Man findet ihn in Frankfurt schneller als gedacht, den Westfälischen Friedenskongress. An vielen Verlagsständen in den Messehallen Frankfurts liegen Veröffentlichungen aus, in denen der Gesandtenkongress als historisches Ereignis präsentiert wird. Am Stand der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft steht deutlich platziert die kürzlich erschienene Übersetzung von Peter Wilsons Standardwerk [1] zum Dreißigjährigen Krieg im Regal, bei Rowohlt sieht man Herfried Münklers Konkurrenz-Opus [2]. Bei C.H. Beck lassen sich die Überblicksbändchen von Georg Schmidt [3] und Siegrid Westphal [4] finden und bei Aschendorff wird die Acta Pacis Westphalicae [5] beworben. An vielen Ständen spürt man das Herannahen des 400. Jubiläums des Kriegsbeginns.
Die wohl publikumsreichste Präsentation erfahren Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede aber in einem Buch, das schon vor Messe-Beginn als eines der besten Schlagzeilen gemacht hat: Der pünktlich erschienene Historische Roman „Tyll“, geschrieben vom deutschen Star-Autor Daniel Kehlmann [6].
Fasziniert habe ihn diese Epoche des „Höhepunkts der Religionskriege“, erklärt Kehlmann auf dem Blauen Sofa von ZDF und Deutschlandfunk am Buchmessen-Donnerstag. Wo die Wissenschaft derzeit damit beschäftigt ist, die Aktualität des Dreißigjährigen Krieges und seiner Lösungsprozesse herauszustellen, war es für Kehlmann gerade die Fremdheit der Zeit, die ihn anzog. Das immerwährende Narrativ des Religionskriegs ist auch in seiner Buchvorstellung nicht wegzudenken und die „Rückschrittlichkeit der Gegend“ des heutigen Deutschlands, in dem nur „fahrendes Volk“ fremde Welten erlebe – so hört man vom Blauen Sofa –, mag für den ersten Eindruck allzu geschichtsklischeebehaftet klingen. Religionskrieg? Davon spricht Kehlmann zwar, aber er schreibt nicht davon. Wann immer sein Roman auf Gewalt, Verrohung und Zerstörung, kurz gesagt: Krieg, zu sprechen kommt, ja selbst wenn der vermeintliche Protestantenretter Gustav Adolf seinen Auftritt hat, ist von Religion keine Spur. Das Verständnismodell des Religionskrieges wird in der breiten Vermittlung offenbar aber weiter benötigt.
Eine Königin am Kongress?
Die Handlung umspielt einen im Deutschland des Dreißigjährigen Krieges reisenden Schalk, Tyll Ulenspiegel, der in einem Roman wechselnder Erzählperspektiven gar nicht so sehr Hauptperson sein will, wie es der Tyll-Titel nahelegt. Die anachronistische Verortung des historischen Till Eulenspiegels in ein späteres Jahrhundert versetzt den berühmtesten Narr der Literaturgeschichte in die größte Gewaltkatastrophe der mitteleuropäischen Geschichte. Wie er sich durchzukämpfen weiß, erinnert gleichsam an Simplicissimus wie an Mutter Courage, und doch ist Daniel Kehlmanns Roman etwas ganz Anderes: Er lässt den Leser seinem Tyll nicht chronologisch folgen, sondern – geschichtswissenschaftlich gesprochen – er erzählt die Geschichte akteurzentriert: Tyll wechselt stets die Gesellschaft und mit ihm die Erzählperspektive, ob Winterkönig, Schwedenkönig, Kaiser oder Drachen jagender Jesuitenpater – nicht nur in der Wahl seiner Begleiter erweist sich der Narr als agil.
Den Dreißigjährigen Krieg schöpft Kehlmann literarisch und chronologisch aus. Wenn Elizabeth „Liz“ Stuart, englische Königstochter, die gerne mal an ihren „Papa“ denkt, sich an den Kriegsbeginn und die Schlacht am Weißen Berg erinnert, verwundert es nicht, dass die letzten rund 50 Seiten des Buches mit „Westfalen“ überschrieben sind. Wie der Krieg findet auch das Buch hier seinen Abschluss. Es ist dann eben jene Elizabeth Stuart, ihrem Verständnis nach immer noch Königin von Böhmen und Pfälzer Kurfürstin, die den Kongress in Westfalen aufsucht. Faktisch falsch, in der Folge des Romans jedoch schlüssig, wünscht die eitle Königstochter doch nichts mehr als die Restitution der Würden und Rechte ihres Sohnes und ihres verstorbenen Ehemannes. Am Kongress, genaugenommen in Osnabrück, macht sie all das, was man an diesem Kongress machen konnte: Sie fährt in ihrer repräsentativen Kutsche von Gesandtschaftsquartier zu Gesandtschaftsquartier, stellt Forderungen, will überzeugen und nimmt abends an einem großen Fest teil. Sie verhandelt mit dem kaiserlichen Botschafter Johann von Lamberg, trifft auf den venezianischen Vermittler Alvise Contarini, sieht den französischen Prinzipalgesandten Henri de Longueville, steht bei Axel Oxenstierna und Adler Salvius zwischen zwei sich streitenden Diplomaten und parliert vor dem Menuett noch kurz mit dem kurbrandenburgischen Gesandten Wesenbeck. Die Personenpalette ist breit gestreut und gut recherchiert! Ebenso die Inhalte. Die Pfalzfrage wird zum thematischen Rahmen des Schlusskapitels erhoben – wer sich mit diesem Verhandlungspunkt beschäftigt hat, mag sich ob dieser unerwarteten literarischen Rolle die Augen reiben. Es ist Liz, die forsch vorschlägt, wie man das (sprich: ihr) Problem mit der Schaffung einer achten Kurwürde lösen könnte.
Der Westfälische Friedenskongress im Roman: Personalisierung mal anders
Auf dem Westfälischen Friedenskongress findet man sich selten wieder, wenn man einen historischen Roman liest. Eines der seltenen Beispiele wäre Michael Wilckes Roman „Die Falken Gottes“ [7], indem Königin Christina von Schweden inkognito in Osnabrück auftaucht und in die Fänge einer Verschwörung gerät, die sie ebenso wie den Friedensschluss in Europa bedroht. Bezeichnenderweise schickt auch Wilcke ein historisch tatsächlich mit dem Kongress verbundenes, weibliches gekröntes Haupt nach Westfalen. Diese Verortungen am Kongress sind fiktional und anachronistisch. Ganz ahistorisch sind sie aber nicht, denn auch Abwesende kommunizierten am Kongress und so nahmen auch die schwedische Königin und die exilierte Elisabeth in gewisser Weise am Kongress teil, als Korrespondenzpartnerinnen und Machthaberinnen.
Ihre im Roman platzierte Anwesenheit bestätigt aber vor allem, was der Marburger Historiker Christoph Kampmann vor kurzem auf der Bonner Tagung zum Westfälischen Friedenskongress kommentierte: Das Problem in der außerwissenschaftlichen Vermittlung des Kongresses liege in der fehlenden Möglichkeit zur Personalisierung.
Zu viele beteiligte Personen, zu komplex, zu unüberschaubar? Daniel Kehlmann nutzt – wie schon Wilcke – ein Mittel, das der Roman der Geschichtsdoku im Fernsehen voraushat. Er schafft sich die Personalisierung mit seiner Hauptnebenfigur, der böhmischen Königin Liz, einfach selbst und setzt sie zur falschen Zeit an den falschen Ort. In einem Roman, in dem der Till Eulenspiegel des 14. Jahrhunderts durchs 17. Jahrhundert vagabundiert, stört das aber nicht weiter: „Und ich sterbe auch nicht morgen und an keinem andern Tag. Ich will nicht!“ (S. 424), ruft der Narr.
Trotz (notwendiger) anachronistischer Verortung von historischen Personen ein plausibles Bild vom historischen Rahmen zu vermitteln, ist schwer und gelingt entsprechend unterschiedlich gut. Kehlmann schafft es: Weder überzeichnet er den Kongress, noch vereinfacht er ihn. Er setzt einfach seine Liz in das Geschehen hinein und erzählt nur, was nötig ist, um das Anliegen der böhmischen Königin glaubhaft zu integrieren. Romanze und Kriminalhandlung, die beiden Standbeine (oder Bleifüße?) des Historischen Romans, braucht er nicht, um ein reiches Bild vom Westfälischen Friedenskongress zu zeichnen. Der Kongress ist nicht einfach personen- und konstellationsreicher Hintergrund einer fiktiven Handlung, sondern ist selbst die Handlung. Liz setzt sich dem für drei Kapitel des Romans aus, weil hier die Zukunft ihres eigenen und ihres Sohnes Titels verhandelt wird.
Kehlmann greift nicht inhaltlich in den Kongress ein. Im Gegenteil, bei jedem Gesandten, den sie trifft, lernt die Königin, warum Friedenschließen so schwer ist. Sei es das Assistenzverbot für Spanien, das Contarini ihr vermitteln will (S. 452), der Konflikt innerhalb der schwedischen Gesandtschaft, den sie selbst miterlebt (S. 454–457), die feinfühlig beschriebenen Verhaltensreflexionen gegenüber dem kaiserlichen Botschafter Lamberg (S. 434f) oder ihr inhaltliches Anliegen, die Schaffung einer achten Kurwürde als Kompromiss zwischen Bayern und der Pfalz, – alles hat diplomatiegeschichtliche Stimmigkeit. Wenn der literarische Lamberg meint, „Das hier geht über die Fähigkeiten jedes Menschen weit hinaus. Und dennoch müssen wir es schaffen.“ (S. 443), greift er auf, was Contarini als „Weltwunder“ bezeichnete und die Forschung noch heute bestimmt.
Reichsrecht im Figurenreigen
Auf Kehlmanns Kongress führen Gesandte komplizierte Verhandlungen auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Konstellationen, kein Thema kann vom andern isoliert werden, Sprachen wechseln laufend und Politik findet nicht nur im Empfangszimmer, sondern auch im Ballsaal statt. Parallel zum Frieden schreitet der Krieg voran und setzt jede diplomatische Taktik hinter das Vorzeichen militärischer Imponderabilität. Kommuniziert wird mit dem Vertreter des politischen Gegners kaum verbal, sondern vor allem nonverbal: Wer steht und sitzt wo? Wer spricht was zuerst an? Die Anrede der „Hoheit“ ist nicht gleich der der „Majestät“ oder der „Durchlaucht“ – Liz bemerkt es und mit ihr der Leser.
Auf der Frankfurter Buchmesse erklärt der Autor, dass er sein Buch als „barocken Figurenreigen“ verstehe. In dieser Interpretation muss der Friedenskongress der Höhepunkt des Romans sein, wenn die Gesandten des Abends auf dem „Empfang des Bischofs“ zu den Klängen kaiserlicher Musiker miteinander tanzen oder sich gegenseitig ignorieren. Der Reigen ist vollständig. Hier trifft auch der von Kehlmann nach Osnabrück versetzte französische Protz-Botschafter mal auf seinen kaiserlichen Widersacher, der sonst nicht direkt mit ihm verhandelt. Die Gesandten werden zu Charakteren, die nur kurzzeitig erscheinen, aber dennoch ein literarisches Gesicht erhalten. Contarini stellt sich emblematisch vor: „Ich bin der Vermittler hier. Kommt weiter.“ Seiner Rolle endgültig gerecht wird er mit dem Satz „Die Herren haben beide Recht.“ (S. 454), Doge werden will er auch noch.
Dass es bei Kehlmanns Kongresskapitel um die Pfalzfrage geht, erklärt sich aus seiner Romanfigur Liz. Auch sein Kongress wird personalisiert, jedoch nur in der Ergänzung einer Romanfigur, nicht in der Verstellung des Kongressgeschehens. Denn in der Pfalzfrage schreckt der Roman nicht vor reichsrechtlichen Argumenten und Diskussionen von Amnestie, Erblichkeit der Krone Böhmens oder Kurwürde zurück. Der Leser versteht, welche Relevanz das für Liz einnimmt, auch wenn der Roman an keiner Stelle den Anspruch vertritt, kommentierende Einordnungen zu leisten oder zu erklären, welche Konsequenz es wohl haben würde, das Kurfürstenkolleg zu erweitern. Es geht dem Kapitel nicht um den Kongress und doch vermittelt es ein Bild davon; ein Bild, in dem sich manche wissenschaftliche Lesart des Westfälischen Friedenskongresses wiederfinden kann.
Lange anhaltende Aufmerksamkeit ist Kehlmanns “Tyll” nach der Präsentation in Frankfurt und dem überwältigenden Medienecho sicher: Schon jetzt sind die Regale der Buchhandlungen gefüllt mit Tylls. Die Auflagen- und Verkaufszahl des Romans dabei mit denen der eingangs genannten wissenschaftlichen Werke zu vergleichen, erscheint überflüssig – nicht zuletzt weil auch mit “Tyll” der Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse gedient wird.
[1] Wilson, Peter: Der Dreißigjährige Krieg. Eine europäische Tragödie, Darmstadt 2017.
[2] Münkler, Herfried: Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648, Berlin 2017.
[3] Schmidt, Georg: Der Dreißigjährige Krieg, München 82016 (C.H. Beck Wissen, 2005).
[4] Westphal, Siegrid: Der Westfälische Frieden, München 2015 (C.H. Beck Wissen, 2851).
[5] Acta Pacis Westphalicae, hrsg. v. der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V. durch Max Braubach (†), Konrad Repgen (†) und Maximilian Lanzinner, Münster 1962–2015, 48 Bde.
[6] Kehlmann, Daniel: Tyll, Reinbeck [Rowohlt] 2017.
[7] Wilcke, Michael: Die Falken Gottes, Berlin [Aufbau Verlagsgruppe] ²2008.
Zitierweise
Bechtold, Jonas: “Frankfurter Buchmesse und Westfälischer Friedenskongress. Zur Darstellung des Kongresses in Daniel Kehlmanns „Tyll“”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 18.10.2017, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2017/10/buchmesse-und-westfaelischer-frieden/
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