ein.

3. Ein Lokal-„Heiliger“ und seine Lokalitäten. Ein Blick auf mittelrheinische Orte des Werner-Kults

a) Wernerkult in Womrath und Oberwesel
Es bleibt ein Lokal-„Heiliger“, der sich bis ins 20. Jahrhundert großer Beliebtheit in der lokalen Verehrungstradition erfreute und im Verlauf seiner Verehrungsgeschichte Spuren an zahlreichen Memorial- und Kultorten hinterlassen hat. Auf die Präsenzorte der Verehrung Werners soll im Folgenden ein genauerer Blick geworfen werden. Anhand der dieser lässt sich so eine „Memorialgeschichte“ nachzeichnen und die Notwendigkeit einer heutigen Erinnerungskultur hinterfragen.

In Womrath, das als Geburtsort Werners von Oberwesel gilt,[8] ist bereits seit 1493 eine Wernerkapelle bezeugt. Das heutige Gebäude der katholischen Sankt-Werner-Kapelle stammt allerdings von 1911/12 und enthält ein Ölgemälde aus dem 18. Jahrhundert, welches den Patron Werner als Märtyrer darstellt.[9] Ein vergoldeter Silberkelch von 1751 befindet sich heute in der Pfarrkirche Vierzehn Nothelfer in Dickenschied, stammt aber vermutlich ebenfalls aus Womrath. Er zeigt auf der verzierten Cuppa neben anderen Motiven die Marterung Werners von Oberwesel.[10] Seit 1759 ist für den Festtag Werners, den 19. April, durch das Directorium Ecclesiasticum des Nachbarortes Dickenschied ein Festgottesdienst und eine Sakramentenprozession von Dickenschied nach Womrath belegt, die bis zur Eroberung der Gegend durch Frankreich im frühen 19. Jahrhundert für jedes Jahr belegt ist. Nach 87 Jahren Vakanz der Pfarrstelle Womrath/Dickenschied versuchte der neue katholische Pfarrer 1905, die Tradition der Wernerprozession wieder aufleben zu lassen, wurde jedoch polizeilich bestraft, da die „Prozession nicht mehr herkömmlich sei“[11]. Auch alle weiteren Anträge zur Genehmigung der Prozession wurden abgelehnt.[12] Neben der Wernerkapelle wurde noch 1912 ein Haus in Womrath als dem Geburtshaus Werners verehrt.[13]

Glasfenster in der Wallfahrtskirche St. Nikolaus in Koblenz-Arenberg, Quelle: Joachim Schäfer, Ökumenisches Heiligenlexikon (gemeinfrei)

Ein weiterer Ort des Wernernkults neben Womrath ist das ehemalige Kloster Fürstenthal, heute zwischen Rheindiebach und Bacharach nicht mehr zu lokalisieren.[14] Gestiftet wurde es 1287 ebenfalls durch den bereits benannten Wernerverehrer Pfalzgrafen und Kurfürsten Ludwig II.. Das allein machte das Wilhelmitenkloster Fürstenthal noch nicht zum Ort des Wernerkults, jedoch führte 1428 der Prior des Klosters die Gründung eben auf Werner von Oberwesel und sein angebliches Martyrium zurück. Überliefert ist diese Gründungslegende in den Unterlagen des Kanonisationsprozesses, im Rahmen dessen der Prior des Klosters berichtet, sein Kloster sei an der Stelle gegründet, an der „die Mörder die Leiche des Knaben verbargen“.[15] Weiter berichtete der Prior, das Kloster habe man Domus S. Werneri genannt, sodass spätestens an dieser Stelle ein Kult um Werner im Kloster Fürstenthal postuliert werden konnte.[16]

Der hauptsächliche Schauplatz der Wernerlegende ist die Stadt Oberwesel. Für den dortigen Wernerkult lässt sich zunächst der Festkalender der Pfarrkirche Sankt Martin anführen, der den Gedenktag des Werner als Festtag kennt. Das Fest wird zwar im Antiphonale nicht aufgeführt, wurde jedoch vermutlich trotzdem als Hochfest gefeiert, da das Graduale neben Introitus und Halleluja auch ein spezielles Offertorium und einen speziellen Kommunionvers festschrieb.[17]

Auch Oberwesel hat eine Wernerkapelle. Bis 1968 war darin ein Relief von 1727 mit dem Martyrium Werners von Oberwesel als jüdischen Ritualmord zu sehen.[18] Spätestens 1989 wurde dieses Relief entfernt.[19] Neben der für eine Kultinstallation sehr gut gewählten Lage der Kapelle war bis mindestens 1587 die hölzerne statua, die Säule, an der Werner bei seinem Martyrium angebunden gewesen sein soll, ausgestellt. Diese Säule musste zum Schutz vor Pilgerinnen und Pilgern, die Späne davon abschlugen und mitnahmen, in eine Lade eingefasst werden. Die Berichte des Oberweseler Dechanten zeugen hier von einem sehr lebendigen Kult um Werner.[20]

Ebenso hat Oberwesel ein in der Mitte des 13. Jahrhunderts gegründetes städtisches Krankenhaus, welches bis zum 1. Oktober 1996 Wernerkrankenhaus hieß.[21] Dieses soll an der Stelle erbaut worden sein, an der Werner sein angebliches Martyrium erlitten habe. Trotz des Zusammenschlusses mit dem städtischen Krankenhaus in St. Goar im Jahr 1979 und umfassender Renovierungsarbeiten zwischen 1987 und 1992 blieb der Name bestehen. Mit dem 1. Oktober 1996 wurden dann beide Krankenhäuser in Loreley-Kliniken umbenannt. Es blieb jedoch das Patrozinium der Hospitalkapelle in Oberwesel, welche als „Wernerkapelle“ auch nach der Grundsanierung 2003 bis 2004 weiterhin von einem stark verwurzelten Wernerkult kündet.[22] Erst mit der Seligsprechung der Gründerin der Waldbreitbacher Franziskanerinnen 2008 wurde die Wernerkapelle des Krankenhauses in Mutter-Rosa-Kapelle umbenannt und wechselte ihr Patrozinium.[23]

Postkarte von Bacharach mit der Wernerkapelle (rechts), vor 1907, Quelle: Joachim Schäfer, Ökumenisches Heiligenlexikon (gemeinfrei)

b) Bacharach und der lange Weg zur „Wernerkapelle“
Die heute wohl bekannteste ehemalige Kultstätte des Werner von Oberwesel ist die Ruine der Wernerkapelle in Bacharach. Werners Leichnam soll 1287 zunächst in der Kunibertkapelle als Märtyrer beigesetzt worden sein.[24] Über seinem Grabmal wurden drei Wandtafeln befestigt, die eine Version der Wernerlegende und 90 Werner-Wunder erzählen. Der Wernerkult wuchs in den Jahren 1287 bis 1289 stark, sodass die Kunibertkapelle durch Massen von Werner-Wallfahrerinnen und -Wallfahrern bereits in der Wahrnehmung der Menschen zur Wernerkapelle wurde. 1289 begannen schließlich die Bauarbeiten für eine größere Kapelle. Trotz einer am 13. April 1289 in Rom ausgefertigten Ablassurkunde zur Unterstützung der „neuen“ Kunibert-/Wernerkapelle gingen die Bauarbeiten schleppend voran. Werner oder eine Wallfahrt zu seinen Ehren als Bedingung des Ablasses wurden in dieser Urkunde nicht erwähnt. Auch bei der Altarweihe 1293 durch einen Kölner Weihbischof, der den Altar in der neuen Kapelle dem Heiligen Kunibert und dem Heiligen Andreas weihte und erst in seinem am 23. August 1293 gewährten Ablass das Grab Werners in der Kunibertskapelle erwähnte. Damit ist festzuhalten, dass es sich bei der Wernerkapelle nicht um einen dem Werner geweihten Neubau handelt, sondern der Leichnam des Knaben Werner in der bereits bestehenden Kunibertkapelle als Märtyrer beigesetzt wurde.

Erst 1426 ließ Pfarrer Winand von Steeg die Wernerkapelle in Stand setzen und das Grab Werners in der Südkonche anheben. Am 5. August 1426 wurde der Sarkophag Werners unter der Aufsicht des Kardinallegaten Giordano di Orsini geöffnet und der Leichnam umgebettet. Die rechte Hand wurde entfernt und in einem goldenen Schaugefäß über dem Sarkophag ausgestellt.[25] Vermutlich im Jahr 1428 war die Wernerkapelle vollendet. Der eigentlich dem Werner zugedachte Hochaltar wurde, da die Bemühungen um die Heiligsprechung offensichtlich erfolglos blieben, bereits 1432 der Dreifaltigkeit geweiht. Dies ändert jedoch nichts daran, dass bis zur Reformation die Kapelle als Grabstätte Werners verehrt wurde und somit am Mittelrhein eine „Wernerkapelle“ war. 1545 erreichte die Reformation Bacharach und beendet vorläufig den Wernerkult, bis spanische Truppen 1620 – im frühen Dreißigjährigen Krieg am Mittelrhein militärisch aktiv – in einem kurzen katholischen Intermezzo den Sarkophag Werners öffneten und seine Gebeine nach Spanien brachten. Bei der Sprengung der der Kapelle benachbarten Burg Stahleck durch französische Truppen 1689 wurde auch die Wernerkapelle durch Trümmer schwer beschädigt. Erst 1705 wurde sie im Rahmen der Neuverteilung des Kirchenvermögens erneut den Katholiken zugesprochen. Zwischen 1725 und 1787 wurde die Wernerkapelle durch verschiedene Sicherungsmaßnahmen in den Ruinenzustand versetzt.[26] Weitere Sicherungsmaßnahmen wurden im 19. und 20. Jahrhundert durch die beginnende Denkmalpflege unternommen, welche die Ruine in ihrem Zustand von 1787 bis heute erhalten hat.[27]

Mit der Rheinromantik gelangte die gotische Ruine der Wernerkapelle schließlich zu großer Berühmtheit als beliebtes Motiv romantischer Landschaftsmalerei oder als Reiseziel englischer Touristen. Diese romantisierte Relevanz besteht bis heute völlig losgelöst von ihrer problematischen religiösen Geschichte.

Kupferstich aus “Views of the Rhine” von William Tombleson, um 1840: Village of Bacharach and ruin of the Werner Chapel, Quelle: Wikipedia (gemeinfrei)

c) Aktuelle Erinnerungskultur – Eine Problemanzeige
Blickt man abschließend auf die Ebene des Bistums Trier muss festgehalten werden, dass Werner von Oberwesel 1761 in den eigenen Heiligenkalender der Diözese aufgenommen wurde und sich schon zuvor eigene Festtexte im Trierer Brevier fanden. Hierin zeigt sich eine überlokale, kirchlich geduldete und geförderte Verehrung. Eine kurze Lebensbeschreibung Werners erschien 1758 in Koblenz und enthält deutlich antijüdische Passagen. 1881 erschien ein Andachtsbüchlein mit Liedern für die Pfarrei Oberwesel, in der u.a. „der Juden grausame Wut“ auf Werner beschrieben wurde.[28] Erst im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde 1963 Werner aus dem Trierer Fest- und Heiligenkalender getilgt.[29]

Modernen Memorialstrategien dieser rheinisch-katholischen Heiligenfrömmigkeit zu Werner von Oberwechsel gibt es kaum. Dennoch wird auch heute vom Wernerkult und seiner Kapelle in Bacharach ein festes Bild tradiert, dessen Problemhaftigkeit eine Darstellung verdient.

Auf der offiziellen Stadt-Homepage von Bacharach werden folgende Informationen geboten: „Zart und filigran wirkt die Ruine der hochgotischen Kirche, die oberhalb der Stadt in den Weinbergen steht. Mit dem Bau wurde kurz nach 1287 begonnen. Anlass dazu gab die Ermordung des Knaben Werner. Der Tod wurde ohne jeden Beweis der Judengemeinde von Oberwesel angelastet. Bei den folgenden Unruhen starben damals vierzig Menschen. Gleichzeitig setzten Wallfahrten zum Grabe des dort beigesetzten Werner ein. Die Kapelle ist ein bekanntes Symbol der Rheinromantik.“[30] Selbstverständlich muss auf einer solchen Homepage eine kurze und leicht verständliche Beschreibung und Vorstellung der Sehenswürdigkeit erfolgen. Auffällig ist jedoch, dass die Kapelle als Wernerkapelle vorgestellt wird, diese Bezeichnung aber nicht problematisiert und historisch eingeholt wird. Der einzige Hinweis auf die schwierige Rezeptionsgeschichte des angeblichen Ritualmordes gibt der Satz, die Judengemeinde in Oberwesel sei „ohne jeden Beweis“[31] für den Mord verantwortlich gemacht worden. Statt einer kurzen Wiedergabe der dramatischen Rezeptionsgeschichte mit Verweisen auf Ritualmordlegenden und christlichen Antijudaismus verweist der Text der Homepage lediglich auf einen Pogrom mit vierzig Toten, ohne dass klar wird, wer diesem Pogrom zum Opfer fällt. Es fehlt jede klare Stellungnahme zum historischen Wernerkult und jeder Hinweis auf einen Ort der Erinnerung an ein schwieriges Verhältnis zwischen Christen und Juden.

Positiv mit Blick auf Bacharach ist jedoch festzuhalten, dass am Ort der Wernerkapelle ein Gedenkstein aus dem Jahre 1996, dem Jahr des Abschlusses der letzten großen Restaurierungsmaßnahmen auf die Nutzung als Memorialort hinweist.[32] Auf dem Gedenkstein steht ein Gebet Papst Johannes XXIII., in dem der Papst sich gegenüber den Juden stellvertretend schuldig bekennt und vor Gott um Verzeihung bittet. Eine Infotafel stellt auch die Installation „DAS FENSTER – Wernerkapelle Bacharach“ von Karl-Martin Hartmann vor, welche von 2007 bis 2009 in der Wernerkapelle zu sehen war.[33] Die Ausrichtenden setzten es sich zum Ziel, „zu wahrhaftigem Erinnern“[34] aufzurufen und können so als Vorbilder einer modernen Memorialkultur angeführt werden.

 

Mutter-Rosa-Kapelle (ehem. “Wernerkapelle”) in Oberwesel, Foto: Willy Horsch, Wikipedia (Ausschnitt)

In der Internetpräsenz der Stadt Oberwesel findet sich das Stichwort „Mutter-Rosa-Kapelle (Wernerkapelle)“. Hier bietet die Homepage einen kurzen historischen Abriss zur Geschichte dieser ehemaligen Hospitalkirche. Das Hospital wird nicht als Wernerhospital vorgestellt, nur der erste und letzte Name der Klinik finden Erwähnung. Erklärende Sätze zum eingeklammerten Namen Wernerkapelle finden sich am Schluss der Ausführungen: „Seit wann die Kapelle, die einst wie das Hospital das Patrozinium vom Hl. Geist getragen hat, Wernerkapelle genannt wird, ist nicht geklärt. Werner wurde von der Kirche nie heilig gesprochen. Der Name Wernerkapelle ruft die Erinnerung wach an eine schwere Verfolgung der Juden im Jahre 1287, ein dunkles Kapitel in der Stadtgeschichte.“[35] Positiv hervorzuheben ist hier, dass die Verbindung zwischen Werner und der nach ihm benannten Kapelle und der Verfolgung der Juden aus Oberwesel deutlich benannt wird. Jedoch fehlt auch hier jeglicher Hinweis auf die Ritualmordlegende, die dramatische Rezeptionsgeschichte und die sehr späte Umbenennung der Kapelle in Mutter-Rosa-Kapelle.[36] Auch auf der Homepage der Loreley-Kliniken findet sich kein Hinweis auf die Zeit, in der das Krankenhaus in Oberwesel unter dem Namen St.-Werner-Krankenhaus firmierte.[37] Zumindest hier wäre ein Hinweis auf den schwierigen Namenspatron und seine Geschichte zu erwarten, stattdessen finden sich verschiedene Möglichkeiten, die Nennung des früheren Namens zu umgehen: „Am 1. Oktober 1996 erfolgt eine Umbenennung: Die beiden Krankenhäuser in St. Goar und Oberwesel firmieren nicht mehr unter ihren bisherigen Bezeichnungen, sondern unter dem gemeinsamen Namen „Loreley-Kliniken“.[38] In der umbenannten Mutter-Rosa-Kapelle selbst, in der seit 2012 auch kein Altarbild Werners mehr steht, gibt es weder eine Informationstafel, noch Informationsbroschüren, noch eine sichtbare Memorialtradition.[39]

Positiv sei mit Blick auf Oberwesel das Stadtmuseum erwähnt, welches die Geschichte der Ritualmordlegende um Werner in seiner Dauerausstellung für ein breites Publikum gut aufbereitet präsentiert.

 

4. Fazit

Der kurze historische wie zeitgenössische Ausflug auf den Spuren der Ritualmordlegende des „heiligen“ Werner kann nicht nur die typischen Merkmale kirchlichen Antijudaismus‘ im Heiligenkult des Mittelalters nachzeichnen, sondern führt auch auf die erhellenden Spuren der Geschichtswissenschaft für das Heute: Ohne Hintergrundinformationen um die problematische Imprägnierung der abgeschrittenen Kultstätten in ihrer Geschichte fehlt das Wissen um ihren Appellationscharakter in die Gegenwart hinein. So sensibilisiert die Geschichte des Heiligen Werner vor der vermeintlich theologisch und spirituell aufgeladenen Instrumentalisierung exklusivistischer Frömmigkeitsformen und ihrer (hier antijudaistischen) Fallstricke. Zugleich zeigt der Blick in die Gegenwart, dass die Nutzung der Memorialorte zur zeitgemäßen Aufarbeitung zum Teil eines deutlichen Ausbaus und einer klaren Kommunikation der geschichtlichen Zusammenhänge bedarf. Damit sinkt weder der kunsthistorische Wert der Bauten, noch ihre Attraktivität für den Tourismus. Im Gegenteil: Sie werden eingeordnet in die Geschichte, die in ihnen und durch sie in zahlreichen Machtdiskursen geschrieben wurde, und nimmt sie selbst damit erst wirklich ernst.

 


[1] Schmandt, Matthias, Der gute Werner von Oberwesel – oder die hohe Kunst, einen Heiligen zu erschaffen, in: Portal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/der-gute-werner-von-oberwesel—oder-die-hohe-kunst-einen-heiligen-zu-erschaffen/DE-2086/lido/57d11ef12fbdb9.27463534 (abgerufen am 24.05.2018).

[2] Vgl. Zenz, Emil (Hrsg.), Die Taten der Trierer. Gesta Treverorum (Bd. IV: Von Heinrich II. von Finstingen bis zum Tode Boemunds I. 1260–1299), Trier 1960, S. 89.

[3] Vgl. Christ, Karl, Werner von Bacherach. Eine mittelrheinische Legende in Reimen, in: Otto Glaunig zum 60. Geburtstag. Festgabe aus Wissenschaft und Bibliothek, Bd. 2, Leipzig 1938, S. 1-28.

[4] Vgl. dazu Lotter, Friedrich, Innocens Virgo et Martyr. Thomas von Monmouth und die Verbreitung der Ritualmordlegende im Hochmittelalter, in: Erb, Rainer (Hrsg.), Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden (Dokumente, Texte, Materialien 6), Berlin 1993, S. 25-72.

[5] Schmandt, Der gute Werner von Oberwesel.

[6] Diese enge Verbindung spiegelt sich in den Quellen in der häufigen Anwesenheit Heinrich von Crumbachs am kurpfälzischen Hof zu Heidelberg wider.

[7] Vgl. ebd.

[8] Der Geburtsort wird in den Quellen sowohl mit Warmsroth bei Stromberg als auch mit Womrath bei Kirchberg identifiziert. Mit Werner Kandels wird in diesen Ausführungen Womrath bei Kirchberg als traditioneller Geburtsort des Werner von Oberwesel bezeichnet. Vgl. dazu: Kandels, Werner, Der hl. Werner. Trierischer Diözesanheiliger, der letzte deutsche Märtyrer, in: Pastor Bonus 24 (1912), S. 394-395.

[9] Mentgen, Gerd, Die Ritualmordaffäre um den Guten Werner von Oberwesel und ihre Folgen, in: Jahrbuch für Westdeutsche Landesgeschichte 21 (1995), S. 183.

[10] Vgl. Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 1: Ehemaliger Kreis Simmern, bearb. von Magnus Baeckes u.a., S. 229.

[11] Kandels, Der hl. Werner. Trierischer Diözesanheiliger, S. 394.

[12] Vgl. ebd., S. 394-395.

[13] Vgl. ebd.

[14] Vgl. Mentgen, Die Ritualmordaffäre um den Guten Werner von Oberwesel und ihre Folgen, S. 183.

[15] Elm, Kaspar, Beiträge zur Geschichte des Wilhelmitenordens (Münstersche Forschungen 14), Köln/Graz 1962, S. 75.

[16] Vgl. ebd., S. 75-76.

[17] Pauly, Ferdinand, Das Bistum Trier 2: Die Stifte St. Severus in Boppard, St. Goar in St. Goar, Liebfrauen in Oberwesel, St. Martin in Oberwesel (Germania Sacra 14,2), Göttingen 1980, S. 464.

[18] Vgl. Rohrbacher, Stefan/Schmidt, Michael, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Hamburg 1991, S. 308-309.

[19] Dies beschreibt Werner Bornheim in seinem kurzen Abschnitt zur Wernerkapelle in seinem kleinen Heft zu den Kunststätten Oberwesels. Er formuliert wie folgt: „Moderne Bilderstürmerei ließ das Relief in jüngster Zeit verschwinden.“ (Bornheim, Werner, Oberwesel (Rheinische Kunststätten 81), Neuss 1989, S. 17.) Man beachte, dass der Kult um Werner von Oberwesel bis 1989 lebendig zu sein scheint, vielleicht besonders als Namensvetter und er diese seine Zuneigung zu Werner und seiner Verehrung scheinbar unkommentiert in seiner Veröffentlichung äußern kann. Vgl. hierzu: ebd., S. 16-17.

[20] Vgl. Mentgen, Die Ritualmordaffäre um den Guten Werner von Oberwesel und ihre Folgen, S. 184-185. Die Lade war zudem mit einem Bild des Werner bemalt und trug die Aufschrift „Anno Domini 1287 hat Wernerus Wammenraidt den Dodt gelitten den 13. Calendas Maij hierin ist die Säul St. Werners“. Der Verbleib der Altartafel, die ebenfalls das Martyrium des Werner darstellte kann nicht nachvollzogen werden. Vgl. dazu: Kandels, Der hl. Werner. Trierischer Diözesanheiliger, der letzte deutsche Märtyrer, S. 398.

[21] Vgl. https://www.oberwesel.de/stadt/historie (deaktiviert am 27.07.2022 – Aktualisierung durch die Redaktion).

[22] Vgl. https://www.loreley-kliniken.de/unsere-einrichtungen/unsere-geschichte (deaktiviert am 18.11.2020 – Aktualisierung durch die Redaktion)
Hinweis der Redaktion: Mit der Einstellung des Klinikbetriebes zum 30.09.2020 wurde die Webpräsenz beendet.

[23] Vgl. ebd (siehe Hinweis Anmerkung 22)

[24] Selbstverständlich ist die Diktion hier irreführend. Keinesfalls soll hier ausgesagt werden, dass tatsächlich jener von den Legenden beschriebener Knabe Werner hier bestattet worden sei. Der Einfachheit halber wird jedoch im Folgenden von Werner bzw. Werners Grabstätte gesprochen. So kann zudem die Wirkung und die Intensität des Wernerkults besser dargestellt werden.

[25] Vgl. Wagner/Wolff, Die Wernerkapelle in Bacharach am Rhein (Rheinische Kunststätten 276), Neuss 1983, S. 6-23.

[26] Die vom Bergrutsch bedrohte Nordkonche mit reichem gotischen Figurenportal wurde abgebrochen, Dach und Gewölbe wurden ebenfalls beseitigt. Vgl. hierzu: ebd., S. 17.

[27] Vgl. ebd., S. 6-23.

[28] Mentgen, Die Ritualmordaffäre um den Guten Werner von Oberwesel und ihre Folgen, S. 195.

[29] Vgl. Iserloh, Erwin, Werner von Oberwesel. Zur Tilgung seines Festes aus dem Trierer Kalender, in: Pastor Bonus 72, Trier 1963, S. 270-285.

[30] https://www.bacharach.de/a-wernerkapelle (abgerufen am 05.07.2020 – Aktualisierung durch die Redaktion).
Der oben zitierte Text wurde im Zuge der Aktualsierung durch die Redaktion an die aktuelle Version der Stadt Bacharach angeglichen. Ursprünglich war hier folgende Textversion von den Seiten der Stadt Bacherach zitiert: Zart und filigran wirkt die Ruine der hochgotischen Kirche, die oberhalb der Stadt in den Weinbergen steht. Mit dem Bau wurde kurz nach 1287 begonnen. Anlass dazu gab die Ermordung eines Knaben Werner. Der Tod wurde ohne jeden Beweis der Judengemeinde von Oberwesel angelastet. Bei Unruhen starben damals vierzig Menschen. Aufgrund dieses Pogroms wurde eine diesem Werner geweihte Kapelle errichtet. Gleichzeitig setzten damals Wallfahrten zum Grabe des beigesetzten Werner ein. Die Kapelle ist ein Symbol der Rheinromantik.“

[31] Vgl. ebd.

[32] Vgl. Schwitzgebel, Frieder, Toleranz vor Augen. Die Installation von Karl-Martin Hartmann in der Wernerkapelle von Bacharach, in: Das Münster 62 (2009), S. 17-20.

[33] Vgl. ebd.

[34] Ebd., S. 17.

[35] https://oberwesel.de/feratel/?id=1911e309-08fa-40a2-a6cf-cf17875d8d07&t=poi (abgerufen am 27.07.2022 – Aktualisierung durch die Redaktion).

[36] Vgl. https://www.loreley-kliniken.de/startseite/einzelmeldungen/?tx_ttnews[tt_news]=2404&cHash=58c6b1ab2ceedf7a89a0aa7ca042b3da (abgerufen am 17.05.2019).

[37] Vgl. https://www.loreley-kliniken.de/unsere-einrichtungen/unsere-geschichte/ (deaktiviert am 27.07.2022 – Aktualisierung durch die Redaktion).

[38] https://www.loreley-kliniken.de/unsere-einrichtungen/unsere-geschichte/ (deaktiviert am 27.07.2022 – Aktualisierung durch die Redaktion).

[39] Vgl. https://www.loreley-kliniken.de/startseite/einzelmeldungen/?tx_ttnews[tt_news]=2404&cHash=58c6b1ab2ceedf7a89a0aa7ca042b3da (abgerufen am 17.05.2019).

 

Zitierweise:
Hannah Judith/Annika Zöll: Der vermeintliche „Märtyrer“ Werner von Oberwesel. Kult und Erinnerungskultur am Mittelrhein, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 01.07.2019, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2019/07/werner-von-oberwesel/

Druckversion
Hannah Judith & Annika Zöll

5 Kommentare zu “Der vermeintliche „Märtyrer“ Werner von Oberwesel Kult und Erinnerungskultur am Mittelrhein

  1. Pingback: Kultur-News KW 27-2019 News von Museen, Ausstellungen, Geschichte

  2. Dr. Walter Karbach

    Wie die Autorinnen teile ich den Inszenierungsansatz von Schmandt. Ärgerlich sind aber die vielen sachlichen Unschärfen und Fehler: Die mittelhochdeutsche Verslegende stammt nicht aus der Zeit Ludwigs III. (und Winand von Steegs), sondern aus der Zeit Ludwigs II. (und Heinrich von Crumbachs). Der Bacharacher Pfarrhof gehörte bis zur Reformation nicht zu Trier oder zur Pfalz, sondern bis 1558 dem Kölner Andreasstift. Orsini (nicht di Orsini) war nicht nur Kardinal, sondern bedeutender Legat des Papstes Martin V., die Herren kannten sich vom Konstanzer Konzil (1414-18), wo man unter Ludwigs II. Regie Jan Hus verbrannt hatte. Ob das Kanonisationsverfahren in Rom einschlief (wie behauptet) oder (wahrscheinlicher) beendet wurde, steht nicht fest. Die Reste des Klosters Fürstental sind durchaus noch am Winzbach bei Bacharach zu lokalisieren. Das Ritualmordrelief an der Oberweseler Wernerkapelle wurde nicht 1989, sondern (spät genug) am 17. April 1970 entfernt (Bericht in der Rhein-Zeitung vom 18./19.04.1970). Die angebliche Martersäule dort ist noch 1858 im Rheinischen Antiquarius bezeugt, ein Stück davon befindet sich noch heute in Oberwesel. Das Oberweseler St. Wernerkrankenhaus wurde 1933 eingeweiht, es ist nicht identisch mit dem wesentlich älteren Hl. Geist-Hospital. Anno 1620 gab es für spanische Truppen in Bacharach keinen Sarkophag mehr zu öffnen; Werners Gebeine wurden am 8. März 1621 von den Jesuiten Medardus und Sailly (nach dessen Protokoll) in einer (heute noch vorhandenen) Wandnische gefunden und ins Hauptquartier General Spinolas nach Kreuznach gebracht; ihre Spur verliert sich in einem Kloster in Lille (nicht in Spanien). Erst 1556 (nicht schon 1545) wurde der Wernerkult in Bacharach von Kurfürst Ottheinrich von Pfalz-Neuburg unterbunden. Es fehlt jeder Hinweis auf die Wernerverehrung in Flandern (das Versgedicht Van sente Waerneer, um 1290) und in der Region zwischen Besançon (S. Vernier) und Clermont-Ferrand (S. Verny) seit der Reliquientranslation durch Kanonikus Chuppin (1548 bis heute). Ebenso fehlt jeder Hinweis auf die Instrumentalisierung des Wernerkults durch die Nazis: Das Oberweseler Ritualmordrelief war u. a. mehrfach im Stürmer abgebildet (z. B. in den Ritualmord-Sondernummern Mai 1934 und Mai 1939). Offenbar sind die Forschungen von André Vauchez (dt. 1993), Thomas Wetzstein (1999; 2009), Winfried Frey (2003) und Volker Turnau (2013) den Autorinnen völlig unbekannt. Auch scheinen sie sich nicht in der Trierer Stadtbibliothek Winands Handschrift des Prozessberichts (1429) und auch nicht die Urkunde des Oberweseler Dechanten Sebelin (1578) angesehen zu haben, obwohl sie, was diesen angeht, den Eindruck erwecken. Vorschnell scheinen sie sich auf die Früchte schneller Online-Recherche verlassen zu haben, einschließlich fragwürdiger Pressemitteilungen der Oberweseler Loreley-Kliniken. Bei alledem fällt eine Kleinigkeit wie die fehlerhafte Schreibweise des Titels der Arbeit von Christ (Werner von Bacharach, nicht Bacherach) kaum ins Gewicht (und das Jahr der Veröffentlichung – 1938 – fällt ihnen nicht auf). Immerhin, das Fazit der Autorinnen kann ich im Kern teilen.

    1. Andreas Britz

      Liebe Bloggerinnen,

      im Kontext einer geplanten Arbeit zum christlichen Antijudaismus im Spätmittelalter befasse ich mich natürlich auch mit der Ritualmordlegende von Oberwesel bzw. Bacharach.
      Dankenswerterweise thematisieren Sie auch kurz das Ritualmordrelief, das wohl – nach dem Abbruch an der Außenwand der Oberweseler “Wernerkapelle” – einige Jahre im Innern der Kapelle aufbewahrt wurde.
      Vielleicht können Sie mir mitteilen, ob dieses Relief noch existiert und wo man es u.U. sehen und fotografisch dokumentieren kann. Gleiches gilt für den barocken Hochaltar, in dessen Mittelteil wohl ein Gemälde Werner als jugendlichen Märtyrer zeigte, das aus dem 19. Jh. stammte. Ist dieses Bild noch vorhanden bzw. wo kann man es sehen und fotografieren.
      Für eine kurze Information wäre ich Ihnen sehr dankbar!
      Herzliche Grüße und vor allem Gesundheit und Zuversicht in dieser nicht leichten Zeit der Corona-Pandemie!

      Andreas Britz, Bellheim

      1. Walter Karbach

        Lieber Andreas Britz,
        das Relief ist nie im Inneren der Oberweseler Wernerkapelle aufbewahrt worden. Es existiert bis heute. Ich habe eine Abbildung in meinen Beitrag darüber aufgenommen, der in Juli in der Zeitschrift “Aschkenaz” erscheinen wird. Der Werneraltar in der Kapelle von Womrath besteht ebenfalls noch, man muss nur im Dorf irgendwie an den Schlüssel kommen. Mein reich illustriertes Buch “Werner von Oberwesel – Ritualmordlüge und Märtyrerkult” ist für Herbst 2020 angekündigt.
        Walter Karbach

        1. Andreas Britz

          Sehr geehrter Herr Dr. Karbach,
          entschuldigen Sie, dass ich mich jetzt erst für Ihre Antwort auf meine Anfrage bedanke. Bin erst heute wieder auf die Seite gekommen.
          Danke für Ihre Informationen!
          Ich bin in Vorarbeiten für ein kleines Quellenheft zum Thema “Antisemitismus”, das in der Teihe “Geschichte unterrichten” im Wochenschau-Verlag herauskommen soll. Das Heft für interessierte Geschichts- und ReligionslehrerInnen umfast nur 25 Seiten. Im Rahmen des “Antijudaismus” überlege ich, als Beispiel für den Ritualmordvorwurf den “Fall” des Werner von Oberwesel aufzugreifen (max. 2-3 Seiten). Zur Illustration wäre die Steinmetzarbeit, die den Ritualmord drastisch zeigt, natürlich besonders geeignet. Vielleicht können Sie mir sagen, wo ich das Werk eventuell fotografieren kann.
          Meine Anfrage an die Pfarrverwaltung, wo sich das barocke Altarbild, das den “seligen Werner” abbildet, jetzt befindet, blieb leider unbeantwortet. Vielleicht können Sie mir auch da weiterhelfen.
          Sie sehen: Eine Berücksichtigung des angeblichen Riualmords von Oberwesel in dem o.a. Themenheft steht Ihren geplanten Beiträgen zum Thema in keiner Weise im Wege. Der Redaktionsschluss für mein Manuskript ist auch erst im Januar 2021.
          Bin gespannt auf Ihre Veröffentlichungen, da ich mich seit langem im jüdisch-christlichen Dialog engagiere. Sicher kennen Sie die 1844/45 erbaute Synagoge in Saffig. Ich war seit Gründung des Förderkreises Vorstandsmitglied und für die ÖA des Vereins verantwortlich (über 20 Jahre). Bin in Saffig geboren und aufgewachsen und lebe seit 1989 in der Südpfalz.
          Gott sei Dank ist es uns damals gelungen, das wunderschöne Bethaus (jetzt Zentrum der Jüdischen gemeinde Neuwioed-Mittelrhein) zu restaurieren.
          Ihnen alles Gute bei Ihrer historischen Spurensuche!
          Herzliche Grüße
          Andreas Britz

Beitrag kommentieren

Ihre E-Mail wird nicht öffentlich sichtbar sein. Erforderliche Felder sind markiert mit einem *

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.