Das Kölner Kaiserinnen-Evangeliar W 312. Ein ottonisches Prachtevangeliar im Historischen Archiv der Stadt Köln von Klaus Gereon Beuckers

Der vorliegende Band ist nicht der erste, den Klaus Gereon Beuckers zur von ihm mitherausgegebenen Reihe „Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters“ beigesteuert hat. Nachdem er sich bereits in Sammelbänden mit dem Gerresheimer Evangeliar,[1] dem Sakramentar aus Tyniec,[2] dem Jüngeren Evangeliar aus St. Georg in Köln[3] und dem Gießener Evangeliar[4] beschäftigt hat, legt er nun „unter der kölschen Zahl 11“ (S. 7) eine um zwei Aufsätze von Beate Braun-Niehr respektive Doris Oltrogge und Robert Fuchs ergänzte Monographie zum Kölner Kaiserinnen-Evangeliar W 312 aus dem Bestand des Historischen Archivs der Stadt Köln vor. Trotz der den Publikationsprozess verkomplizierenden Insolvenz der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, welche die Monographie ursprünglich angefragt und letztendlich wieder abgesagt hatte, ist es umso erfreulicher, dass das Werk dank des Böhlau Verlags nun doch (kleinformatiger) in den Druck gelangen konnte.

Nach einer sehr kurzen, knapp zwei Seiten umfassenden historischen Einführung in die letzten beiden Jahrzehnte des 10. Jahrhunderts, die — aus Sicht des beziehungsweise der Historiker*in misslich — leider ohne jeglichen Quellenverweis auskommt, springt der Vf. in medias res und rekapituliert Provenienz, Forschungsstand und Inhalt des Evangeliars. Insbesondere ersteres kann nicht lückenlos dargestellt werden, da das Evangeliar erst greifbar wurde, als es im frühen 19. Jahrhundert über die Sammlung Wallraff ins Historische Archiv der Stadt Köln gelangte, innerhalb derer jedoch keinen Vermerk zum Vorbesitz aufwies. Auch der im späten 19. beziehungsweise frühen 20. Jahrhundert ohne Nachweis vorgenommenen pauschalen Zuordnung zu St. Gereon entbehrt belastbarer Belege. „Von Anfang an“ (S. 13) wurde das Evangeliar aber einer in Köln lokalisierten Gruppe von Handschriften zugeordnet, deren Umfang variiert, aber neben W 312 auch etwa das Gießener Evangeliar und den ‚Hitda-Codex‘ umfasst, die als Vergleichsmaterial dienen können. Nach der Beschreibung von Lagenaufbau und Inhalt folgt die kunsthistorische Auseinandersetzung mit dem herrscherlichen Bildprogramm, unterteilt in Maiestas Domini, Kanontafeln und Evangelistenbildern, und mit Zierseiten, Initialen und der Rahmenornamentik. Hier wird deutlich gemacht, dass das „Ausstattungsniveau der Zierseiten […] hierarchisch abgestuft“ (S. 45) ist; außerdem hatte die Individualisierung der Medaillons vermutlich das bereits erwähnte Gießener Evangeliar zum Vorbild. Obwohl die Anlage „durchgeplant“ (S. 19) gewesen sei, weist das Evangeliar einige Planungsfehler in den Lagen und der unterzubringenden Textmenge auf. Dies erklärt der Vf. durch die Parallelarbeit mehrerer Hände, die der Herstellung „in großer Eile und unter Heranziehung aller verfügbaren Kräfte“ (S. 20) geschuldet sei, welche wiederum nur aufgrund des erfahrenen Skriptoriums in einer solchen Prachthandschrift resultieren konnte. Diese sticht schon allein durch ihre Größe aus der ‚Malerischen Gruppe‘ hervor, denn während die anderen dieser Gruppe zugeordneten Evangeliare Maße zwischen 21,2 und 25,2 cm Höhe und 16,6 bis 18,8 cm Breite aufweisen, misst W 312 32,8 x 24,2 cm. Damit sollte es den Standard für die ab den 1020er und 1030er Jahren entstandenen Evangeliare der folgenden ‚Reichen Gruppe‘ setzen.

Für die Einordnung des Kaiserinnen-Evangeliars in die Kölner Buchmalerei und insbesondere der ‚Malerischen Gruppe‘ führt der Vf. aus, dass das Kaiserinnen-Evangeliar nicht am Anfang der Kölner Handschriftenfolge stehen kann, sondern Ausführungen aus vorher angefertigten Handschriften übernimmt und weiterentwickelt — ein Wissenstransfer, der auch mit historischen Quellen zu untermalen ist, da etwa Werke mit Trierer Einschlag, die ihren Weg nach Köln und Essen fanden, in engen Kontext zu Erzbischof Egbert von Trier gesetzt werden können, dessen Parteinahme für Heinrich den Zänker eine spätere Versöhnung mit Kaiserin Theophanu erforderten.

War die Lokalisierung des Skriptoriums zunächst lange umstritten, so argumentiert der Vf. überzeugend, dass das als Memorialobjekt dienende und etwa mit griechischen Beischriften versehene Evangeliar nicht im Stift St. Gereon, sondern im Kloster St. Pantaleon hergestellt wurde. Spätestens seit der Förderung durch Kaiserin Theophanu hatte St. Pantaleon eine rapide Entwicklung durchgemacht, pflegte die griechische Kultur und verfügte dank zahlreicher Geschenke vonseiten der Herrscherin über eine reiche materielle Ausstattung. Nicht zuletzt war es letzte Ruhestätte nicht nur Theophanus nach ihrem Tod 991, sondern auch ihres bereits 965 verstorbenen Onkels durch Heirat, Erzbischof Bruns von Köln.

Nutzungsspuren und Dipinti werden wenige Seiten gewidmet, da der Codex kaum Benutzungsspuren aufweist und von verschiedenen Händen geschaffene Bleistiftdipinti und flüchtige Gesichtszeichnung kaum zuzuordnen sind. Die Feststellung des Vf., dass der Zeichner der von Bloch/Schnitzler als „Federproben“ bezeichneten „Kritzeleien“ (S. 96) zwar einer „Zeichenlaune“ (S. 97) folgte, sich aber offenbar aus dem Text inspirieren ließ und diesen darum lesen und verstehen konnte, erscheint einleuchtend.

Im Folgenden widmet Beate Braun-Niehr sich dem Capitulare evangeliorum des Kaiserinnen-Evangeliars, das, nicht unüblich, am Ende des Codex zu finden ist. Der Aufbau dieser Liste, die das Nachschlagen der für die jeweilige Messfeier benötigten Vortragsabschnitte in den Evangelien ermöglicht, folgt dem üblichen Vorgehen, mit der Vigil von Weihnachten zu beginnen und mit einem Commune sanctorum und Perikopen für Votiv- und Totenmessen zu enden (S. 103). Korrigierte Schreiberfehler und die Intonation dirigierende Satzzeichen deuten darauf hin, dass das Kaiserinnen-Evangeliar tatsächlich im Gottesdienst Verwendung fand. Auch wenn W 312 Ähnlichkeiten zu anderen Kölner Evangelienbüchern des 10. und 11. Jahrhunderts aufweist, so kommt ihm doch aufgrund verschiedener Abweichungen auch innerhalb dieser Gruppe eine „Sonderstellung“ zu (S. 105). Die tabellarische Darstellung bei Braun-Niehr (S. 108-124) bietet eine gute Übersicht, weist allerdings auch auf das weiter unten anzusprechende größte Manko des vorliegenden Bandes hin.

Anschließend findet sich, vor dem Übergang zu den Farbtafeln, der erhellenden Beitrag von Doris Oltrogge und Robert Fuchs zu Farbmitteln und Maltechnik in W 312, über die während des Notasyls im Cologne Institute of Conservation Sciences (CICS) durchgeführte kunsttechnologische Untersuchungen nach dem Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln im März 2009 erste Erkenntnisse gewonnen werden konnten. Der Fließtext in der Handschrift wurde mit dunkelbrauner Tinte geschrieben, Auszeichnungen wurden in Mennige und einleitende größere Initialen in Gold ausgeführt. Die Maltechnik entspricht motivisch und technisch zeitgenössischen Gepflogenheiten; die Zierseiten wurden in verschiedenen Purpurvarianten gestaltet, während etwa in Schriftbändern und in der Mandorla Lapislazuli für Dunkel- und Azurit für Hellblau verwendet wurde. Farbwahl und Maltechnik setzen das Evangeliar vor allem zur Gießener Handschrift in nahe Verwandtschaft,  die „Materialevokation“ von W 312 ist jedoch „in der zeitgenössischen Kölner Buchmalerei singulär[…]“ (beides S. 140). 

Schade ist, dass der vorliegende Band weder über Orts- noch Namenregister verfügt. Mag darauf angesichts des recht engen regionalen und personellen Zuschnitts des Untersuchungsgegenstands noch verzichtet werden können, so hätte ein Abbildungsverzeichnis, das die zahlreichen und qualitativ hochwertigen Vergleichsdarstellungen im Text bündelt, dem kunsthistorischen Publikum die Arbeit mit dem Band sicher erleichtert. Beinahe zu vernachlässigen sind saloppe Formulierungen (S. 95, „ganz woanders herbekommen“) und kleinere Lektoratsfehler wie etwa auf S. 18 (ein fehlendes Komma zwischen „handelt“ und „belegt“, die Formulierung „Diese Textseiten dürften vorgelegt haben, bevor die Textzierseiten beschriftet wurden […].“) oder S. 140 (eine fehlende Satzverbindung zwischen „farbsemantisch zu verstehen“ und „dürfte mit dem Material“). Allerdings erschließt sich der Rezensentin nicht, wieso auf S. 109, Anm. 19 auf das Digitalisat des Kaiserinnen-Evangeliars auf der Website des Historischen Archivs Köln verwiesen wird. Das Abtippen des langen, mit Sonderzeichen und Zahlen gefüllten Links ist zum einen eine umständliche Arbeit — zum anderen stellt sich die Frage, wieso die Farbtafeln im Anhang des Textbands bei fol. 197v enden, wenn der Beitrag von Braun-Niehr jedoch explizit das Capitulare evangeliorum von fol. 197r bis fol. 220v bespricht. Zwar wird den Farbtafeln die Erläuterung vorangestellt, dass nur diejenigen Seiten abgebildet wurden, die Bilder, Zierinitialen oder Zierschriften enthalten (S. 170). Ein Blick auf etwaige Druckkostenerhöhungen mag die Einsparungen vermutlich erklären. Es erscheint jedoch umständlich, das Buch aus der Hand legen zu müssen, um online die restlichen 46 Seiten aufzurufen, die explizit in einem Beitrag behandelt werden.

Summa summarum lässt sich sagen, dass sich das vorliegende Werk ohne Zweifel wunderbar in die Riege der bereits bestehenden Bände der Reihe einfügt. Die historisch und kunsthistorisch herausragende Stellung, die W 312 als Objekt ottonischer Zeit einnimmt, wird deutlich ausgebreitet und lässt die Lesenden nach der Lektüre umso dankbarer zurück, dass der Einsturz des Historischen Archivs das Kaiserinnen-Evangeliar nur wenig beschädigt hat. Ebenfalls hervorzuheben sind die vielen schönen und hochwertigen Abbildungen, die ihren Teil dazu beitragen, über den für einen doch vergleichsweise schmalen Band strammen Preis hinwegzutrösten.

 

Klaus Gereon Beuckers, Das Kölner Kaiserinnen-Evangeliar W 312. Ein ottonisches Prachtevangeliar im Historischen Archiv der Stadt Köln. Mit Beiträgen von Beate Braun-Niehr, Doris Oltrogge und Robert Fuchs (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters 11), Köln 2024, Böhlau Verlag, 170 S., 62 Farbtafeln, 49,00€; ISBN: 978-3-412-53099-0.

 


[1] Das Gerresheimer Evangeliar. Eine spätottonische Prachthandschrift als Geschichtsquelle (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters 1), hg v. Klaus Gereon Beuckers u. Beathe Johlen-Budnik, Köln/Weimar/Wien 2016.

[2] Das Sakramentar aus Tyniec. Eine Prachthandschrift des 11. Jahrhunderts und die Beziehungen zwischen Köln und Polen in der Zeit Kasimirs des Erneuerers (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters 3), hg. v. Klaus Gereon Beuckers u. Andreas Bihrer, Wien/Köln/Weimar 2018.

[3] Das Jüngere Evangliar aus St. Georg in Köln. Untersuchungen zum Lyskirchen-Evangeliar (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters 5/Studien zu Kunstdenkmälern im Erzbistum Köln 5), hg. v. Klaus Gereon Beuckers u. Anna Pawlik, Wien/Köln/Weimar 2019.

[4] Das Gießener Evangeliar und die Malerische Gruppe der Kölner Buchmalerei (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters 9), hg. v. Klaus Gereon Beuckers u. Ursula Prinz, Wien/Köln 2023.

 

Zitierweise:
Jansen, Luise Margarete: Rezension zu “Klaus Gereon Beuckers, Das Kölner Kaiserinnen-Evangeliar W 312. Ein ottonisches Prachtevangeliar im Historischen Archiv der Stadt Köln”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 20.02.2025, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2025/02/rezension-koelner-kaiserinnen-evangeliar-jansen

Druckversion
Luise Margarete Jansen

Über Luise Margarete Jansen

Luise Margarete Jansen studierte Romanistik und Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Geschichte, Kunstgeschichte und Politikwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Seit 2020 arbeitet sie an einem Promotionsprojekt zu ost- und westfränkischen Herrscherinnen des 9. bis 12. Jahrhunderts (Betreuer: Prof. Dr. Matthias Becher), seit 2022 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt "Stützen der Königsherrschaft", das an der Abteilung für Mittelalterliche Geschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn angesiedelt ist.

Beitrag kommentieren

Ihre E-Mail wird nicht öffentlich sichtbar sein. Erforderliche Felder sind markiert mit einem *

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.