Impulse zur Polizeigeschichte im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Begleitveranstaltungen zur Ausstellung "Die Kommissare – Kriminalpolizei an Rhein und Ruhr 1920-1950"

Im November 2022 startete im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen am Standort Duisburg die Ausstellung “Die Kommissare – Kriminalpolizei an Rhein und Ruhr 1920-1950”. Die Ausstellung begleiten Veranstaltungen, Vorträge und Podiumsdiskussionen, deren Ergebnisse und maßgeblichen Inhalte hier dokumentiert und kritisch kommentiert werden sollen, um so den wissenschaftlichen Diskurs um eine Polizeigeschichte aus landesgeschichtlicher Perspektive weiter anzuregen.

Duisburger Polizisten vor und nach der „Stunde Null“. Ein Überblick – Vortragsabend im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Standort Duisburg, am 15.11.2022

Am Abend des 15. November 2022 fanden sich knapp vierzig Interessierte im Vortragssaal des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen in Duisburg ein, um den Ausführungen des Referenten Dr. Ulrich Opfermann (Krefeld) Gehör zu schenken. Opfermanns Vortrag hatte unter dem Titel „Duisburger Polizisten vor und nach der ,Stunde Null‘. Ein Überblick“ Kontinuitäten und Diskontinuitäten namentlich der Duisburger Polizei in Weimarer Republik, NS-Staat und Nachkriegsdeutschland zum Gegenstand. Insgesamt konnten die meisten der Ausführungen nicht überraschen, da die personellen Kontinuitäten über die Systembrüche hinweg hinreichend bekannt sind. In Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Justiz und Verwaltung konnten viel zu viele zwischen 1933 und 1945 „angebräunte Altlasten“ überwintern und – spätestens nach einer „Schampause“ – erneut Karriere machen respektive die im NS-Staat begonnene Karriere fortsetzen. Viel zu spät wurden viele der im Rahmen des nationalsozialistischen Völkermords schuldig Gewordenen vor Gericht gestellt – und in der Folge freigesprochen oder zu milden Haftstrafen verurteilt, die in aller Regel nicht zur Gänze verbüßt werden mussten, sondern vielfach mit vorzeitiger Entlassung endeten. „Dennoch“ sind die vorgestellten Fälle bedeutsam, sie sind ein weiterer Mosaikstein in das erwähnte Bild, das sich bislang hat zeichnen lassen. Und vor allem ist die Aufarbeitung dieses Themas für die Beschäftigung mit der Duisburger Stadtgeschichte von Bedeutung. Allein die Tatsache, dass die Quellen für Duisburg keine wesentlich anderen Erkenntnisse zulassen als in anderen Städten und Gemeinden, bedeutet schließlich keineswegs, dass man sich für die Polizei in Duisburg die Mühe entsprechender Studien ersparen könnte. Im Gegenteil: Erst wenn flächendeckend Studien erstellt sein werden, lässt sich ein einigermaßen belastbares Gesamtbild skizzieren.

Zunächst also ging der Referent auf die Organisationsstrukturen der Polizei im Nationalsozialismus ein. Vereinfacht gesagt, habe sich die Polizei in zwei wesentliche Bereiche unterteilt: in die Uniformierte Polizei (Ordnungs-/Schutzpolizei) und in die Nicht-uniformierte Polizei (Kriminalpolizei, Gestapo). Bei beiden habe es sich um bewaffnete Instanzen gehandelt. Die dreigliedrige polizeiliche Organisationsstruktur habe derjenigen des Militärs geglichen: Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere. Opfermann konzentrierte sich im Folgenden auf die Führungsebene der Polizei und klammerte die beiden unteren Kategorien weitgehend aus. Das Offizierskorps der Polizei habe sich weitgehend aus der bürgerlichen Bevölkerungsschicht zusammengesetzt, nicht zuletzt aus Kreisen der gesellschaftlichen „Bildungseliten“. In den 1930er Jahren hätten lediglich ca. 3,5 % der deutschen Bevölkerung die Allgemeine Hochschulreife erlangt. Dieser recht überschaubare Bevölkerungsteil sei das Reservoir für die Rekrutierung der Polizei-Offiziere gewesen. Diese seien stets um eine Distinktion nach „unten“ bemüht gewesen.

In einem nächsten Schritt widmete sich der Referent für die NS-Zeit dem polizeilichen Denken in gewissen Stereotypen: „Randständigkeit“, Devianz und Delinquenz seine als Phänomene einer „Andersartigkeit“ betrachtet worden. Man habe das Konzept einer „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ verfolgt, welches auf der Idee des „Ausmerzens“ beruht habe, die Kriminalität hätte verhindern sollen. Im Jahr 1937 sei dann die unbegrenzte „Vorbeugehaft“ eingeführt worden. Auch bei der Polizei hätten sich, so Opfermann, sozialer und ethnischer Rassismus überschnitten. Ein stereotypes Gegner-Bild sei innerhalb der Polizei von der Weimarer Republik in den NS-Staat importiert worden: Der Gegner der Polizei (der Staatsgewalt) steht politisch Links, bildet bewaffnete Banden und ist äußerst gefährlich. Das Prinzip der Abschreckung sei ein gängiges Mittel der Polizeiarbeit gewesen.

Nach 1945 sei es zu einer regelrechten personellen „Invasion“ von Beamten der Kriminalpolizei des NS-Staates in diejenige der entstehenden Bundesrepublik gekommen. In Duisburg selbst sei der Übergang „gleitend“ gewesen. Im Folgenden wandte sich Opfermann einigen konkreten Fallbeispielen zu:

Julius Polke (geb. etwa 1875), Polizeibeamter vor und nach 1933, sei von „Triebtätern“ als idealtypischen „Kriminellen“ ausgegangen, soziale Implikationen habe er hingegen als „Humanitätsduselei“ abgelehnt beziehungsweise ignoriert. Darüber hinaus sei er für „abschreckendere Strafen“ eingetreten. Sein Nachfolger, Kriminaldirektor Albert Roemer (geb. 1889), sei 1933 in die NSDAP eingetreten. Ihm wurde die Deportation der drei- und fünfjährigen „Zigeunermischlinge“ Egon und Robert Lehmann zur Last gelegt, was seine Einstufung in Kategorie V („entlastet“) im Berufungsverfahren des Entnazifizierungsverfahrens nicht beeinträchtigen konnte – nachdem er zunächst noch als gering Belasteter (Kategorie III) gegolten habe. Karl Buchholz (geb. 1904), der 1933 von der SPD zur NSDAP gewechselt sei, habe man nach 1945 als Angehörigen der Duisburger Kriminalpolizei als „Mitläufer“ entnazifiziert. Somit habe er in den Polizeidienst zurückkehren können. Im Jahr 1948 sei er Angeklagter in einem Prozess in Brüssel gewesen, wo ihm Folter, Deportation und Geiselerschießungen zur Last gelegt worden seien.

Für die Zeit nach 1945 müsse man von einer regelrechten „Gehilfen-Judikatur“ sprechen. In Gerichtsprozessen sei es kaum zu Verurteilungen wegen Mordes, sondern meistenteils wegen Beihilfe zum Mord gekommen. Dies habe die Verhängung eines denkbar geringen Strafmaßes ermöglicht. Und das vor dem Hintergrund, so der Referent mit Blick auf die Verhältnisse vor Ort, dass die Duisburger Gestapo für ihre Folterpraktiken berüchtigt gewesen sei.

So sei Franz Bauer, der letzte von fünf Duisburger Polizeipräsidenten im NS-Staat, im Jahr 1957 wegen Totschlags zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Bauer wurde zur Last gelegt, an der Erschießung von über 20 Polizeihäftlingen durch ein Exekutionskommando der Schutzpolizei maßgeblich beteiligt gewesen zu sein. Opfermann stellte weiterhin die Beteiligung eines Duisburger Polizei-Bataillons an den im „Ost-Einsatz“ hinter der Front begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Er verwies in diesem Kontext auf die Studie von Christopher Browning[1], die den Anteil der Polizei an den Menschheitsverbrechen hinter der Ostfront des Zweiten Weltkriegs aufgezeigt habe. Das Gerichtsverfahren gegen Angehörige des erwähnten Duisburger Polizei-Bataillons sei 1967 ohne Ergebnis respektive ohne Verurteilungen eingestellt worden.

Abschließend legte Opfermann dar, dass es ihm in diesem Vortrag lediglich um einen „Einblick“, nicht aber um eine „umfassende Studie“ gegangen sei. Er wolle seine Untersuchungen als einen „ersten Ansatz“ verstanden wissen. Als ein Fazit seiner Forschungen hob er hervor, dass sich eine enge Bindung der Duisburger Polizeibeamten an die Stadt nicht nachweisen lasse, dass vielmehr die engen persönlichen Netzwerke zwischen den einzelnen Akteuren auch nach deren Wechsel an andere Standorte prägend gewesen seien. Man sei untereinander verbunden gewesen, in einer regelrechten „Kameraderie“, welcher nach 1945 dann eine erhebliche Bedeutung zugekommen sei. Es hätten sich „Stammtische“ gebildet, die geradezu zu Absprachen untereinander eingeladen hätten. Die persönliche Schuld und Verstrickung in den nationalsozialistischen Völkermord habe zu gemeinsamer Tatbeteiligung, Komplizenschaft und entsprechender Furcht vor Verfolgung nach 1945 und einer dadurch bedingten Solidarisierung untereinander geführt. Auch die Sozialisation in Kaiserreich und Weimarer Republik habe hierbei eine Rolle gespielt. Während das Kontrollratsgesetz 10 noch das Rückwirkungs-Gebot festgeschrieben habe – also die Möglichkeit einer gerichtlichen Ahndung von gravierenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die zum Zeitpunkt der Tat nicht gesetzlich erfasst gewesen seien –, sei die Bundesrepublik Deutschland als einziger Staat Europas zu Beginn der 1950er Jahre dazu übergegangen, dieses Rückwirkungs-Gebot durch eine Rückwirkungs-Verbot zu ersetzen. In der Folge konnte man wegen entsprechender, zur Tatzeit nicht „strafbewehrter“ Verbrechen nicht mehr belangt werden.

Der Abend endete mit einer kurzen Fragerunde und intensiven Gesprächen an den Stehtischen des Vortragssaals – was sowohl von der Relevanz des Themas als auch vom Erfolg dieses Vortragsabends zeugt.

 

Polizeigeschichte im 20. Jahrhundert – (geschichts)wissenschaftliche Fragestellungen und gesellschaftliche Relevanz. Podiumsdiskussion im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Standort Duisburg, am 28.11.2022

Am 28. November 2022 fand im Vortragssaal des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen im Innenhafen zu Duisburg ein hochkarätig besetztes Podiumsgespräch zum aktuellen Stand der historischen Polizeiforschung statt. Unter der Moderation der Leiterin der Abteilung Rheinland des Landesarchivs mit Sitz in Duisburg, Martina Wiech, befassten sich Prof. Dr. Sabine Mecking (Universität Marburg), Udo Behrendes (Ltd. Polizeidirektor a. D.), Dr. Thomas Roth (NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln) und Prof. Dr. Klaus Weinhauer (Universität Bielefeld) mit Fragen, die zunächst seitens der Moderatorin und später dann aus dem Plenum an die Diskutanten herangetragen wurden.

So führte Weinhauer aus, dass die historische Forschung sich erst seit den ausgehenden 1980er Jahren eingehender mit der Polizei beschäftigt habe. Bis zu diesem Zeitpunkt sei die wissenschaftliche Erforschung der Polizei vornehmlich ein Metier der Rechtswissenschaft gewesen. Anfang und Mitte der 1990er Jahre habe der Impuls durch die Forschungen zur NS-Zeit, etwa von Browning, zu einer deutlich wahrnehmbaren Zäsur geführt.

Thomas Roth betonte in diesem Zusammenhang, dass für eine längere Zeit eine Fokussierung auf die Rolle der Gestapo zu konstatieren gewesen sei, was man auch als einen Akt der Verdrängung betrachten könne. Dann aber sei endlich das verengte Bild der Polizei in der NS-Zeit aufgebrochen und Kontinuitäten vor 1933 bis zur Zeit nach 1945 verstärkt in den Blick genommen worden. Seither habe man Gewissheit, dass alle deutschen Polizeien im und am Nationalsozialismus mitgewirkt hätten. Hierbei hätten Stereotype wie dasjenige der „Männlichkeit“ und der „Härte“ eine gewisse Rolle gespielt.

Sabine Mecking rief die Tatsache in Erinnerung, dass die Polizeiverwaltung gegenwärtig in der Verantwortung der deutschen Bundesländer liege. Insofern seien Ansätze einer regionalen Perspektive fruchtbar zu machen, der Landes- oder Regionalgeschichte eröffneten sich hier mannigfaltige Möglichkeiten.

Behrendes hob hervor, dass bis zu Beginn der 1990er Jahre die Rolle der Polizei im Nationalsozialismus kaum erforscht gewesen sei, obwohl bis weit in die 1950er Jahre hinein viele Polizeibeamte ihren Dienst versehen hätten, die vier Staatsformen – Kaiserreich, Weimarer Republik, NS und Bundesrepublik – mehr oder weniger ergeben gewesen seien. In Publikationen habe man bis zu der erwähnten Zäsur in Abhandlungen und Festschriften häufig Sätze zu lesen bekommen wie: „Die Zeit von 1933 bis 1945 war eine dunkle Zeit“ – womit dieser Zeitraum dann aber auch schon abgehakt gewesen sei.

Hieran anschließend betonte Weinhauer die Bedeutung des Deutschen Historikertags in Bochum im Jahr 1990. Dieser habe internationale Impulse erfahren und auf nationaler Ebene weiterverbreitet. Das „Polizeihistorische Kolloquium“ sei dann mitunter bewusst ins Ausland gegangen, so beispielsweise in die Niederlande. Auch das interdisziplinäre Konzept dieser Kolloquien sei hervorzuheben.

Zur Ausbildung an den Fachhochschulen für öffentliche Verwaltung respektive die polizeiinterne Ausbildung legte Sabine Mecking dar, dass Polizeigeschichte im Wahlpflichtbereich vertieft werden könne. Es gebe durchaus Bachelor- wie Masterarbeiten in diesem Themenfeld. Gleichwohl bestehe die Gefahr, dass der polizeihistorische Aspekt aufgrund des stark juristisch beschaffenen Rahmens der Ausbildung sowie aufgrund der ausgeprägten „Körperlichkeit“ derselben stärker an den Rand des Ausbildungs-Curriculums gerückt werden könnte, etwa wenn es um Stundenanteile und -kürzungen gehe.

Als Vertreter eines „Täterorts“ des Nationalsozialismus plädierte Roth sodann für eine Loslösung von einer zu starken Emotionalisierung, um Fehlentwicklungen und falschen Vorstellungen vorzubeugen – zumal diese Art von Gedenkstätten ohnedies immer nur sehr bedingt für eine „authentische Atmosphäre“ sorgen könnten.

Hier konnte man sich erinnert fühlen an die Mahnung und Kritik von Ruth Klüger am (damaligen) Konzept und Erscheinungsbild vieler Gedenkstätten zur NS-Zeit in Deutschland: „Gewiß, es zieht auch welche, die ohne Touristenneugier oder Sensationslust kommen, zu den alten Lagern, aber wer dort etwas zu finden meint, hat es wohl schon im Gepäck mitgebracht. […] Ich meine, verleiten diese renovierten Überbleibsel alter Schrecken nicht zur Sentimentalität, […] führen sie nicht weg von dem Gegenstand, auf den sie die Aufmerksamkeit nur scheinbar gelenkt haben, und hin zur Selbstbespiegelung der Gefühle? […] Dachau hab ich einmal besucht […]. Da war alles sauber und ordentlich, und man brauchte schon mehr Phantasie, als die meisten Menschen haben, um sich vorzustellen, was dort vor vierzig Jahren gespielt wurde. […] Das Holz riecht frisch und harzig, […] diese Baracken wirken fast einladend. […] Sicher helfen die ausgehängten Bilder, die schriftlich angeführten Daten und Fakten und die Dokumentarfilme. Aber das KZ als Ort? […] – das Wort Zeitschaft sollte es geben, um zu vermitteln, was ein Ort in der Zeit ist, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher. Heute verschweigen sie oft ebensoviel wie sie vermitteln. […] Es ist unsinnig, die Lager räumlich so darstellen zu wollen, wie sie damals waren“[2].

Die Polizei als Seismographen für die Verfasstheit der Gesamtgesellschaft nahm Behrendes in den Blick. Die Gesellschaft solle sich stärker mit „ihrer“ Polizei auseinandersetzen, zumal diese sich gerade in Nordrhein-Westfalen die „Bürgerorientierung“ als Paradigma auf die Fahnen geschrieben habe.

Im Hinblick auf die Überlieferung in den Archiven forderte Roth Letztere auf, möglichst viel zu archivieren und restriktiver zu kassieren – wenn denn seitens der Polizeiverwaltung, dieses Problems sei er sich durchaus bewusst, überhaupt Unterlagen angeboten würden. Es müsse mehr Oral History betrieben und der Polizeialltag der 1940er und 1950er Jahre verstärkt in den Fokus gerückt werden.[3]

Die zahlreichen Motive für die Entscheidung von jungen Menschen für den Eintritt in den Polizeidienst konturierte Behrendes: Der „sichere Arbeitsplatz“ und der „Kontakt mit Menschen“ würden hier stets an vorderster Stelle genannt. Mecking bestätigte und ergänzte dies um das „Helfer-Motiv“, welches ihr während des Unterrichts in der Ausbildung immer wieder begegnet sei.

Betont wurden sodann die großen Unterschiede in regionaler wie in kommunaler Hinsicht. So gelte beispielsweise die Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen eher als „weich“, während der Berliner Polizei eher der Ruf eines „harten“ Akteurs anhafte. Die „Münchener“ Polizei hingegen habe nach den „Schwabinger Krawallen“ ihr Image grundlegend geändert. Langezeit habe innerhalb der Polizei-Community eine Politik der „Deeskalation“ als „weich“ gegolten – was nicht immer als Kompliment zu verstehen war.

Behrendes sprach sich dafür aus, das Verhältnis von Polizei und Militär einer eingehenderen Betrachtung zu unterziehen. Bei allen Analogien habe es bisweilen, etwa in der Weimarer Republik – so beim „Mitteldeutschen Aufstand“ –, durchaus ein Konkurrenzverhältnis zwischen diesen beiden Institutionen gegeben. Eine entscheidende Zäsur sei dann das Jahr 1968 mit der Grundgesetzänderung betreffend den Inneren Notstand gewesen. In der Folge habe die Polizei demilitarisiert werden können, während zuvor und bis in die 1970er Jahre hinein weithin noch von „Polizeisoldaten“ die Rede gewesen sei. Auch die polizeiliche Ausrüstung wie Handgranaten und (halb-)automatische Schusswaffen habe bis zu diesem Einschnitt ein militärisches Gepräge aufgewiesen.

Weinhauer plädierte dafür, den Rassismus in den Reihen der Polizei(en) nach 1945 stärker zu fokussieren. Hier müsse die zeithistorische Forschung noch „liefern“ und stärker Reflexion betreiben. Dies gelte namentlich für den kontextualisierenden Vergleich mit anderen Verwaltungszweigen und der Gesamtgesellschaft.

Abschließend bestand die Gelegenheit zu Fragen aus dem Plenum. Diese fielen recht unterschiedlich aus: Wie können die Ergebnisse aus der Wanderausstellung in die polizeiliche Ausbildung implementiert werden? Gerade vor dem aktuellen Hintergrund von Rassismus-Vorwürfen gegenüber deutschen Polizeien sei dies ein wichtiger Aspekt, wie auch die Podiumsdiskutanten bestätigten. Die Relevanz dieses Aspekts spiegelt sich auch in der medialen Berichterstattung unserer Tage wider.[4] In der Beantwortung der Fragen wurde einerseits darauf verwiesen, dass der Aspekt der Polizeigeschichte noch stärker mit demjenigen der Polizeisoziologie verknüpft werden müsse, dass er zugleich einen nur sehr geringen Anteil am gesamten Lehr-Curriculum angehender Polizeibeamtinnen und -beamten habe sowie dass „Ergebnisse“ der didaktischen Vermittlung nur schwer zu eruieren respektive zu „messen“ seien. Gerade in dieser Hinsicht bestehe auch noch erheblicher Forschungsbedarf.

Eine weitere Einlassung fragte nach den Möglichkeiten, Ansätze einer Vergleichenden Landesgeschichte[5] im Kontext der Polizeigeschichte Nordrhein-Westfalens und anderer Regionen respektive Bundesländer fruchtbar zu machen. Klaus Theweleits Gedanken zu „Männerphantasien“ bewaffneter – historisch betrachtet überwiegend rein männlicher – Formationen, allen voran der Freikorps, darüber hinaus auch der „grünen“ und „blauen“ Polizei,[6] wären in Beziehung zu setzen von als rein „männlich“ konstruierten Regionen, wie es etwa Dagmar Kift für das Ruhrgebiet herausgearbeitet hat.[7] Wie „männlich“ war die Region „Ruhrgebiet“ wirklich, und wie wirkte sich dies gegebenenfalls auf das Auftreten, den Habitus, das Selbstverständnis, die Fremd- und Eigenwahrnehmung der Polizei vor Ort im Vergleich zu anderen – „weiblichen“? – Regionen aus? Lassen sich nennenswerte Unterschiede markieren, oder überwogen andere Faktoren, sodass der genannte Aspekt als Interpretament ausschiede? Sabine Mecking bestätigte in ihrem Statement zu diesem Einwurf aus dem Auditorium die Bedeutung eines vergleichenden Vorgehens der Landesgeschichte, wie es etwa im Tagungsband zur zweiten Tagung der AG Landesgeschichte des VHD im November 2015 in Tübingen immer wieder anklingt und auch proaktiv eingefordert wird.[8]

Ebenfalls aus dem Plenum wurde die Frage nach dem Vergleich mit polizeihistorischer Forschung in anderen Staaten gestellt. So sei beispielsweise danach zu fragen, ob die im Vergleich zu Deutschland doch eher zentrierte Überlieferung im zentralstaatlichen Frankreich die Erforschung der Polizeigeschichte nicht eher begünstige. Klaus Weinhauer verwies in seiner Antwort auf den Umstand, dass der Zugang zu im zentralen französischen Militär- und Polizeiarchiv in Vincennes aufbewahrten Quellen nach wir vor recht beachtlichen Restriktionen unterliege.

Etliche der Aspekte hätten eine vertiefende Diskussion verdient, beispielsweise wenn Behrendes die von Innenminister Reul aktuelle betriebene „Politik der kleinen Nadelstiche“ gegenüber der Clankriminalität unter dem Verweis auf die „Nadelstiche“ der preußischen Polizei gegenüber der Sozialdemokratie kritisierte. Hier hätte man gerne erfahren, auf welche Zeit sich Behrendes bezog: auf das Kaiserreich? Vom Kontext und von Verlauf der Diskussion an diesem Abend her hatte er wohl eher die Republik im Sinn. Gerade das aber bedürfte der Klarstellung und Differenzierung: Nicht nur, dass das Preußen der Weimarer Zeit noch immer von vielen als „Bastion der Republik“ betrachtet wird, sondern auch die Tatsache, dass es gerade die (Mehrheits-)Sozialdemokratie war, die aus Sicht der Arbeiterschaft der Revolution in den Rücken fiel und sich mit „der Reaktion“ gemein machte, sollte hier berücksichtigt werden. Das Zusammengehen des „Bluthunds Noske“ mit Freikorps und Reichswehr wirkte auf weite Kreise der Arbeiterschaft traumatisierend und desillusionierend, das Verhältnis zur jungen Republik blieb dauerhaft gestört.

Und wenn Weinhauer hervorhob, dass die Bekämpfung von kommunistischen Aufstandstendenzen im Hamburg der Weimarer Republik zu einem lange fortwirkenden „Antikommunismus“ in der Hamburger Polizei über das Ende der Republik und letztlich auch über das Ende des NS hinaus geführt habe,[9] und er dieses in den „Köpfen“ nachwirkende Narrativ mit der (vermeintlich?) milderen „Gangart“ der Polizei in Nordrhein-Westfalen kontrastierte, indem er den damaligen Innenminister Willi Weyer (FDP) zitierte, man müsse sehr vorsichtig sein, wenn es um den Einsatz von Polizei gegen Arbeiterdemonstrationen gehe, hätte unbedingt ergänzt werden müssen, dass – im Vergleich mit Hamburg – eine ganz ähnliche Situation für das Gebiet des späteren NRW zu konstatieren ist: In der Entmilitarisierten Zone im Westen war die Polizei die einzige legitime staatliche bewaffnete Gewalt, die sowohl im Ruhrkrieg 1920 (Stichwort „Essener Wasserturm“) als auch 1923 an Rhein und Ruhr (Ruhrbesetzung, Ruhrkampf, Separatismus) massiv zur Ausbildung von entsprechenden Narrativen beitrug und eine Selbstviktimisierung konstruierte, die weit über das Ende der Republik hinaus ihre Wirksamkeit entfaltete.[10]

Insofern behält das Diktum des Präsidenten des Landesarchivs Gültigkeit, welches dieser beim Verlassen des Veranstaltungsortes im kleinen Kreise äußerte: Man hätte noch stundenlang diskutieren können und wollen. Das letzte Wort in Sachen Polizeigeschichte im Land Nordrhein-Westfalen ist noch lange nicht gesprochen.

Die ausgewählten Veranstaltungen bildeten einen Teil des Rahmenprogramms. Das gesamte Programm finden Sie im Flyer zur Veranstaltungsreihe. Folgende Veranstaltungen wurden abweichend terminiert:

19.12.2022 (18:00) – Vortrag von Prof. Dr. Sabine Mecking (Universität Marburg)
Polizei und Anti-Atomkraftproteste in den 1970er und 1980er Jahren

12.01.2023 (18:30) – Werkstattgespräch Ricarda Reischl (Duisburg)
Verfolgung, Handlungsspielräume und Selbstbehauptung einer
Duisburger Sinti-Familie in der NS-Zeit


[1] Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Deutsch von Jürgen Peter Krause, Reinbek bei Hamburg 1993 (Titel im Original: Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland, New York 1992/1993).

[2] Klüger, Ruth, weiter leben. Eine Jugend, ungekürzte Ausgabe, München 1994, S. 75-78.

[3] In diesem Zusammenhang könnte man auch Möglichkeiten und Grenzen von Public History, Citizen Science und Crowdsourcing-Projekten diskutieren, wie dies in einem instruktiven, bisweilen jedoch ein wenig Marketing-Sprech-lastigen und Buzzword-Dropping-reichen Beitrag Oliver Auge tut: Auge, Oliver, In Grenzen unbegrenzt 2.0: Landesgeschichte im Zeitalter der Digitalisierung (Zum 60-jährigen Jubiläum des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e. V.), in: Rheinische Vierteljahrsblätter 86 (2022), S. 274-289.

[4] Vgl. Sperber, Anita, Weiße Weste für Bundespolizei. Antwort an Die Linke: Bundesregierung sieht keinen Grund für Vorgehen gegen Racial Profiling, in: junge Welt Nr. 231 (5. Oktober 2022), S. 4; ferner Schlemmer, Martin, Besprechung von: Frank Kawelovski/Sabine Mecking, Polizei im Wandel. 70 Jahre Polizeiarbeit in Nordrhein-Westfalen, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 86 (2022), S. 420-423.

[5] Genannt wurde namentlich der Dresdener Landeshistoriker Andreas Rutz, der verschiedentlich auf die Vorzüge des regionalen Vergleichs hingewiesen hat: Rutz, Andreas, Deutsche Landesgeschichte europäisch. Grenzen – Herausforderungen – Chancen, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 79 (2015), S. 1-19; ders., Landesgeschichte in Europa. Traditionen – Institutionen – Perspektiven, in: Freitag, Werner [u. a.] (Hrsg.), Handbuch Landesgeschichte, Berlin, Boston 2018, S. 102-125.

[6] Vgl. Theweleit, Klaus, Männerphantasien, vollständige und um ein Nachwort erweiterte Neuausgabe, 2. Aufl., Berlin 2020, besonders die Kapitel 1: „Männer und Frauen“ und 4: „Männerkörper und ,weißer Terror‘“.

[7] Kift, Dagmar, Die Männerwelt des Bergbaus (Schriften der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets, Heft 32), Essen 2011.

[8] Hirbodian, Sigrid/Jörg, Christian/Wegner, Tjark (Hrsg.), Zwischen Region, Nation und Europa. Landesgeschichte in europäischer Perspektive (Landesgeschichte, Bd. 4), Ostfildern 2022. Tjark Wegner spricht unter Bezugnahme auf Michael Matheus von einer „vergleichenden Landesgeschichte in europäischer Perspektive“, attestiert mit Verweis auf Wolfgang Schmale auf die lange Tradition einer vergleichend arbeitenden Landesgeschichte und fordert „komparatistische Studien über Staatsgrenzen hinweg“ (S. 5-29, hier S. 24, S. 27, S. 29), Hans Heiss verweist auf die „Notwendigkeit umfassenden Vergleichs“ und begrüßt „Anregungen aus anderen Regionen“, die bei den „Verflechtungen mit Nachbarregionen“ im Falle Südtirols nahe liegen (Südtirol: Im Schnittpunkt regionaler Geschichtskulturen, S. 31-55, hier S. 44f., S. 54), Jörg Peltzer betont, dass „Vergleichendes Arbeiten […] schon immer ein Proprium guter landeshistorischer Forschung gewesen“ sei und eine „vergleichende Landesgeschichte in europäischer Perspektive […] sich nicht als Advokat eines autarken, klar definierbaren und definierten Alteuropas, sondern vielmehr als Spezialist für die Vielfalt historischer Entwicklungen in Europa“ zu verstehen habe (Von der Region in die Welt. Die Landesgeschichte auf der Suche nach ihrer Zukunft, S. 117-131, hier S. 123), während Michael Matheus schließlich die „Landesgeschichtliche Komparatistik unter Einschluss von Transfer-, Verflechtungs- und Rezeptionsgeschichte“ am Historischen Seminar der Mainzer Universität anspricht (Bleiben wir „In Grenzen unbegrenzt“? Eine (persönliche) Standortbestimmung zur vergleichenden Landesgeschichte in europäischer Perspektive, S. 169-186, hier S. 185).

[9] In diesem Zusammenhang wäre eine vertiefende Beschäftigung mit dem Phänomen des „Antibolschewismus“ bzw. „Antikommunismus“ sicher wünschbar und erkenntnisversprechend. Vgl. beispielsweise Theweleit, Männerphantasien (wie Anm. 4), Kapitel „Die rote Flut“, S. 283-291 – hier auch das Beispiel des „Schicksals“ der Sicherheitspolizei am Essener Wasserturm vom 19. März 1920, das er in Beziehung setzt zum Tod des Hauptmanns Berthold in Harburg; Narrative, die im Nationalsozialismus weitergetragen und gepflegt wurden.

[10] Für die Zeit bis 1933 vgl. hierzu etwa Schmidt, Daniel, Preußens neue Polizei im Westen. Struktur und Entwicklung der uniformierten Polizei in der Rheinprovinz und in Westfalen 1919–1933, in: Geschichte im Westen 31 (2016), S. 47-69.

Zitierweise:
Schlemmer, Martin: Polizeigeschichte im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen. Begleitende Veranstaltungen zur Ausstellung “Die Kommissare – Kriminalpolizei an Rhein und Ruhr 1920-1950”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 12.12.2022, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2022/12/impulse-zur-polizeigeschichte-im-landesarchiv-nordrhein-westfalen

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Dr. Martin Schlemmer

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