Die Bonner Germanistin Anja Micklin legt hier die Edition und sprachliche Untersuchung eines spätmittelalterlichen, in ripuarischer Sprache verfassten Berichts über die Reise eines Anonymen in den Nahen Osten vor: den sog. Niederrheinischen Orientbericht, der in zwei Handschriften überliefert ist; beide werden im Historischen Archiv der Stadt Köln aufbewahrt (Köln, Hist. Archiv der Stadt, Best. 7010 W 261a und Best. 7020 W*3). In einer sehr knappen Einleitung von etwas mehr als drei Seiten führt die Verfasserin überblicksartig in die Überlieferung ein, stellt die Gliederung der Arbeit vor und greift einige Forschungsdesiderate auf (etwa zu geschilderten Ereignissen und Lebensverhältnissen sowie Abhängigkeitsverhältnissen zu weiteren Quellen), für die sie mit ihrer Edition Interesse zu wecken hofft. In die Überlieferungs- und Editionsgeschichte sowie die Erforschung der (mittel)ripuarischen (Schreib)Sprache führt das zweite Kapitel ein. Es folgt eine ausführliche Beschreibung der zwei Handschriften in Kapitel drei unter Angabe der bisherigen Handschriftenbeschreibungen und Inhaltsverzeichnisse der Handschriften. Damit wird auch der Überlieferungskontext des Niederrheinischen Orientberichts angesprochen, denn beide Handschriften bieten eine Sammlung von Quellen – unter anderem ist in ihnen die Dreikönigslegende des Johannes von Hildesheim überliefert. Wichtig für die folgende Edition ist außerdem, dass die Lesbarkeit der Texte trotz mancher Beschädigung in keiner der beiden Handschriften beeinträchtigt ist. Dennoch weisen sie qualitativ Unterschiede auf; so schließt die Verfasserin aus der „mäßige[n] Sorgfalt bei der Vorbereitung des Texts“ in der Handschrift W 261a auf ein schnelles Schreibtempo (S. 27). Während diese Handschrift einen Besitzvermerk der Kölner Patrizierfamilie Jude führt, war Handschrift W*3 zunächst im Besitz der Schlossbibliothek Manderscheid-Blankenheim und ging erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in das Eigentum der Stadt Köln über (S. 43f.). Die sprachliche Einordnung verweist auf das 14. oder 15. Jahrhundert als Entstehungszeit beider Handschriften.
Es schließt die sprachliche Untersuchung des Textes in Kapitel vier über 154 Seiten an. Hier analysiert die Verfasserin die Schrift und Sprache des Textes und vermittelt ihre Ergebnisse sehr anschaulich anhand zahlreicher Beispiele, tabellarischer Übersichten und fotografischer Abbildungen. So kommt sie unter anderem anhand des Konsonantismusgebrauchs oder typischer Wortbildungserscheinungen zu dem Ergebnis, es handele sich um eine „eindeutige schreibsprachliche Lokalisierung beider O[rient]B[ericht]-Fassungen im Ripuarischen“ (S. 199), wenn auch zum Teil andere Sprachformen vorzufinden seien. Die Bedeutung der Fassungen für die Sprachgeschichte hebt die Verfasserin besonders hervor, denn in ihnen sind einige sprachliche Neuerungen überliefert (vgl. S. 203 mit Beispielen).
Der Inhalt und die Herkunft des Orientberichts werden im fünften Kapitel thematisiert. Obwohl der Text keine Ich-Referenzen aufweist, ist von einem einzigen Autor auszugehen, der selbst gereist ist. Aus drei Teilen bestehend soll zunächst ein Überblick über die Königreiche in over mer und die verschiedenen Glaubensgruppen (Christen, Juden und Heiden, darunter Sarazenen, Pagani, Türken, Tararen, Perser) erbracht werden. Sodann geht der Autor auf die Lebensbedingungen im Nahen Osten ein und liefert schließlich eine enzyklopädieartige Auflistung der nahöstlichen beheimateten Tiere und Pflanzen. Der Umfang der verschiedenen Abschnitte ist dabei sehr unterschiedlich gehalten. So bilde laut der Verfasserin der „Teilbereich über Heiden […] mit 50,2% den Schwerpunkt des Werks“ (S. 206 mit einer Graphik auf S. 207). Die Entstehungszeit des Textes grenzt die Verfasserin mit Hilfe der bisherigen Forschung auf die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts ein (S. 209). Was den Autor betrifft, ging die ältere Forschung lange von einem Geistlichen aus. Die Verfasserin schließt sich der jüngeren Forschung an, die aufgrund des sprachlichen Stils, inhaltlicher Referenzen und der deutschen – statt lateinischen – Abfassungssprache von einem Reisenden aus dem Kaufmanns- oder Adelsstand spricht. Insbesondere die „durchscheinenden weltlich-ökonomischen Interessen, die vergleichsweise objektive, teils gar positive Beschreibung der muslimischen Sitten und der Gebrauch der Volkssprache in den Textzeugen“ überzeugen sie, dass es sich um einen Kaufmann handelte (S. 213). Bei der Lokalisierung des Autors in Köln dagegen öffnet die Verfasserin die Diskussion über den Herkunftsraum auf den westripuarischen, Aachener Raum, da einige „(nord)westliche Sprachspuren“, außerdem zwei Aachen-Referenzen zu finden seien (S. 214). Sie gibt allerdings zu bedenken, dass Herkunfts- und Schaffensort des Autors nicht unbedingt gleichzusetzen seien (S. 214). In einer anschließenden Analyse der Textpassagen lenkt sie den Blick wiederum auf Köln, da zum einen der genannten Referenzraum im Text nicht eindeutig und sowohl kleiner (Rheinland) als auch größer (Heiliges Römisches Reich, Abendland) zu fassen sei und nicht mit Gewissheit ausgeschlossen werden könne, dass der Autor die entsprechenden Passagen nicht doch aus einer Vorlage übernommen habe (S. 214-216). Reisezeit und Aufenthalte des Autors erschließen sich anschließend anhand des inhaltlichen Berichts, da keine konkreten Angaben überliefert sind. Die Verfasserin prüft die Forschungsdiskussion anhand stichhaltiger Indizien im Text neu und kommt zu dem Ergebnis, dass nur zwei Aufenthalte in Kairo 1333/34 und 1344/45 sicher festzuhalten sind sowie die Rückkehr vor 1349. Ob der Autor sich in Armenien aufhielt, sei nicht sicher festzustellen oder gar zu datieren. Auch weitere Aufenthalte in Kairo, Damaskus und Täbris, im türkischen Küstengebiet westlich von Kleinarmenien und in Antiochia seien laut der Verfasserin möglich. Dass er sich weiter östlich in Bagdad, Babylon oder Peking aufhielt, hält sie hingegen für ausgeschlossen. Sie geht stattdessen davon aus, dass die Berichtsteile aus Vorlagen übernommen worden seien. Was den Reiseweg betrifft, so schließt sich die Verfasserin dem Vorschlag Bernd Luckes (Der Kölner Orientbericht. Unveröffentlichte Magisterarbeit Bonn 1998) an, demzufolge der Autor von Ägypten aus gen Norden entlang der Ost- und Nordost-Mittelmeerküste durch Palästina, Syrien, Kleinarmenien und die Türkei bis Alcelot (Selçuk) reiste (S. 220f.); eine Karte illustriert den Weg anschaulich.
Zahlreiche Werke hat der Autor beim Abfassen seines Berichts zur Vorlage genommen. Die Verfasserin ordnet in einem eigenständigen Kapitel ‚Mögliche Quellen und spätere Rezeption‘ die Ergebnisse der Forschungsliteratur und geht auf wesentliche Werke noch einmal detaillierter ein, darunter finden sich insbesondere die Mongolengeschichte des Armeniers Hethum von Korykos sowie der Reisebericht Odorichs von Pordenone. Darüber hinaus kommen die „Epistula presbiteri Johannis“, die Alexanderdichtung, der Reisebericht des Magister Thietmar oder auch die „Naturalis Historia“ des Plinius und die „Etymologiae“ des Isidor von Sevilla infrage. An vielen Stellen muss jedoch unklar bleiben, ob sich der Autor auf eigene Erfahrungen bezieht oder auf frühere Pilger- und Reiseberichte rekurriert. Ebenso schwer einzuschätzen ist nach Aussage der Verfasserin, inwieweit spätere Werke aus dem Orientbericht selbst geschöpft haben. Auch die Abhängigkeit zum Reisebericht des Ludolf von Sudheim und der Dreikönigslegende des Johannes von Hildesheim ist zwar stark diskutiert, aber nicht abschließend geklärt worden.
Mit Blick auf die Vollständigkeit des Orientberichts kommt die Verfasserin schließlich zu dem überzeugenden Schluss, dass der Text vollständig überliefert ist, wenn man bedenke, dass der Autor mit seiner Formulierung – aus der die Forschung vielfach geschlussfolgert hatte, dass ein Teil fehle – auf andere bereits vorliegende Berichte bzw. Werke weise, „um für seinen Bericht einen Anknüpfungspunkt an die bisherige Texttradition zu schaffen“ (S. 226). Offen bleiben muss die Frage, ob den beiden Fassungen das Autograph zugrunde liegt. Die Verfasserin denkt aufgrund der gemeinsamen Fehler an eine Zwischenstufe der Abschrift, die ggf. eine stärker nordwestliche Färbung aufwies. Anhand zahlreicher Textbeispiele, die vergleichend gegenübergestellt sind, belegt und illustriert die Verfasserin ihre Ausführungen gut verständlich.
Dass die Verfasserin im Niederrheinischen Orientbericht auch eine historisch betrachtet hochspannende Quelle bearbeitet, zeigt sie insbesondere in Kapitel fünf und im Stellenkommentar fortlaufend: Zu den Sarazenen etwa führt sie an, dass „deren Glaubensinhalte und -vorschriften zwar nicht gänzlich vorurteilsfrei, aber doch in vergleichsweise sachlicher, teils gar positiver Weise vorgestellt werden“ und ihr weltlicher Herr, der Mamluken-Sultan in Kairo, als Christenfreund präsentiert werde (S. 205). Auch bekannt war dem Autor etwa die alte synonyme Verwendung der Völkernamen Sarazenen, Ismaeliten und Hagarenen sowie ihre Rückführung auf Gen 16 (dazu K69, S. 426f.). Mit Reinhold Röhricht und Heinrich Meisner (Ein niederrheinischer Bericht über den Orient, in: ZfdPh 19 [1887], 1-86) hebt die Verfasserin hervor, dass der dritte Teil zu Flora und Fauna als erste Naturgeschichte des Orients in deutscher Sprache zu gelten hat (S. 206).
Der Edition (Kapitel 6), die den Orientbericht in beiden Fassungen parallel vorlegt, unmittelbar vorangestellt sind die Editionsgrundsätze sowie eine Inhaltsübersicht. So gibt die Verfasserin etwa den Text „weitgehend handschriftengetreu“ unter Verzicht auf eine Normalisierung der Schreibung wieder (S. 233). Bei der Anordnung und Formatierung ist besonderer Wert daraufgelegt worden, die beiden Fassung gut miteinander vergleichen zu können, was der Lesbarkeit sehr zugute kommt. Absätze oder auch Zeilenwechsel in den beiden Fassungen wurden daher nicht zwingend übernommen. Änderungen sind durch die hier beschriebenen Zeichen und Formatierungen deutlich gemacht. Um die Lesbarkeit weiter zu erhöhen, wurde eine moderne Interpunktion eingefügt.
Ein zweiteiliger Apparat (in den Fußnoten) und Stellenkommentar (als Endnoten) dienen ebenfalls dem besseren Verständnis des Textes und der Handschriften. Erster Apparat führt die handschriftlichen Befunde und Abweichungen gegenüber den Handschriften auf, zweiter Apparat enthält vorrangig sprachliche Erläuterungen und Hinweise zu Textverderbnissen sowie den Verweis auf den Stellenkommentar, der der Edition angehängt ist und Sacherläuterungen, Literaturhinweise sowie Verweise auf inhaltliche Parallelen anderer historischer Quellen aufführt. Ein Verzeichnis aller gebrauchter Abkürzungen, der Abbildungen und Tabellen sowie ein Quellen- und Literaturverzeichnis runden den Band ab; ein Personen- oder Ortsregister zur besseren Orientierung im Text ist bedauerlicherweise nicht enthalten.
Neben der hier besprochenen Edition von Anja Micklin wurde die Handschrift W*3 im Jahr 2019 in einer Edition von Helmut Brall-Tuch (Von Christen, Juden und von Heiden. Der Niederrheinische Orientbericht, hg., übers. und komm. von Helmut Brall-Tuch, unter Mitarbeit von Jana Katczynski, Verena Rheinberg und Sarafina Yamoah, Göttingen 2019) vorgelegt, die Micklin nicht mehr berücksichtigen konnte (S. 12 mit Anm. 2). Die Edition Brall-Tuch versteht sich allerdings nicht als “kritische Ausgabe im engeren Sinn” (Brall-Tuch 2019, S. 15) und enhält zudem eine weitaus knappere Einleitung von rund 20 Seiten, keine sprachliche Untersuchung, allerdings ein Orts- und Personenregister und einige Abbildungen zur Illustration.
Der hier besprochenen Band bietet insgesamt einen guten Zugriff auf einen höchst spannenden Bericht, ist gut lesbar und übersichtlich gestaltet. Im Verbund mit der Edition von Brall-Tuch bieten sich damit beste Voraussetzungen, den Niederrheinischen Orientbericht besser zugänglich zu machen und weiteren sprachwissenschaftlichen und historischen Untersuchungen zu unterziehen.
Anja Micklin, Der „Niederrheinische Orientbericht“. Edition und sprachliche Untersuchung (Rheinisches Archiv 163), Wien, Köln, Weimar 2021, 488 S.; ISBN 978-3-412-51965-0.
Zitierweise:
Katharina Gahbler: Rezension zu “Anja Micklin, Der „Niederrheinische Orientbericht“. Edition und sprachliche Untersuchung”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 11.10.2021, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2021/10/rezension-niederrheinischer-orientbericht-edition-gahbler