Die Rheinlande und die ‚Erfindung‘ der Katharer Die Konstruktion eines religiösen Feindbildes im hochmittelalterlichen Europa – Wissenschaftsausstellung im Universitätsmuseum Bonn (6. April–3. Juli 2022)

Ketzer und deren Verfolgungen sind wesentlicher Bestandteil unseres Geschichtsbildes vom Mittelalter.[1] Dabei gelten heutzutage die, oftmals mit Südfrankreich assoziierten, Katharer als bekannteste Gruppe damaliger Häretiker. Dieses spezifische Geschichtsbild wurde von einer breit rezipierten wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Literatur vermittelt oder zumindest unterstützt.[2]

Infragestellung des Geschichtsbildes der Katharer

Die Häresieforschung hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren diese übliche Darstellung problematisiert und bestritten. Ausgehend von einer neuen Forschungsperspektive haben sich immer mehr Historikerinnen und Historiker auf die Konstruktion bzw. auf die ‚Erfindung‘ der Häresien – einschließlich des Katharismus – in den Quellen konzentriert und viele moderne Deutungen infrage gestellt. Waren die Katharer tatsächlich eine einheitliche ketzerische Bewegung im hochmittelalterlichen Europa (11.–13. Jahrhundert), welche die katholische Kirche bedrohlich herausforderte? Vermitteln die überlieferten Quellen, die fast ausschließlich von katholischen Klerikern und Mönchen verfasst wurden, glaubwürdige Darstellungen einer katharischen ‚Gegenkirche‘? Oder verdichteten und erneuerten sie eher herkömmliche religiöse Feindbilder der Häretiker, die darüber hinaus oft politisch instrumentalisiert wurden? Wann, wie und wo entstand und entwickelte sich das religiöse Feindbild der Katharer? Sollten wir uns weiterhin hauptsächlich auf Südfrankreich konzentrieren oder unseren Blick eher auf andere Regionen wenden? Zum Beispiel auch auf die Rheinlande?

Die Ausstellung im Universitätsmuseum Bonn

Die Posterausstellung im Universitätsmuseum, Foto: Histrhen

Diese und andere Fragen liegen der Wissenschaftsausstellung zugrunde, die seit dem 6. April und bis zum 3. Juli im Bonner Universitätsmuseum gezeigt wird: „Die Rheinlande und die ‚Erfindung‘ der Katharer. Die Konstruktion eines religiösen Feindbildes im hochmittelalterlichen Europa“.[3] Es handelt sich um die Übertragung und Anpassung einer erfolgreichen französischen Posterausstellung, welche die Historikerin Alessia Trivellone und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter 2018 an der Universität Montpellier vorbereitet und dort sowie an anderen Universitäten gezeigt haben.[4] Die deutsche Version besteht aus neun Postern, zwei Videos, wissenschaftlichen Büchern, Comicbänden und einem Brettspiel.

Die Dekonstruktion eines modernen Konstrukts

“Katharer”-Brettspiele in der Ausstellung im Universitätsmuseum, Foto: Histrhen

In acht Stationen zielt die deutsche Ausstellung darauf ab, das gewöhnliche Bild der Katharer zu relativieren und eine andere, komplexere und gleichwohl faszinierende Geschichte zu erzählen. Zunächst wird gezeigt, dass unser heutiges Geschichtsbild auf einem vielschichtigen modernen Konstrukt beruht, zu dem vor allem Kirchenhistoriker im 19. und 20. Jahrhundert – wie Charles Schmidt, Ignaz von Döllinger und Arno Borst – entscheidend beitrugen. Auch unsere Assoziation der Katharer mit Südfrankreich ist Teil dieses kulturellen Konstruktes, das heute die Identität der okzitanischen Region prägt und in den letzten Jahren auch zur touristischen Marke geworden ist: le pays cathare, das Katharerland.[5]

Kontextualisierung der Quellen: das Beispiel des Wortes „Katharer“

Wenn wir uns jedoch dieses vielseitigen modernen Konstruktes des Katharismus bewusstwerden und Abstand davon nehmen, können wir die damaligen Quellen besser kontextualisieren und interpretieren. Insbesondere können wir vor allem kombinatorische Argumentationen von früheren Historikerinnen und Historikern vermeiden, die aus Schriften, welche in verschiedenen Kontexten verfasst wurden, ein einheitliches Bild der Katharer, ihrer Lehre und angeblichen ‚Gegenkirche‘ geschaffen haben. Wir stellen zum Beispiel fest, dass das Wort „Katharer“ selbst – ursprünglich eine Bezeichnung der Kirchenväter für eine nicht relevante Gruppe von spätantiken Häretikern – so gut wie nie in Südfrankreich verwendet wurde. Diese Bezeichnung finden wir eher in Texten aus Nord- und Mittelitalien – insbesondere von der römischen Kurie – und auch aus den Rheinlanden.

Die Rheinlande und die Konstruktion des Feindbildes der Häretiker_1: Der Brief Everwins von Steinfeld an Bernhard von Clairvaux

Mit einigen Texten, die um die Mitte des 12. Jahrhunderts in rheinischen Gebieten verfasst wurden und zirkulierten, befassen sich die dritte und vierte Station, d. h. der zentrale Teil der deutschen Ausstellung. In dieser Makroregion, die in vollem Aufschwung war, befanden sich die kirchlichen Institutionen in einem Spannungsfeld zwischen Tradition und Erneuerung. Der bekannte Brief des Prämonstratenser-Propstes Everwin von Steinfeld (in der Eifel) an den Zisterzienser Bernhard von Clairvaux über zwei Gruppen von Häretikern, die in Köln entdeckt, verurteilt und teilweise verbrannt wurden, entwarf in den 1140er Jahren dramatisch das Problem des Umgangs mit vermeintlichen Ketzern. Everwin und Bernhard, Mitglieder zweier junger und innovativer religiöser Orden, welche die Kirche erneuern wollten, waren nicht nur mit dem Widerstand der traditionellen Institutionen beschäftigt, sondern mit Kritikern der Amtskirche konfrontiert, die Sakramente, Kultpraktiken und die zugrundliegenden Lehren bzw. Dogmen radikal infrage stellten. Everwin und Bernhard nahmen diese radikalen Kritiker als Häretiker wahr, ohne dass sie für diese eine neue spezifische Bezeichnung fanden.

Die Rheinlande und die Konstruktion des Feindbildes der Häretiker_2: Eckbert von Schönau und die ‚Erfindung‘ der Katharer

Eckbertus Sconaugiensis (Eckbert von Schönau), Liber contra Catharos (Das Buch gegen die Katharer). Vercelli, Kapitularbibliothek, Hs. 171 (Vercelli, Ende des 12. Jahrhunderts), Fol. 1r.

Wenige Jahre später war es der Mönch Eckbert von Schönau, der in seinem „Buch gegen die Katharer“ (Liber contra catharos) ein ausführliches religiöses Feindbild und einen Namen für diese Häretiker in der Erzdiözese Köln schaffte. Eckbert berichtet in seinem Widmungsbrief an den Kölner Erzbischof Rainald von Dassel (1164/1165), dass er sich bereits als Kanoniker in Bonn in den 1140er Jahren mit diesen vermeintlich bedrohlichen Häretikern auseinandergesetzt hatte. Er nannte sie „Katharer“: eine Bezeichnung, die seiner Meinung nach gemeinhin bekannt war. In einem komplex strukturierten Text, der vor allem aus Predigten besteht, beschreibt und widerlegt Eckbert sehr polemisch zehn Irrlehren der „Katharer“. Neben den spärlichen und vagen Verweisen auf seine Treffen mit diesen angeblichen Häretikern nutzte er ausführlich Wissensbestände über Häresien aus der Spätantike: Vor allem stellten die Manichäer sein Vorbild dar, über die der Kirchenvater Augustinus von Hippo († 430) ausführlich berichtet hatte. Eckbert ‚erfand‘ so ein neues religiöses Feindbild, durch das die Amtskirche widerspenstige Personen und religiöse Gruppen ausgrenzen konnte. Das Buch Eckberts gegen die Katharer ist eine der ältesten Abhandlungen, die im Hochmittelalter die traditionelle Lehre der Amtskirche über die Häresie weiterentwickelten.

Transfer einer Kategorie nach Süden? Die Katharer in Nord- und Mittelitalien

Der Kreuzgang des Bonner Münsters. Quelle: Foto Eugenio Riversi

Die Rezeption des Buches von Eckbert muss noch genau untersucht werden: Ein Teil der handschriftlichen Überlieferung führt nach Norditalien und nach Rom. Dort wurde das Wort „Katharer“ neben anderen Bezeichnungen seit den 1170er Jahren in Synodalbeschlüssen, Dekretalen und Traktaten häufig verwendet. Allerdings ermöglichen alle diese Texte, auf welche die fünfte Station hinweist, keinen zuverlässigen Zugang zu konkreten Gruppen der Katharer und vor allem zu ihrer angeblichen Organisation in Kirchen. Die gelehrten Abhandlubrengen, die in Italien entstanden sind, stellen vor allem polemische Schriften dar, die hauptsächlich das abstrakte religiöse Feindbild der Katharer sowie die Feindbilder anderer Häretiker verdichteten. Im Gegenteil können wir feststellen, dass diese religiösen Feindbilder häufig vor und nach der Entstehung der Inquisition in den 1230er Jahren politisch instrumentalisiert wurden, um Verfolgungen zu legitimieren.

Südfrankreich und der Albigenserkreuzzug

Die politische Verwendung der Häresievorwürfe findet sich exemplarisch auch im damaligen Südfrankreich, mit dem sich die sechste Station befasst. Der lange Kampf um die Vorherrschaft zwischen den Grafen von Toulouse, einigen Königen (von Aragón, England und Frankreich) und dem Papsttum in Zusammenarbeit mit den Zisterziensern schaffte seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts eine durchaus angespannte politische Lage. Die zugespitzte Verwendung der religiösen Feindbilder der Häretiker führte in diesem Kontext sogar zum päpstlichen Aufruf eines Kreuzzuges gegen die als „Albigenser“ und nicht als „Katharer“ bezeichneten lokalen Ketzer, aus dem ein zwanzigjähriger Krieg (1209–1229) und Verfolgungen resultieren sollten.

Der Weg zur Inquisition: die Rheinlande als frühes „Versuchslabor“

Ein weiteres Resultat der Verdichtung und intensivierten Verwendung der religiösen Feinbilder zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert war die Institutionalisierung der kirchlichen Verfahren gegen die Häretiker, die zur Entstehung der Inquisition führte. Mit dieser befasst sich die siebte Station. Neben Südfrankreich und Italien wurden auch die Rheinlande in einer sehr frühen Phase (um 1230) zu einem „Versuchslabor“ der Inquisition. Eine wichtige Rolle spielte darin der Kleriker und Prediger Konrad von Marburg (†1233), der die Unterstützung Papst Gregors IX. (1227–1241) genoss. Konrads Ermordung unterbrach diese frühe Entwicklung der Inquisition in den rheinischen Gebieten. In anderen Kontexten vermitteln die neuen und ausführlichen Register, welche die Inquisitoren für die Ketzerverfahren erstellten, zwar deutlich mehr Informationen, allerdings waren die Zeugenaussagen stark von den Vorstellungen der Ermittler und von der Sprache ihrer Notare beeinflusst.

Neue Tendenzen der Häresieforschung: ein konstruktivistischer Ansatz

In der achten und letzten Station werden einige Aspekte der aktuellen Häresieforschung kurz vorgestellt, die für die Ausstellung bedeutend sind. Wir weisen zunächst auf die Untersuchungen hin, die sich mit der Konstruktion der Häresien auseinandergesetzt haben: insbesondere auf den Sammelband „Inventer l’hérésie. Discours polémiques et pouvoirs avant l’Inquisition“ (1998), der von Monique Zerner herausgegeben wurde.[6] Im Rahmen dieser Tendenz der französischen Häresieforschung hat der Historiker Uwe Brunn 2006 eine grundlegende französische Dissertation über die Konstruktion der Häresie im 12. und frühen 13. Jahrhundert in den Rheinlanden und im Maastal veröffentlicht.[7] Außerdem gehen wir kurz auch auf die aktuelle Katharismuskontroverse ein, in der sich eher traditionelle Forschungspositionen – die noch für die Existenz einer einheitlichen häretischen Bewegung der Katharer plädieren – den neuen Tendenzen zur Dekonstruktion unserer modernen Kategorien und zur neuen Interpretation der Quellen entgegenstellen. Ausgehend von den neuen Forschungstendenzen zielt das bewusst konstruktivistische Modell der Häresie- und Geschichtsforschung im Allgemeinen explizit darauf ab, die verhärteten Fronten der Katharismusdebatte aufzulösen.

Die Ausstellung “Die Rheinlande und die ‚Erfindung‘ der Katharer” ist bis 3. Juli 2022 im Universitätsmuseum Bonn (Hauptgebäude am Hofgarten) zu sehen. Ein Katalog, in dem die Inhalte der Ausstellung ausführlich dargelegt und durch reiches Bildmaterial ergänzt werden, ist in Vorbereitung.

 


[1] Herrscher, Ketzer, Minnesänger. Die Menschen im Mittelalter, Der Spiegel. Geschichte, 1 (Januar 2015), https://www.spiegel.de/spiegel/spiegelgeschichte/index-2015-1.html (28.04.2022).

[2] Zum Beispiel: Arno Borst, Die Katharer (MGH, Schriften XII), Stuttgart 1953; Malcolm Lambert, Geschichte der Katharer. Aufstieg und Fall der großen Ketzerbewegung, Darmstadt 2001; Gerhard Rottenwöhrer, Die Katharer: Was sie glaubten, wie sie lebten, Ostfildern 2007.

[3] Universitätsmuseum, Hauptgebäude der Universität Bonn, Regina-Pacis-Weg 1, 53113 Bonn; www.uni-bonn.de/de/universitaet/unileben/universitaetmuseum, Eintritt frei, Mi-So, 12–16:30 Uhr.

[4] Die französische Wissenschaftsausstellung war sehr erfolgreich und wurde unter anderem auch an den Universitäten Nîmes, Lyon 2, Paris Créteil, Nizza gezeigt.

[5] https://www.payscathare.org (28.04.2022); Pilar Jiménez Sánchez, The Use and Abuse of History: The Creation of the “Aude, pays cathare”. An Example of the Management of an Historical and Cultural Patrimony, in: Imago Temporis. Medium Aevum 4 (2010) S. 373–398.

[6] Monique Zerner (Hrsg.), Inventer l’hérésie. Discours polémiques et pouvoirs avant l’Inquisition (Collection d’études médiévales de Nice 2), Turnhout 1998.

[7] Uwe Brunn, Des contestataires aux « cathares ». Discours de réforme et propagande antihérétique dans le pays du Rhin et de la Meuse avant l’Inquisition (Collection des Études Augustiniennes. Série Moyen Âge Temps Modernes 41), Paris 2006.

 

Zitierweise:
Riversi, Eugenio: Die Rheinlande und die ‚Erfindung‘ der Katharer. Die Konstruktion eines religiösen Feindbildes im hochmittelalterlichen Europa – Wissenschaftsausstellung im Universitätsmuseum Bonn (6. April–3. Juli 2022), in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 30.05.2022, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2022/05/rheinlande-katharer-ausstellung-riversi

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