Spätestens seit den Washingtoner Prinzipien (1998) und der darauf beruhenden „Gemeinsamen Erklärung“ (1999) der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände ist die Identifizierung und auch die Rückgabe von NS-Raubgut zu einer zentralen Aufgabe deutscher Kulturinstitutionen geworden. Seitdem sind in Archiven, Museen und Bibliotheken zahlreiche Forschungsprojekte durchgeführt wurden, in deren Rahmen verdächtige Provenienzen untersucht und gegebenenfalls auch Kulturgüter an die vormaligen Eigentümer oder deren Erben restituiert worden sind. Dabei ist neben dem Kunstraub zunehmend auch der während des Zweiten Weltkriegs praktizierte Kunstschutz in den Brennpunkt gerückt. Vergleichsweise gut erforscht und besonders bekannt sind die alliierten Kunstschutzoffiziere, die „Monuments Men“, zumal deren Tätigkeit 2014 in einem deutsch-amerikanischen Spielfilm auch das Kino ein filmisches Denkmal gesetzt hat. Intensiver untersucht worden ist in den letzten Jahren auch der deutsche Kunstschutz während des Zweiten Weltkriegs. Ein Problem ist dabei allerdings vielfach die Quellenlage. Einschlägige Forschungen stützen sich dabei vielfach auf Erlebnisberichte beteiligter Offiziere und Mitarbeiter, da die amtliche Überlieferung häufig nur sehr fragmentarisch erhalten oder vollständig in Verlust geraten ist. Umso begrüßenswerter ist es, dass jetzt mit dem Nachlass Wolff-Metternich ein bedeutender Bestand aufgearbeitet und zugänglich gemacht worden ist, der auch zahlreiches Aktenmaterial enthält.
Franziskus Graf Wolff Metternich (1893-1978) hatte in Bonn Kunstgeschichte studiert und dort auch 1923 promoviert. 1926 trat er in den Dienst der Rheinischen Provinzialverwaltung, avancierte bereits 1928 zum Provinzialkonservator und war damit für die Kunst- und Denkmalpflege in der Rheinprovinz zuständig. 1933 erhielt er einen Lehrauftrag, 1940 eine Honorarprofessur für Denkmalpflege und rheinische Kunst an der Universität Bonn. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde der Graf wieder zum Heeresdienst eingezogen und im Sommer 1940 als Beauftragter für den Kunstschutz der besetzten Gebiete nach Paris versetzt. Dort geriet er schnell in Konflikt mit den Personen und Institutionen, die systematisch Kunstraub in den besetzten Gebieten betrieben, etwa mit Hermann Göring oder dem Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg. Im Juni 1942 wurde Graf Wolff Metternich beurlaubt, im Oktober des Folgejahres entlassen und nahm daraufhin seine Tätigkeit im Rheinland wieder auf. Nach dem Krieg wurde er aufgrund seines großen Ansehens schnell entlastet und konnte seine Tätigkeit als Konservator bald wiederaufnehmen. 1953 wurde er zum Direktor der Bibliotheca Hertziana in Rom ernannt und wirkte dort bis zu seiner Pensionierung 1962. 1964 wurde ihm in Frankreich aufgrund seiner Verdienste um den Kunstschutz die Ehrenlegion verliehen. 1968 kehrte er nach Deutschland zurück und starb dort 1978.
Bei seinem Tod hinterließ er einen umfangreichen Nachlass, in den neben seinen persönlichen Unterlagen auch amtliche Akten des Kunstschutzes aufgenommen worden waren. Dieser Bestand verblieb nach dem Tod des Grafen in Familienbesitz. 2013 wurde er als Depositum an die Vereinigten Adelsarchive im Rheinland übergeben und bis 2016 durch das Archiv- und Fortbildungszentrum des Landschaftsverbandes Rheinland erschlossen. Ab 2016 wurde mit finanzieller Unterstützung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste ein sachthematisches Inventar erstellt. Dieses enthält sowohl den Nachlass Wolff Metternich mit ca. 500 Verzeichniseinheiten als auch ergänzende Quellen in deutschen und ausländischen Archiven. Das Inventar ist als Datenbank (https://kunstschutz-wolff-metternich.de/) frei zugänglich. Nach Erstellung der Datenbank erschien eine mit nicht ganz 700 S. sehr umfangeiche gedruckte Publikation zum Sachinventar, herausgegeben von Esther Rahel Heyer, Florenz de Peyronnet-Dryden und Hans-Werner Langbrandtner. Im Folgenden soll dieser Sammelband vorgestellt werden. Aufgrund des beträchtlichen Umfangs von knapp 700 Seiten werden aber nicht alle Artikel einzeln erläutert. Die Zusammenfassung beschränkt sich stattdessen auf die großen Schwerpunkte und die besonders relevanten Beiträge.
Der Band beginnt mit verschiedenen Geleit- und Grußworten. Dann folgen zwei einleitende Teile. Die „Einführung zum Sachinventar“ enthält Beiträge von Esther Rahel Heyer zur Geschichte und Aufarbeitung des Bestandes und von Florence de Peyronnet-Dryden zur digitalen und analogen Nutzung des Sachinventars. Es folgt die „Einleitung: Ein fiktiver Gesamtbestand zum militärischen Kunstschutz“. Dieser Abschnitt besteht aus einem Artikel von Esther Rahel Heyer „Als künstlerische wertvoll unter militärischem Schutz“ (S. 45-89), indem sie in die aktuelle Forschungslage einführt, den Quellenbestand darlegt und auf aktuelle Forschungsprojekte hinweist. Dass dieser deutschsprachige Beitrag dann nachfolgend noch einmal in englischer und französischer Übersetzung vorliegt, verweist auf den Anspruch, der mit dem vorliegenden Sammelband verknüpft ist. Er ist ganz eindeutig auch für ein internationales Publikum verfasst worden.
Der nächste größere Abschnitt trägt den Titel „Handbuch: Archive und Bestände“ (S. 171-215). Er enthält mehrere Beiträge zu Archiv- und Quellenbeständen in deutschen und ausländischen Einrichtungen. Zentral ist die von Florence de Peyronnet-Dryden und Esther Rahel Heyer erstellte Übersicht über „Archive und Bestände mit Überlieferungen zum militärischen Kunstschutz“.
Mit „Forschungsansätze: Quellenüberlieferung und Exkurse“ (S. 217-552) beginnt anschließend der Hauptteil des Sammelbandes. Er ist in fünf Themenschwerpunkte untergliedert, zu denen jeweils mehrere Beiträge vorliegen. Der erste Schwerpunkt befasst sich mit dem „Netzwerk Kunstschutz“ (S. 219-273). Es geht dabei anhand des Sachinventars um die Rekonstruktion der Beziehungen zwischen Personen und Institutionen, die im Kunstschutz eine besondere Rolle spielten. Bemerkenswert ist bei dabei bei vielen der rheinische Hintergrund (Universität Bonn, rheinische Provinzialverwaltung, rheinische Museen). Esther Rahel Heyer stellt zunächst „Forschungsansätze: Akteure, Netzwerke und Ansätze“ vor, dann folgen zwei Artikel, die „Kurzbeschreibungen von Institutionen und Organisationseinheiten in Verbindung mit dem Kunstschutz“ sowie „Kurzbiografien von Akteuren des Kunstschutzes und dessen Umfeld“, also Institutionen und Personen thematisieren. Beide Artikel sind gemeinsam von Florence de Peyronnet-Dryden und Hans-Werner Langbrandtner verfasst worden.
Der zweite Themenschwerpunkt befasst sich mit „Frankreich: Kunstschutz und Kunstraub“ (S. 275-359) und enthält insgesamt vier Aufsätze. Gleich zwei Beiträge befassen sich mit dem Kunsthistoriker Hermann Bunjes (1911-1945): Kataryna Kostiuchenko: Zwischen Kunstschutz und Kunstraub. Zum Inhalt der sogenannten „Geheimakte Bunjes“ (NL FGWM, Nr. 187); Julia Schmidt: Das „Netzwerk Hermann Bunjes“. Ein Kunsthistoriker zwischen Kunstmarkt, Kunstschutz, Musee, der Kunsthistorischen Forschungsstätte Paris und dem Kunsthandel (S.). Hermann Bunjes war eine besonders interessante Persönlichkeit an der Schnittstelle zwischen Kunstschutz einerseits und Kunstraub andererseits. Der promovierte Kunsthistoriker, 1940 in Bonn habilitiert und Dozent am dortigen Kunsthistorischen Institut bis zum WS 1944/45, war ab 1940 zunächst Leiter der deutschen Kulturabteilung der deutschen Militärverwaltung in Paris, ab 1942 Leiter der von Alfred Stange gegründeten Kunsthistorischen Forschungsstätte in Paris und zugleich auch für den Einsatzstab Reichsminister Rosenberg tätig und damit direkt in den Kunstraub involviert. Im Juli 1945 beging er nach seiner Inhaftierung durch die französische Besatzungsmacht Selbstmord.
„Akteure und Kooperationen“ (S. 361-434) ist der dritte Themenschwerpunkt mit weiteren vier Artikeln. Dabei zeigt Heidi Gansohr „Kunst aus Paris für das Rheinische Landesmuseum Bonn“, wie das Museum mit Unterstützung des Rheinischen Provinzialverbandes in Paris günstig Gemälde, Handschriften und weiteren Objekte für den eigenen Bestand erwarb. Nach dem Krieg musste das Museum 80 Kulturobjekte restituieren, von denen allein 58 in Paris erworben wurden. Etwas ratlos lässt einen der Artikel von Susanne Haendschke, Eduard Neuffer und das Referat „Vorgeschichte und Archäologie“ des militärischen Kunstschutzes in Paris (1940-1942)“, zurück. Der Klassische Archäologe Eduard Neuffer, seit 1931 wissenschaftlicher Hilfsarbeiter am Rheinischen Landesmuseum Bonn, war von Dezember 1940 bis Juli 1942 in Paris Leiter des Referats „Vorgeschichte und Archäologie“. Neuffer galt als entschiedener Gegner des Nationalsozialismus, war aber nach seiner erneuten Einberufung ab September 1944 Wachmann in einem Außenlager des Konzentrationslager Auschwitz. Haendschke kommt deshalb zu einer plausiblen Wertung: „Die Ambivalenz dieses Verhaltens, verbunden mit fehlenden oder zu wenig eindeutigen Quellen, erschwert eine Einschätzung und lässt seine Aktivitäten weiterhin wenig greifbar und seltsam widersprüchlich erscheinen“ (S. 390).
Der vierte Abschnitt befasst sich mit dem Themenschwerpunkt „Rheinland“ (S. 435-501). Wichtig ist hier der Beitrag von Annika Flamm, “Kunstschutz im Kriege. Bergungsorte der Rheinprovinz”, die anhand der Akten der Brauweiler Archiv- und Beratungsstelle aufgelistet werden. Die Aufstellung beschränkt sich aber auf die Bergung von Archivgut und Kunstwerken, Bibliotheksgut spielt keine Rolle.
Der letzte Schwerpunkt hat die „Nachkriegszeit“ (S. 503-552) mit drei Aufsätze zum Thema, wobei in gleich zwei Artikeln der amerikanische Kunstschutz und die Monuments Men behandelt werden. Daran führte offensichtlich kein Weg vorbei. Interessant ist aber vor allem der dritte Beitrag von Emily Löffler, “Die Motive, die uns leiten, waren auch in diesem Fall rein wissenschaftliche”. Während des zweiten Weltkrieges hatte das Fotoarchiv Marburg zunächst in Zusammenarbeit mit dem Kunstschutz des OKH, dann mit der Kunsthistorischen Forschungsstätte Paris über 22.000 Aufnahmen von französischen Kunstwerken und –denkmälern erstellt. Nach dem Krieg unternahmen französische Kunstschutzoffiziere wiederholte Anstrengungen, den Fotoplattenbestand nach Frankreich zurückzuholen, blieben aber letztlich erfolglos. Der Beitrag gibt einen interessanten Einblick in die rechtlichen Diskussionen und die interalliierten Verhandlungen der Nachkriegszeit.
Den Abschluss der Arbeit stellt ein mehr als hundertseitiger Anhang (S. 553-681) dar. Er enthält u.a. eine Synopse der Taschenkalender Wolff-Metternichs sowie von Tieschowitz und Bunjes, Gespräche mit den Angehörigen ehemaliger Kunstschutzmitarbeiter sowie eine umfangreiche Auswahlbibliografie. Ein Abbildungsverzeichnis und ein Autorenverzeichnis schließen den Band ab.
Die Inhaltsübersicht verdeutlicht, dass der vorliegende Sammelband deutlich mehr umfasst als nur eine Einführung in eine Online-Datenbank. Aufgrund seiner vielen interessanten und vielfältigen Beiträge und Verzeichnisse ist er eher als Standardwerk der aktuellen Forschung zum deutschen Kunstschutz während des Zweiten Weltkriegs zu begreifen und wird von daher sicher in vielen nachfolgenden Publikationen referenziert werden. Dabei bleiben noch viele Fragen offen bzw. es werden mögliche Forschungsansätze aufgezeigt. Dies betrifft insbesondere die Biographien der Mitarbeiter des militärischen Kunstschutzes, ihre Einstellung zum NS-Staat und überhaupt das ambivalente Verhältnis von Kunstschutz und Kunstraub in der Zeit der deutschen Besatzung in Frankreich 1940-1944. Aus rheinischer Sicht sind die personellen und institutionellen Verflechtungen des militärischen Kunstschutzes in Frankreich mit dem Rheinland, insbesondere Bonn, von besonderem Interesse, die sich in vielen Aufsätzen dieses Bandes spiegeln. Insofern stellt der vorliegende Band auch eine wichtige Publikation zur rheinischen Landesgeschichte dar.
Esther Rahel Heyer, Florence de Peyronnet-Dryden, Hans-Werner Langbrandtner (Hg.), „Als künstlerisch wertvoll unter militärischem Schutz“. Ein archivisches Sachinventar zum militärischen Kunstschutz im Zweiten Weltkrieg. Wien-Köln : Böhlau, 2022– 681 S. ; Ill.; 23,5 cm. (Brüche und Kontinuitäten. Forschungen zu Kunst und Kunstgeschichte im Nationalsozialismus ; 4); 59 €; ISBN: 978-3-412-51997-1.
Zitierweise:
Michael Herkenhoff: Rezension zu “Esther Rahel Heyer, Florence de Peyronnet-Dryden, Hans-Werner Langbrandtner (Hg.), „Als künstlerisch wertvoll unter militärischem Schutz“. Ein archivisches Sachinventar zum militärischen Kunstschutz im Zweiten Weltkrieg”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 13.02.2025, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2025/02/rezension-sachinventar-kunstschutz-herkenhoff
- „Als künstlerisch wertvoll unter militärischem Schutz“. Ein archivisches Sachinventar zum militärischen Kunstschutz im Zweiten Weltkrieg Hrsg. von Esther Rahel Heyer, Florence de Peyronnet-Dryden und Hans-Werner Langbrandtner - 13. Februar 2025
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