Die Kriegsverbrecherlobby – Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter Der ewige Wunsch nach einem Schlussstrich. Von Felix Bohr

Herbert Kappler war zwar kein Hundertjähriger als er am 15. August 1977 aus dem Fenster eines römischen Militärkrankenhauses stieg und verschwand. Zudem ist nicht einmal sicher, ob Kappler sich – wie von den Boulevard-Medien seinerzeit kolportiert – überhaupt aus seinem Zimmer im dritten Stock abseilen musste, um in die Freiheit zu gelangen. Ein Methusalem war er in gewisser Hinsicht aber dennoch: 32 Jahre hatte der ehemalige SS-Mann in italienischer Haft gesessen, ehe er bei einem Krankenhaus-Aufenthalt die Flucht ergriff. Somit gehörte er zu den letzten im westeuropäischen Ausland inhaftierten deutschen Kriegsverbrechern. Kappler hatte 1944 mit dem Massaker in den Fosse Ardeatine einen der grausamsten Massenmorde in Italien während des Zweiten Weltkriegs zu verantworten. Nach dem Krieg war er in Rom wegen der brutalen Erschießung von 335 Italienern zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe verurteilt worden. In den drei Jahrzehnten seiner Haft wurde Kappler in Italien zunehmend zur Symbolfigur für die deutschen Besatzungsverbrechen. In der Bundesrepublik hingegen wurde er gern zum Opfer einer ungerechten und unbarmherzigen italienischen Kriegsverbrecherpolitik stilisiert.

1500 Kilometer nördlich von Rom konnten die im niederländischen Breda einsitzenden als „Drei von Breda“ bekannten deutschen SS-Männer Joseph Kotalla, Ferdinand aus der Fünten und Franz Fischer von solch einer Flucht nur träumen. Das NS-Verbrecher-Trio bestand dabei ursprünglich sogar aus vier Häftlingen: der Sturmbannführer Willy Lages war 1966 aus gesundheitlichen Gründen entlassen worden. Aus der Fünten und Fischer wurden erst 1989, nach 44 Jahren Haft begnadigt; Kotalla verstarb 1979 im Gefängnis. Ähnlich Kappler in Rom waren die Vier bzw. Drei von Breda zu Symbolfiguren der deutschen NS-Verbrechen geworden; ähnlich Kappler wurden auch sie zum Gegenstand eines Jahrzehnte währenden diplomatischen und erinnerungspolitischen Tauziehens zwischen den Niederlanden und der Bundesrepublik.

Mit seiner „Kriegsverbrecherlobby“ legt der Journalist und Historiker Felix Bohr eine detaillierte Studie vor über den Einsatz der Bonner Bundesregierungen von Adenauer bis Schmidt für eine Begnadigung dieser fünf NS-Täter. Besonders im Fokus steht die Unterstützung dieses staatlichen Engagements durch eine breite Phalanx revisionistischer bis rechtsextremer Soldatenverbände und der Kirchen. Das 2018 bei Suhrkamp erschiene Werk Bohrs basiert auf dessen Dissertation an der Universität Göttingen. An Aufmachung, Sprache und der intensiven Vermarktung erkennbar, richtet sich Bohr vorwiegend an ein historisch interessiertes Laienpublikum, ohne darüber die wissenschaftliche Forschungsarbeit zu vernachlässigen. Die theoretische und historiographische Einordnung von Bohrs Arbeit gerät hierbei – eingedenk der Zielgruppe – allerdings äußerst kurz. Bohr verortet sich trotz der transnationalen Dimension seines Forschungsgegenstandes praktisch ausschließlich im deutschen Forschungsdiskurs und beruft sich auf die Arbeiten Norbert Freis[1] oder Jens Westemeiers[2]. Bohrs Quellengrundlage besteht überwiegend aus Akten deutscher Behörden, wobei der Verfasser auch Archive in Italien und den Niederlanden konsultiert hat.

Bohr beschreibt zunächst ausführlich die Verbrechen der fünf Protagonisten seiner Studie. Daraufhin schildert er deren Prozesse und ihre (erinnerungs-) politischen Rahmenbedingungen. War Herbert Kappler vor allem wegen des Massakers in den Fosse Ardeatine in das kollektive Gedächtnis der Italiener eingegangen, so waren die „Vier von Breda“ wegen ihrer Rolle für die Deportation und Verfolgung zehntausender Juden und geistig Behinderter, der Erschießung von Widerstandskämpfern sowie der Folterung und Ermordung unzähliger Häftlinge im KZ Amersfoort zum Inbegriff deutscher NS-Verbrechen in den Niederlanden geworden.

Anschließend geht der Verfasser zum Kernpunkt seiner Arbeit über, zur „Kriegsverbrecherlobby“. Unter diese subsumiert Bohr an erster Stelle eine Reihe von Soldatenverbänden, vor allem den „Verband der Heimkehrer“, die „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte“ und die „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit“. In rascher Abfolge schildert Bohr darüber hinaus die altbekannten und wenig rühmlichen Verstrickungen der Kirchen in die Unterstützung von Kriegs- und NS-Verbrechern, von der sogenannten Rattenlinie nach Südamerika bis hin zu dem die Verbrechen verharmlosenden finanziellen und geistlichen Beistand für verurteilte Täter. Überdies thematisiert Bohr den Einsatz insbesondere des traditionell von vielen „Ewiggestrigen“ besetzten Auswärtigen Amtes und der eigens für die rechtliche Betreuung im Ausland inhaftierter NS-Verbrecher geschaffenen „Zentralen Rechtsschutzstelle“.

Anlässlich eines Staatsbesuchs der niederländischen Königin Beatrix 1971 in Bonn fordern Demonstranten die Freilassung der „Drei von Breda“. Wie auf dem Schild erkennbar, wur-den die Kriegsverbrecher oftmals als „Kriegsgefangene“ verharmlost, Quelle: Nationaal Archief

Ferner setzt sich Bohr mit den gesellschaftlichen und erinnerungskulturellen Transformationsprozessen der 1960er Jahre auseinander, die dazu führten, dass sich der bislang radikal offene Einsatz der alten Soldatenverbände immer weiter in den Hintergrund verlagerte. Der Eichmann-Prozess und das Aufkommen einer neuen kritischen Generation führten zu einem fundamentalen wie schnellen Wechsel dessen, was als öffentlich sagbar galt. Zugleich führte die Bundesregierung unter Druck der Soldatenverbände ihr Engagement für eine Begnadigung der fünf Deutschen ungemindert, jedoch nunmehr klandestin fort. In diesem Zusammenhang lässt Bohr Willy Brandt ein besonderes Augenmerk zukommen. Brandt setzte sich vor dem Hintergrund seiner eigenen Widerstandserfahrung in verblüffend großem Ausmaß für die Kriegsverbrecher ein. Zugleich bekannte er sich offen zur deutschen Schuld und trat für die Versöhnung Deutschlands mit seinen ehemaligen Kriegsgegnern ein. Bohr erklärt sich diesen Umstand mit starken persönlichen Motiven des Bundeskanzlers: Sein Leben lang sah sich Brandt für seine Zeit im Exil diffamiert und dem Vorwurf ausgesetzt, er sei kein guter Deutscher, er habe sich in der NS-Zeit leichtfertig und feige ins Ausland abgesetzt. Bohr zufolge wollte Brandt nun das Gegenteil beweisen und seine nationale Gesinnung auch altrechten Kreisen demonstrieren. Zugleich verfolgte der Sozialdemokrat laut Bohr mit seiner kriegsverbrecherfreundlichen Linie auch noch Jahrzehnte nach Kriegsende einen integrativen Aspekt: die Einbindung ehemaliger Nationalsozialisten in die Bundesrepublik. Vor allem der Fall Kappler hatte für Brandt eine besondere Bedeutung, da der Bundeskanzler persönlich stark vom Schicksal des Langzeitgefangenen beeindruckt zeigte.

Im Folgenden zeichnet Bohr das politische und diplomatische Tauziehen der jeweiligen Bundesregierungen mit den Regierungen in den Niederlanden und Italien um die Freilassung der fünf NS-Verbrecher detailliert nach. Der Historiker beschreibt, wie sich der deutsche Staat – keine Kosten scheuend – mit teuren und nicht unproblematischen Anwälten (man denke an Rudolf Aschenauer) immer wieder darum bemühte, eine Begnadigung zu erwirken. Auf politischer Ebene trafen die bundesdeutschen Bemühungen bei den Regierungen in den Niederlanden und Italiens oftmals auf sehr viel mehr Verständnis, als bei der Landesbevölkerung. Vor allem in den Niederlanden kochten die Diskussionen hoch, wenn das Parlament wieder einmal über eine etwaige Begnadigung der Vier bzw. Drei von Breda debattierte. Auch die Flucht Kapplers hatte in Italien für weitaus heftigere Reaktionen gesorgt als in Deutschland. Erst 1989 fand sich im niederländischen Parlament eine Mehrheit für die Entlassung der letzten beiden Bredaer Gefangenen Fischer und aus der Fünten. Die Bundesregierung zeigte sich erleichtert, dass dieses Kapitel der deutschen NS-Geschichte nun abgeschlossen war. Von ihrer wiedergewonnen Freiheit indes hatten weder Kappler noch die „Zwei von Breda“ sonderlich viel: Sie starben alle nur wenige Monate nach ihrer Entlassung.

Abschließend betrachtet ist Bohrs Werk eine spannend verfasste und gut lesbare Studie über die bundesdeutsche Nachkriegsmentalität und den politischen Umgang mit den letzten deutschen, in westeuropäischer Haft befindlichen Kriegs- und NS-Verbrechern. Allerdings werden die durch die für historische Dissertationen ungewöhnlich intensive Vermarktung geschürten Erwartungen des wissenschaftlichen Lesers an dieses Buch nicht gänzlich befriedigt. Man hätte zweifellos mehr an neuen historischen Erkenntnissen und Zusammenhängen und eine kürzere Darstellung bekannter Fakten erwartet. Dennoch ist Bohrs Studie zweifelsohne ein exzellentes Beispiel für eine historisch anspruchsvolle Arbeit, die den Spagat bewältigt, sowohl ein fachliches wie nichtfachliches Publikum gleichermaßen anzusprechen, ohne dabei in das Populärwissenschaftliche abzugleiten.

Felix Bohr, Die Kriegsverbrecherlobby – Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter. Der ewige Wunsch nach einem Schlussstrich, Berlin 2018, 558 Seiten, ISBN: 978-3-518-42840-5.


[1] Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.

[2] Jens Westemeier, Himmlers Krieger. Joachim Peiper und die Waffen-SS in Krieg und Nachkriegszeit, Paderborn 2014.

 

Zitierweise:
Glahé, Philipp: Rezension zu „Die Kriegsverbrecherlobby – Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter. Der ewige Wunsch nach einem Schlussstrich”. Von Felix Bohr, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 16.12.2019, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2019/12/rezension-bohr-glahe/

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Philipp Glahé

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