Eine Klasse für sich. Adel an Rhein und Ruhr Hrsg. von Heinrich Theodor Grütter, Magdalena Drexl, Axel Heimsoth und Reinhild Stephan-Maaser

Viel ist bislang aus wirtschafts- und sozialhistorischer Perspektive zur Geschichte des Ruhrgebiets geschrieben worden, viele Etappen seiner industriegeschichtlichen Entwicklung sind gut erforscht und zahlreiche Denkmäler erinnern öffentlich sichtbar an die identitätsstiftenden Bergbau- und Montanindustrien, die so prägend für die Region waren. Weitaus weniger bekannt sind heute hingegen die etwa 400 historischen Adelssitze an Rhein und Ruhr, von denen ungefähr die Hälfte erhalten sind. Diese verweisen nicht nur auf die Kleinteiligkeit vormoderner Gemeinwesen, sondern sie stehen außerdem für die lange Geschichte und Tradition adeliger Herrschaft und ihre vielfältigen historischen und kulturellen Ausprägungen. Beide sind jedoch sowohl in Forschung als auch Öffentlichkeit bislang nicht umfassend gewürdigt worden und an diesem Punkt setzt die Ausstellung „Eine Klasse für sich. Adel an Rhein und Ruhr“ an, die von Dezember 2021 bis Juli 2022 im Ruhr Museum in Essen besucht werden kann und deren Katalog hier zur Besprechung vorliegt.

Als HerausgeberInnen fungieren der Leiter des Ruhr Museums Heinrich Theodor Grütter sowie die KuratorInnen der Ausstellung Magdalena Drexl, Axel Heimsoth und Reinhild Stephan-Maaser. Noch vor Beginn der Lektüre des im Klartext Verlag erschienenen Katalogs fällt dessen gelungene und hochwertige äußere Gestaltung auf. Auf drei Grußworte folgen zunächst zwei einführende Texte: Heinrich Theodor Grütter beschäftigt sich in seiner Einführung mit den Ausgangspunkten und Zielsetzungen der Ausstellung und des Katalogs, die durchaus als ambitioniert beschrieben werden können. Im Hinblick auf den Adel im Gebiet von Rhein, Ruhr und Lippe und die Darstellung seiner Charakteristika will die Ausstellung erstens „seine gesamte Geschichte von den Anfängen im Frühmittelalter bis in die Gegenwart, also auch bis in die Zeit, in der er seine politische Macht längst verloren hat“ (S. 14), erzählen. Zweitens sollen „die Welt des Adels“ (S. 14) und drittens „die Faszination, die der Adel auch heute noch auf die Menschen ausübt“ (S. 14), aufgezeigt und verdeutlicht werden. Im zweiten vorangestellten Text führt der Wiener Architekt Bernhard Denkinger als Verantwortlicher für die Gestaltung der Ausstellung in deren räumliche Konzeption ein, die insbesondere dem Aspekt der gesellschaftlichen Repräsentation und der „Darstellung des Systemhaften“ (S. 17) der Adelsgesellschaft verpflichtet ist. Der eigentliche Katalog setzt sich aus insgesamt 17 Kapiteln zusammen: Die ersten fünf Kapitel erzählen chronologisch die über tausendjährige Geschichte des Adels von den Anfängen im 5. Jahrhundert über Mittelalter, Frühe Neuzeit und 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, wobei die Kapitel 2 bis 5 nochmals in drei Unterkapitel untergliedert sind. Stets wird hier die besondere Stellung des Adels in der vormodernen Ständegesellschaft deutlich gemacht, dessen Macht sich vor allem der Verklammerung von Landbesitz und Herrschaftsrechten verdankte, ohne jedoch aus den Augen zu verlieren, dass es sich beim Adel immer um eine sehr heterogene gesellschaftliche Gruppe handelte. Nach dem chronologischen ersten Teil des Bandes setzen die folgenden Kapitel 6 bis 17 auf durchschnittlich zehn Seiten thematische Schwerpunkte hinsichtlich der regionalen adeligen Lebenswelt, wobei sich die Reihenfolge der ausgewählten Themen nicht unbedingt immer erschließt. Angefangen mit den Themen „Tradition und Selbstdarstellung“ folgen Kapitel zu „Burgen und Schlössern“, „Gärten und Parks“, „adeliger Wohnkultur“, „Sammlungen“, „Bediensteten“, „Kindheit und Erziehung“, „Heiratspolitik“, „Feste und Musik“, „Jagd“ und „Tod und Begräbnis“. Diesen Kapiteln ist gemein, dass sie das adelige Streben nach standesgemäßer Repräsentation in den Mittelpunkt stellen. Das abschließende Kapitel beschäftigt sich mit der bis heute vorhandenen und weit verbreiteten „Faszination Adel“, die hier noch einmal gesondert auf ihre Ursachen und Ausprägungen hin beleuchtet wird.

Jedem Kapitel ist ein überblicksartiger Text vorangestellt, der die LeserInnen inhaltlich in das jeweilige Thema einführt. Diese kurzen Texte sind allesamt griffig formuliert und klären verständlich und sachlich über die wichtigsten Aspekte adeliger Herrschaft an Rhein und Ruhr auf. Im Anschluss an diese Texte werden die einzelnen Exponate des jeweiligen Ausstellungsabschnitts vorgestellt. Auch hier zeichnet sich der Ausstellungskatalog erneut durch präzise Beschreibungen und ebenso nützliche wie weiterführende Hinweise auf andere Kataloge und Sekundärliteratur aus. Überhaupt bietet er eine angenehme Ausgewogenheit zwischen erklärenden Textelementen und beeindruckenden Exponatabbildungen. Ein Anhang mit einer Übersicht der Leihgeber, Danksagungen sowie den üblichen Verzeichnissen runden den Band ab, wobei vor allem das umfassende Literaturverzeichnis positiv heraussticht.

Links: Prunkharnisch Herzog Wilhelms V. von Jülich-Kleve-Berg, Copyright: Ruhr Museum, Foto: Deimel + Wittmar

Eine Stärke des breit bebilderten Katalogs liegt vor allem in der Vielzahl der vorgestellten Exponate: Über 800 Objekte aus rund 160 Museen, Archiven, Bibliotheken und Privatsammlungen werden hier beschrieben. Diese Menge gibt nicht nur äußerst interessante Einblicke in die adelige Lebenswelt an Rhein und Ruhr, sondern sie hilft vor allem zu veranschaulichen, warum es sich beim Adel der Region über Jahrhunderte um eine – wie die HerausgeberInnen es nennen – „Klasse für sich“ handelte. Gleichwohl ist diese, wenn auch sicherlich werbewirksame Formulierung, nicht korrekt: Streng genommen handelt es sich beim Adel eben nicht um eine Klasse, sondern um einen Stand und eine Reflexion über die Wahl der Begriffe wäre wünschenswert gewesen, da die Ausstellung mit Repräsentation und Lebensführung gerade die standesspezifischen Charakteristika der adeligen Gesellschaft herausstellt. Zu nennen sind hier unter anderem der um 1550 angefertigte Prunkharnisch Herzog Wilhelms V. von Jülich-Kleve-Berg (S. 119), das imposante um 1770 entstandene und ganzseitig abgedruckte Herrscherporträt Franziska Christines von Pfalz-Sulzbach als Essener Fürstäbtissin (S. 112) oder der aus Silber in Form einer Eiche gefertigte Stammbaum der Familie Westerholt-Arenfels, der 1928 als Geburtstagsgeschenk überreicht wurde (S. 216).

Diese Vielfalt der Objekte begründet eine zweite Stärke. Archäologische Funde, historische Karten, Urkunden und Wappen, Bücher und Münzen sowie Gemälde, kostbarer Schmuck, Kleidung und repräsentative Möbel und auch Produkte wie Weinflaschen und Grillsaucen, die heute von Adelsfamilien vermarktet werden, verdeutlichen die vielfältigen Ausprägungen adeligen Selbstverständnisses und dessen Entwicklungen. Gleichzeitig zeugen sie von einem kontinuierlichen Anpassungsprozess des Adels an sich verändernde politische Strukturen zum Erhalt der eigenen Stellung wie etwa nach der Französischen Revolution, aber auch von einer Neuorientierung nach dem Ende des Kaiserreichs 1919 und dem damit einhergehenden Verlust von Privilegien. Die Kandidatur Ernst von Bodelschwinghs für die CDU bei der Bundestagswahl 1957 (S. 187) oder die Eröffnung eines Löwenparks durch Egon Reichsgraf von und zu Westerholt und Gysenberg im Jahr 1968 (S. 194f.) stehen stellvertretend für diese neuen Wege. Aber auch Tendenzen zu einer Rückbesinnung auf adelige Traditionen beziehungsweise deren Erhalt werden verdeutlicht. Wünschenswert wäre einzig eine stärkere Thematisierung von Gemeinsamkeiten, aber eben auch Unterschieden zwischen männlichen und weiblichen Lebenswelten und Handlungsspielräumen insbesondere im Hinblick auf frühere Jahrhunderte gewesen. Teilweise erscheint der Katalog etwas zu stark auf männliche Herrschaftsgeschichte fokussiert. Dieser Eindruck ist deswegen besonders schade, da das Titelbild des Katalogs ein eindrucksvolles Porträt Anna von der Horsts aus dem 16. Jahrhundert ziert und die Beschreibung des Gemäldes in Verbindung mit einem ganz ähnlich gestalteten Porträts ihres Mannes Rutger von der Horst innerhalb des Katalogs selbst davon spricht, dass „beide Porträts zusammen […] den Eindruck eines gleichrangigen Paares [vermitteln].“ (S. 90). Über solche Konstellationen hätte man gerne noch mehr erfahren.

Insgesamt ist es den HerausgeberInnen jedoch gelungen, einen ansprechenden und inhaltlich überzeugenden Ausstellungskatalog zu erstellen. Die besondere Leistung besteht darin, dass hier erstmals eine Überblicksdarstellung über adelige Herrschaft an Rhein und Ruhr vorgelegt wurde, die verschiedenste Facetten adeliger Lebenswelt präsentiert und beschreibt. Trotz aller deutlich werden Heterogenität findet die gewählte Bezeichnung der „Klasse für sich“ in allen Kapiteln Legitimierung und der Katalog zeichnet ein gelungenes Gesamtbild der Adelsherrschaft in der Region. Definitiv lädt er zur tiefergehenden Beschäftigung mit einzelnen Aspekten ein und liefert Impulse für neue Forschungen. Vor allem aber sorgt er für die begründete Hoffnung, dass in Zukunft das Ruhrgebiet nicht mehr nur mit seiner Industriekultur assoziiert wird, sondern sich auch die noch erhaltenen Adelssitze eines größeren Interesses erfreuen. Es gibt in der Region noch viel zu entdecken!

 

Heinrich Theodor Grütter/Magdalena Drexl/Axel Heimsoth/Reinhild Stephan-Maaser (Hrsg.): Eine Klasse für sich. Adel an Rhein und Ruhr, Essen 2021, 380 S.; ISBN: 978-3-8375-2481-9

 

Zitierweise:
Schröder, Christina: Rezension zu “Eine Klasse für sich. Adel an Rhein und Ruhr” , in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 04.04.2022, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2022/04/rezension-ausstellungskatalog-adel-rhein-ruhr-schroeder

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Christina Schröder

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