In Anbetracht der aktuellen politischen Diskussionen wies die diesjährige Bonner Herbsttagung zum Thema „Die Stadt und die Anderen. Wahrnehmung und Erfahrung von Fremdheit in Selbstzeugnissen und Chroniken des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit“ einen deutlicheren Aktualitätsbezug denn je auf.
Die Frage, welche Erkenntnisse zum Umgang mit Alterität in Spätmittelalter und Früher Neuzeit konstruktiv in die aktuelle Debatte um Migration und Flüchtlingspolitik einbringen lassen – und damit auch die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz vormoderner Geschichte –, beschäftigte die Teilnehmer/innen der von Andreas Rutz konzipierten Tagung. Übereinstimmend wurde betont, dass es sich in der Vormoderne um konfliktreiche, aber auch extrem konfliktfähige Gesellschaften gehandelt habe, die im Umgang mit dem (vermeintlich) Fremden sehr pragmatisch war.
Die Jahrestagung der von Michael Rohrschneider (Bonn) geleiteten Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn wurde in Verbindung mit dem Verein für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande ausgerichtet und durch Histrhen medial begleitet. Entsprechend der Ausrichtung des Lehrstuhls zielte das Programm auf eine Verbindung von Stadt-/Landesgeschichte mit europäischer Geschichte und rückte das bedeutende Werk des Jubilars Hermann Weinsberg mit Beiträgen aus der Geschichtswissenschaft, Europäischen Ethnologie, Sprachgeschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie sowohl in geographischer, chronologischer als auch in disziplinärer Hinsicht in einen größeren Kontext.
Einleitend steckte Andreas Rutz die methodischen Voraussetzungen ab und skizzierte das historiographische Feld. Bei den methodisch relevanten Schlüsselbegriffen der Tagung hob Rutz drei Aspekte hervor: Selbstzeugnisse und Stadtchroniken seien ein facettenreiches Textspektrum mit narrativen Strukturen, die zwischen den Extrempolen subjektiv und objektiv changierten, aber in jedem Fall Informationen über die Identität einer sozialen oder städtischen Gruppe beinhalteten. Zudem bestehe zweitens die Notwendigkeit bei der Untersuchung von Alteritätskonstruktionen in diesen Quellen zwischen individuellen und kollektiven Erfahrungen und Wahrnehmungen sowie Stereotypenbildung zu gewichten. Drittens werde in modernen Wörterbüchern Fremdheit in der Regel als kulturelle Fremdheit (vermeintliche Andersartigkeit in Aussehen, Sitten und Religion) definiert, während in der konfessionell geprägten Ständegesellschaft der Frühen Neuzeit die soziale Fremdheit vorherrschend gewesen sei. Michaela Fenske (Würzburg) vertiefte diese theoretische Reflexion aus der Perspektive der Kulturanthropologie.
Die erste Tagungssektion mit den Vorträgen von Bianca Frohne (Kiel), Marc von der Höh (Rostock) und Marco Tomaszewski (Freiburg) war dem Thema Alteritätskonstruktionen in Familienbüchern gewidmet und von den Forschungsansätzen im Bereich der Körpergeschichte, Disability Studies und Geschlechtergeschichte verortet. Letztgenannter konnte darlegen, dass selbst in den vom 15. bis zum 17. Jahrhundert entstandenen, lehrhaft gestalteten Hausratsgedichten Alteritätskonstruktionen existieren. Es habe den Anschein, als würde es sich um eine mehrfach relationale Abgrenzung handeln, primär gegenüber anderen Männern.
Mit der zweiten Tagungssektion „Das Eigene und das Fremde. Wahrnehmungen – Identitäten – Vermittlungen“ wurde die Perspektive von Daniela Schulte (Zürich), Simon Siemanowski (Bielefeld) und Christian Schlöder (Hannover) mit Beispielen von der Toskana bis Norddeutschland und vom 15.-18. Jahrhundert chronologisch und geographisch erweitert.
Im Abendvortrag am ersten Tagungstag setzte Peter Glasner (Bonn) einen Schlussakkord, der ganz dem Jubilar der Herbstatgung, Hermann Weinsberg, gewidmet war. Er behandelte das „Boich Weinsberg“ – einen einzigartigen Legendenkomplex, der den Aufstieg der Kölner Familie Weinsberg mythologisiert. In der älteren Forschung ist diese genealogische Fiktion fehlgedeutet worden, denn sie verrät wenig über Weinsbergs tatsächliche Ahnen. Vielmehr handele es sich um ein typisches Beispiel genealogischen Erzählens. Mit der Geschichte von zwölf Hausvätern werde eine regelrechte Utopie gemeinschaftlichen Lebens in der Großfamilie entworfen. Der lebensweltliche Zusammenhang dieses Narrativs ist die beabsichtigte Stiftung eines Fideikommiss, denn Weinsberg hatte keine männlichen Erben. Der Zufall der Überlieferung, in diesem Fall ein „Kriminalfall“ um das Erbe, führte letztlich dazu, dass der Rat der Stadt Köln Weinsbergs Nachlass einzog. Glasner konstatierte abschließend, dass Weinsbergs Stiftungsgedanke gescheitert, aber die Vision, nicht in Vergessenheit zu geraten zweifellos erfolgreich gewesen sei.
Die dritte Tagungssektion leitete den zweiten Tagungstag ein und war ausschließlich Hermann Weinsberg gewidmet: Dabei stand die Nachrichtenrezeption Weinsbergs zu Fremden im Krieg und dem Ort die Zuordnung des Eigenen und Fremden in seiner Sprache im Fokus. Andreas Rutz konstatierte, dass Weinsberg bei aller Unübersichtlichkeit des Kriegsgeschehens versucht habe, Kämpfer in Eigene/Fremde bzw. Freunde/Feinde zu kategorisieren, entsprechend seiner engen Einbindung in politische Diskurse des Rats der Stadt Köln. Argumentationsbedarf für die Zuordnung ergab sich nicht bei Schlachten, sondern bei durchziehenden Soldaten, denn bei unmittelbaren Begegnungen mit der Soldateska habe sich Weinsbergs Bild oft als inkonsistent erwiesen. Um aber auch angesichts des Fehlverhaltens der eignen Partei seine loyale Haltung zu den Habsburgern zu bewahren, habe er weiter differenzieren müssen, z.B. zwischen dem spanischen König und seinem Statthalter unterschieden und auf die Nöte der Soldaten verwiesen.
Krisztina Péter (Budapest) untersuchte die Wahrnehmung von ‘Fremden’ aus Böhmen und Ungarn bei Weinsberg, insbesondere der ungarischen Pilger. Sie hob hervor, dass Vermögen, sozialer Status und Konfession über die Aufnahme von ‘Fremden’ bzw. ‘Migranten’ in Köln entschied. Weinsberg habe einen sehr pragmatischen und ökonomischen Zugang zu diesem Thema gehabt. Er sei im Wesentlichen ein Händler gewesen und nicht von Fremden irritiert worden. In der Diskussion wurde dies als ungewöhnlich vermerkt, da in rheinischen Quellen die ‘seltsamen’ Gebräuche der ungarischen Pilger häufig erwähnt werden.
Die Sprachwissenschaftlerin Eva Büthe-Scheider (Bonn) verwies auf den großen schreibsprachlichen Umbruch zu Lebzeiten Hermann Weinsbergs, bei dem eine circa 200 Jahre lang tradierte, lokale durch eine fremde Schreibsprache verdrängt wurde. Im Abgleich mit von Weinsberg rezipierten Texten konnte Büthe-Scheider herausarbeiten, welche Aneignungs- und Abgrenzungsprozesse sich bei Weinsberg vollzogen. Er habe Neues in Maßen akzeptiert, aber sich um den Verlust der Lesefähigkeit der alten Schrift gesorgt und sei bis zu seinem Lebensende nicht zur Kurrentschrift übergegangen.
Die vierte Sektion war der „Landesgeschichte im Rheinland“ vorbehalten, in der Forschungsprojekte in Kurzvorträgen präsentiert wurden: Wolfgang Rosen (Bonn) stellte Stand und Perspektiven des Nordrheinischen Klosterbuchs vor; die Bearbeitung des dritten Bandes zu Köln stehe kurz vor dem Abschluss. Unter den Ergebnissen sei hervorzuheben, dass die Klöster im 18. Jahrhundert wirtschaftlich weitaus besser aufgestellt waren, als dies vorher in der Forschung, gemäß dem verbreiteten Niedergangsnarrativ zur Stadt Köln vor der Franzosenzeit, angenommen wurde. Kim Opgenoorth und Sebastian Schlinkheider (Köln) präsentierten das Projekt Wallraff digital, das die Biographie des letzten Rektors der alten Kölner Universität, Stadtreformers und Kunstsammlers anschaulich für ein größeres Publikum vermitteln und sich besonders an Studierende richtet.
Den Konstruktionen von Fremdheit in literarischen Texten war die fünfte Tagungssektion gewidmet. Zugleich boten die Vorträge einen Perspektivwechsel zum ‘Blick der Anderen’ auf die Stadt. Manfred Groten (Bonn) untersuchte Daniel Defoes fiktiven Erlebnisbericht über die Pest in London 1665. Der Text schildere wie die Pestepidemie die vertraute Umwelt völlig verfremde. Deutlich erkennbar sei die Bedeutung der nachbarschaftlichen Kommunikation für die frühneuzeitliche Stadtgesellschaft und wie sehr die Angst vor deren Zusammenbruch die Zeitgenossen erschüttern konnte.
Susanne Rau (Erfurt) kommentierte die Tagung und leitete die Abschlussdiskussion. Die Anderen würden erst vom Standpunkt des vermeintlich Dominanten entstehen. Abschließend behandelte Rau das Verhältnis zwischen frühneuzeitlicher Alterität und der heutigen Flüchtlingsproblematik. Fremdheit in der Frühen Neuzeit könnte nicht mit unseren Begriffen erfasst werden. Fremdheit sei in der Vormoderne in erster Linie sozial, ein Mangel an lokaler Zugehörigkeit, beispielsweise von Witwen, Bettlern, Ortsfremden, Soldaten, Andersgläubigen und alle anderen die nicht vollen Zugang zu den Ressourcen der Stadt hatten. Rutz verwies in diesem Zusammenhang abschließend auf das Potenzial, eingefahrene Denkmuster durch die Begegnung mit einem uns fremden Umgang mit Alterität zu durchbrechen. Insgesamt zeigt die Tagung deutlich die überregionale Strahlkraft der Forschung zur rheinischen Landesgeschichte und ist ebenso als Plädoyer für den Eigenwert intensiver Quellenstudien zu einer der heutigen Gesellschaft weit entfernt scheinenden Epoche zu verstehen. Das Moderne und das Vergangene in Einklang zu bringen, ein Mittelweg, entspricht der Devise Hermann Weinsbergs: “Min symbolum, dicterium oder sprichwort, das ich sag, schreib oder mäle, ist: ,medium tenuere beati’, die seligen habens mittel gehalten, daran ich oft gedenk, das mich oft troistet.”
Das Programm der Tagung finden Sie hier.
Zitierweise:
Leonard Dorn, Tagungsbericht “Die Stadt und die Anderen”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 13.12.18, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2018/12/die-stadt-und-die-anderen-tagungsbericht/
- Tagungsbericht “Die Stadt und die Anderen” - 13. Dezember 2018