Polykratie in actu Macht und Herrschaft(en) in den ,Kleinen‘ und ,Großen Welten‘ des Kurfürstentums Köln in wittelsbachischer Zeit

Das Kurfürstentum Köln stellt für das Thema ,Kleine und Große Welten‘ ein besonders interessantes Untersuchungsfeld dar, da die kurkölnischen Herrschaftsstrukturen ein komplexes Geflecht aus zahlreichen sich überlagernden Ebenen mit unterschiedlichsten mit-, neben- oder gegeneinander agierenden Personen beziehungsweise Personengruppen bildeten. Der folgende Aufriss soll einen ersten Einblick in dieses Forschungsfeld ermöglichen.[1]

 

1. Das Kurfürstentum Köln in wittelsbachischer Zeit: Ein ,composite state‘ par excellence

Das in territorialer Hinsicht ausgesprochen heterogene Kurfürstentum Köln war aus drei Bestandteilen zusammengesetzt. Kerngebiet war das lang gestreckte und vorwiegend linksrheinisch situierte Rheinische Erzstift. Den zweiten großen territorialen Komplex bildete das demgegenüber kompaktere Herzogtum Westfalen mit Arnsberg als Zentrum. Das dritte und kleinste der kurkölnischen Gebiete war das Vest Recklinghausen, das als Exklave weder mit dem Rheinischen Erzstift noch mit dem Herzogtum Westfalen eine territoriale Verbindung aufwies. Wir haben es also im Falle Kurkölns nicht mit einem flächenmäßig homogenen Herrschaftsbereich zu tun, sondern vielmehr mit einem nicht arrondierten Territorienkonglomerat. Hinzu kam noch die wichtige Tatsache, dass die Kölner Erzbischöfe bzw. Kurfürsten stets in Personalunion über weitere Territorien herrschten. Kurfürst Clemens August sei hier als besonders markantes Beispiel angeführt. Der Wittelsbacher war nicht nur Kurfürst und Erzbischof von Köln, sondern darüber hinaus Fürstbischof von Hildesheim, Münster, Osnabrück, Paderborn und – last but not least – auch Hochmeister des Deutschen Ordens. Die Zeitgenossen haben ihn aufgrund dieser Herrschaftskumulation spöttisch „Monsieur de Cinq-Églises“ genannt, also „Herr von Fünfkirchen“. Aber auch seine wittelsbachischen Vorgänger und auch seine beiden Nachfolger waren nicht ,nur‘ Kurfürsten bzw. Erzbischöfe von Köln, sondern stets auch Fürstbischöfe, Fürstäbte und Fürstpröpste in anderen geistlichen Territorien des Heiligen Römischen Reiches. Clemens August ist aber zweifellos das bekannteste Beispiel in diesem Zusammenhang.

In der neueren Frühneuzeitforschung werden solche ,zusammengesetzten‘ Staatswesen wie das Kurfürstentum Köln ,composite states‘ oder ,composite monarchies‘ genannt. Das hat folgenden Hintergrund: Die in Entstehung begriffenen frühneuzeitlichen ,Staaten‘ waren in aller Regel keine zusammenhängenden Flächenstaaten neuzeitlichen Stils. Die Frühe Neuzeit war vielmehr davon geprägt, dass sich Staatswesen bildeten, die sich aus zwei oder mehreren Territorien zusammensetzten, die in politischer und rechtlicher Hinsicht ursprünglich voneinander separiert waren und letztlich nur durch die Person des Herrschers verklammert waren. Solche territorialen Agglomerationen waren – trotz der herrscherlichen Personalunion – zudem zumeist wirtschaftlich und nicht zuletzt auch kulturell ausgesprochen heterogen. Sie unterschieden sich in fundamentaler Weise vom Nationalstaat neuzeitlicher Prägung, der durch die ,klassische‘ Trias von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt (mit Souveränität nach innen und außen) gekennzeichnet wird.In einigen Fällen, wie zum Beispiel im Kurfürstentum Köln, war der Herrschaftsraum dieser disparaten territorialen Konglomerate in geographischer Hinsicht unverbunden. Aber es existierten auch ,composite states‘, deren einzelne Bestandteile gemeinsame Grenzen aufwiesen. Das schwedische Reich, Polen-Litauen, das Vereinigte Königreich und Savoyen-Piemont sind hier beispielhaft zu nennen. Dass das Kurfürstentum Köln einen so interessanten Forschungsgegenstand für das Thema ,Kleine und Große Welten‘ darstellt, hängt mit dem ,zusammengesetzten‘ Charakter des Herrschaftsbereichs der Kölner Kurfürsten und den damit einhergehenden strukturellen Herrschaftsverflechtungen und -konkurrenzen zusammen, die immer wieder Konfliktpotenzial zutage förderten. Insgesamt sieben Aspekte seien hier besonders hervorgehoben.

Erstens: Die Herrschaftsstruktur des kurkölnischen ,Triplestaates‘ war gerade deshalb vergleichsweise komplex, da Kurköln zu den geistlichen Territorien des Alten Reiches zählte. Das heißt: Die Erzbischöfe bzw. Kurfürsten von Köln waren sowohl geistliche als auch weltliche Herrscher, wobei es stets zu beachten gilt, dass die von ihnen regierten (geistlichen) Amtsbezirke und (weltlichen) Gebiete keineswegs deckungsgleich waren.

Zweitens: Die Kölner Erzbischöfe herrschten als geistliche Oberhirten auch in Territorien, in denen sie nicht als weltliche Herrscher regierten. Das betraf insbesondere die benachbarten Vereinigten Herzogtümer am Niederrhein. Diese waren im Jülich-Klevischen Erbfolgestreit zu Beginn des 17. Jahrhunderts geteilt worden und an Pfalz-Neuburg und Kurbrandenburg gelangt. Sie zählten aber in geistlicher Hinsicht nach wie vor zum Kölner Erzbistum. Das sorgte lange Zeit für Streitigkeiten.

Drittens: In der konkreten Herrschaftspraxis brachte die charakteristische Doppelung von geistlicher und weltlicher Herrschaft Probleme mit sich. Insbesondere in Fragen der Jurisdiktion ergaben sich immer wieder konkurrierende Ansprüche zwischen geistlichen und weltlichen Instanzen. Besonders zu erwähnen sind die Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Hofrat, der zentralen weltlichen Behörde, einerseits und den obersten geistlichen Autoritäten unterhalb des Erzbischofs, nämlich dem Generalvikar und dem Offizial, andererseits. Die Forschung spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer „Permanenz von Kompetenzkonflikten“.[2]

Viertens: Aber auch in Fragen der geistlichen Herrschaft kam es aufgrund unklarer Abgrenzungen von Kompetenzen immer wieder zu Konflikten. Das bekannteste Beispiel ist das beharrliche Ringen zwischen den Erzbischöfen und den Archidiakonen, welche sich den Avancen der erzbischöflichen Zentrale immer wieder entgegenstellten, etwa wenn es um die Komptenzabgrenzungen zu den Generalvikaren ging. Die Erzbischöfe vertraten hierbei den Standpunkt, die Archidiakone agierten lediglich als „oculi episcopi“, also als Augen des Bischofs; die archidiakonale Gewalt sei letztlich von der erzbischöflichen Gewalt abgeleitet. Ein ähnliches Kompetenzgerangel wie im geistlichen Bereich ergab sich auch zwischen den weltlichen Behörden im Erzstift, insbesondere zwischen Hofrat und Hofkammer. Dies war ebenfalls ein ständiger Unruheherd.

Fünftens: Das Kurfürstentum Köln wuchs nie zu einem homogenen, auf eine Zentrale hin ausgerichteten Territorialstaat zusammen, sondern es blieb stets durch die spannungsreichen Beziehungen zwischen ,Kleinen‘ und ,Großen Welten‘ geprägt, bei denen in der Herrschaftspraxis Mittlerpersönlichkeiten (Broker) von großer Bedeutung waren (z.B. lokale Amtsträger und Statthalter). Die einzelnen Bestandteile des kurkölnischen ,composite state‘ bewahrten insgesamt gesehen ihre regionalen Eigenheiten. Am markantesten zeigen dies die Konflikte mit dem Herzogtum Westfalen, dessen Eliten und Behörden sich traditionell sträubten, wenn vonseiten der Bonner Zentrale in die regionalen Vorrechte und Interessen eingegriffen wurde.

Sechstens: Ein weiterer interessanter Forschungsgegenstand ist das Phänomen der Herrschaftsdelegation an Statthalter, das Philipp Gatzen derzeit für die Regierungszeit Clemens Augusts bearbeitet.[3] Gerade aufgrund der territorialen Streulage ihres Herrschaftsraums entschieden sich die Herrscher frühneuzeitlicher ,composite states‘ oftmals, Statthalter einzusetzen. Hintergrund war, dass die Regierungspraxis von Mehrfachherrschern nicht mehr auf einer dauerhaften Anwesenheit des Landesherrn ,in persona‘ vor Ort in den einzelnen Landesteilen basierte. Vielmehr waren viele ,composite states‘ durch das Prinzip der Delegation von Herrschaft geprägt, wobei der Statthalter den Landesherrn gewissermaßen als ,Alter Ego‘ repräsentierte.

Die Erforschung statthalterlicher Praktiken weist für das Thema ,Kleine und Große Welten‘ viel Potenzial auf. Zum einen erlauben es derartige Arbeiten, die bislang nur punktuell und in Ansätzen untersuchten personalen Verflechtungen und Netzwerke der kurkölnischen Führungsgruppen und maßgeblichen Amtsträger im Spannungsfeld von kurfürstlicher Zentrale und lokalen Eliten zu erkennen. Über die Klientel- und Patronagestrukturen und die damit einhergehenden Formen der Abhängigkeiten in Kurköln wissen wir bislang viel zu wenig. Zum anderen wird mit der Erforschung der kurkölnischen Statthalter ein konkreter Beitrag zu den Bestrebungen der neueren Forschung geleistet, Herrschaft als soziale Praxis und komplexen Aushandlungs- bzw. Kommunikationsprozess zu charakterisieren, der durch ständige Machtkompromisse zwischen dem Kurfürsten, seinen Räten und den lokalen bzw. regionalen Eliten geprägt war und bei dem es insbesondere Mittlerinstanzen wie die Statthalter zu berücksichtigen gilt, die oftmals sowohl in den ,Kleinen‘ als auch in den ,Großen Welten‘ verankert waren.

Siebtens: Eng damit verbunden ist die Frage der Integration. Hier stoßen wir auf eine Besonderheit geistlicher Staatlichkeit, die es unbedingt zu beachten gilt. Die Herrschaftsnachfolge in den geistlichen ,Staaten‘ des Heiligen Römischen Reiches unterschied sich in fundamentaler Weise von den Nachfolgeregelungen in weltlichen Erbmonarchien. Wie alle anderen geistlichen Landesherren auch wurde der Erzbischof von Köln vom Kölner Domkapitel gewählt und durch entsprechende Wahlkapitulationen in seinem politischen Handlungsspielraum eingeengt. Dynastische Kontinuität, ein wichtiger Faktor im Hinblick auf die Integration der unterschiedlichen Glieder weltlicher Mehrfachherrschaften und für die Herausbildung einer transterritorialen Identität, war somit zwar – wenngleich eingeschränkt – möglich, aber aufgrund des Wahlcharakters der geistlichen Reichsstände höchst fragil und keinesfalls die Regel. Daran änderte im Falle des Kurfürstentums Köln auch die Tatsache nichts, dass das Kölner Domkapitel über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder einen Wittelsbacher wählte. Das Tridentinum wollte eigentlich Pfründenkumulationen wie im Falle der Kölner Kurfürsten verhindern. Verschiedene Landesteile in integrativ-zentralisierender Weise zu einer engeren Einheit zusammenzuführen, galt für einen geistlichen Reichsfürsten vor diesem kirchenrechtlichen Hintergrund jedenfalls als unstatthaft.

Zudem stellt sich die Frage, ob und inwiefern der Gedanke, aus den unterschiedlichen Teilterritorien mehr als nur eine formale Addition unterschiedlicher, in Personalunion verbundener Herrschaften zu formen, überhaupt den Denkrahmen und Intentionen der zeitgenössischen Akteure entsprach oder ob das nicht zu modern gedacht ist. Zwar gab es durchaus Bestrebungen von landesherrlicher Seite, existierende pluralistische Strukturen zu begradigen. Dies betraf etwa die Formierung und Kompetenzausstattung der zentralen Behörden, die für alle drei Bestandteile des kurkölnischen ,Triplestaates‘ zuständig sein sollten. Auch gab es insbesondere im 18. Jahrhundert erste Ansätze einer transterritorialen Wirtschaftspolitik, die sich beispielsweise auf den Außenhandel und die Verbesserung der Verkehrswege richtete. Dies änderte aber nichts daran, dass das Kurfürstentum Köln bis zum Ende des Alten Reiches hinein ein Staatswesen blieb, das nicht durch Zentralismus und Homogenität geprägt war, sondern dessen Herrschaftsstrukturen vielmehr ein charakteristisches Amalgam aus Pluralität, Regionalität und Heterogenität aufwies.

 

2. Wer regierte die ,Kleinen‘ und ,Großen Welten‘ des kurkölnischen ,composite state‘?

Als Landesherr verfügte der Kurfürst von Köln über die Landeshoheit, also zum Beispiel über die unbeschränkte Gerichtshoheit, und er besaß seit 1648 unter anderem auch das Recht, mit auswärtigen Mächten Bündnisse zu schließen und eigene Truppen zu unterhalten. Allerdings war die Landesherrschaft des Kurfürsten wesentlich eingeschränkt durch die Landstände, und zwar in außergewöhnlich deutlicher Art und Weise. Die Landstände mussten in allen wichtigen Regierungs- und Verwaltungsangelegenheiten hinzugezogen werden, das heißt der Kurfürst konnte nicht in ,absolutistischer‘ Manier herrschen. Vielmehr war er stets auf die Kooperation der Landstände angewiesen und auf deren Konsens.

Festgelegt waren die Rechte der Stände des Rheinischen Erzstifts und des Vests Recklinghausen in der sogenannten Erblandesvereinigung von 1463.[4] Für das Herzogtum Westfalen wurde bezeichnenderweise eine eigene Erblandesvereinigung abgeschlossen. Alle wichtigeren politischen, finanziellen und militärischen Maßnahmen waren fortan an die Zustimmung der Landstände gebunden. So durfte der Herrscher ohne Einwilligung der Landstände keine Steuern erheben oder Kriege beginnen. Diese im 16. Jahrhundert erneuerten Erblandesvereinigungen kamen einer Landesverfassung gleich. Bis zum Ende des Kurstaates wurden sie von allen Kurfürsten bestätigt. Im Rheinischen Erzstift bildeten sich – anders als in vielen anderen deutschen Territorien – vier Stände bzw. Landtagskurien heraus: Das Domkapitel, die Grafen, die Ritter und die Städte. Das Domkapitel war eindeutig der wichtigste Landstand. Seine politische Bedeutung war so groß, dass man mit guten Gründen von Mitregenten gesprochen hat.

Auch hier muss man sich wiederum die Komplexität der Herrschaftsstrukturen vor Augen führen: Das Rheinische Erzstift, das Herzogtum Westfalen und das Vest Recklinghausen wiesen allesamt eigene Landstände auf. Die Interessen der jeweiligen Stände in den drei Teilen des kurkölnischen ,Triplestaates‘ waren nie vorrangig im Sinne einer wie auch immer gearteten gesamtstaatlichen Orientierung ausgerichtet, sondern stets an den je eigenen lokalen und regionalen Interessen. Ähnliches gilt – und zwar wohl in noch stärkeren Maße – für die übrigen Territorien, über die die Kölner Kurfürsten in Personalunion als Fürstbischöfe, Fürstäbte oder Fürstpröpste regierten. Auch dort mussten die Kurfürsten und die Bonner Zentralbehörden stets darauf bedacht sein, sich mit den Führungsschichten vor Ort zu arrangieren und die regionalen Rechte zu respektieren; andernfalls stießen sie auf Widerstand. Die Vorstellung, die Kurfürsten von Köln hätten in zentralistisch-,absolutistischer‘ Art und Weise von der Residenzstadt Bonn aus in die Regionen hineinregiert, geht jedenfalls an den Realitäten der Frühen Neuzeit vorbei. Die regionalen Führungsschichten wahrten ihre Vorrechte bis ans Ende des Kurstaates in napoleonischer Zeit.

Ein weiterer Sachverhalt kommt zu dem skizzierten verfassungsrechtlich verankerten Kondominat des Kölner Domkapitels hinzu. Die Kurfürsten von Köln in wittelsbachischer Zeit sind – bis auf eine Ausnahme – allesamt als ,schwache‘ Herrscher einzustufen. Ihnen fehlte entweder das politische Format oder die persönlichen Ambitionen und in einigen Fällen vermutlich sogar das Interesse, den vielfältigen alltäglichen Regierungsanforderungen tatsächlich nachzukommen. Bei Ernst von Bayern war es unter anderem sein sehr weltlicher Lebenswandel, der dazu Anlass gab, ihn ins politische Abseits zu stellen. Kurfürst Maximilian Heinrich zog sich im Verlauf des Holländischen Krieges fast ein Jahrzehnt lang nach Köln zurück, um sich dort unter anderem alchemistischen Studien zu widmen. Sein Nachfolger Joseph Clemens wäre viel lieber ein Militär geworden und musste im Verlauf des Spanischen Erbfolgekrieges ins Exil, sodass er ebenfalls über längere Zeit nicht vor Ort in seiner Residenzstadt anwesend war. Und Clemens August wurde wiederholt durch persönliche Krisen stark in Mitleidenschaft gezogen, was damit einherging, dass er wechselnden Persönlichkeiten in seinem engeren Umfeld seine Gunst entgegenbrachte. Eine Ausnahme bildet Kurfürst Ferdinand, dessen lange Regierungszeit von 1612 bis 1650 allerdings vor allem dadurch in Erinnerung geblieben ist, dass er durch die Etablierung zweckmäßiger Regierungs- und Verwaltungsstrukturen entscheidend dazu beigetragen hat, dass im Kurfürstentum Köln als Hexen diffamierte Personen besonders effizient verfolgt wurden.

Angesichts der zu konstatierenden fehlenden Regierungsbereitschaft bzw. mangelnder Fähigkeiten der Kurfürsten verwundert es nicht, dass in Kurköln seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts der Sozialtypus des höfischen Favoriten besondere Konjunktur hatte. Politisch bedeutende Persönlichkeiten wie zum Beispiel die französischen Kardinalpremiers Richelieu und Mazarin, aber auch weibliche Favoritinnen und Mätressen konnten auf die politische Entscheidungsfindung großen Einfluss nehmen, da sie in der besonderen Gunst des Monarchen bzw. der Monarchin standen und zumeist über Immediatzugang zum Herrscher bzw. zur Herrscherin verfügten, sodass ihnen oftmals eine Brokerfunktion zukam, die sie auch und gerade zu eigenen Gunsten nutzen konnten.

Eine solche Favoritenstellung war allerdings stets ein zweischneidiges Schwert: Einerseits vermochten es die Favoritinnen und Favoriten von ihrer herrschernahen Position sozial und finanziell zu profitieren, und zwar mehr als jede andere Person am Hof. Andererseits bestand aber das große Risiko des persönlichen Scheiterns. Viele Favoritinnen und Favoriten wurden in der Tat gestürzt, was zumeist darauf zurückging, dass der Herrscher bzw. die Herrscherin starb oder ihnen die Gunst entzog. Denn genau dies, das herrscherliche Wohlwollen, war die eigentliche Grundlage ihrer Machtstellung. Verloren sie die herrscherliche Gunst, dann war auch die herausgehobene Stellung des Favoriten bzw. der Favoritin nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Die bisherige Forschung zur kurkölnischen Geschichte der zweiten Hälfte des 17. und des 18. Jahrhunderts hat betont, dass die Politik des Kurfürstentums in diesem Zeitraum entscheidend von der Existenz solcher leitenden Amtsträger und Favoriten bestimmt war. In bewusster Zuspitzung könnte man sogar die These aufstellen, dass die kurkölnischen Ersten Minister die Politik des Bonner Hofes insgesamt gesehen deutlich mehr geprägt und bestimmt haben als die nominellen Herrscher selbst. So lässt sich von der Regierungszeit Kurfürst Maximilian Heinrichs bis ans Ende der Regierungszeit Kurfürst Maximilian Friedrichs eine nahezu lückenlose Kette von Favoriten rekonstruieren, die zu beherrschenden politischen Persönlichkeiten am kurkölnischen Hof avancierten. Erst der letzte Kölner Kurfürst, Maximilian Franz von Österreich, hat das politische Ruder wieder selbst in die Hand genommen und ohne Favoriten regiert. Dass überhaupt immer wieder einzelne Persönlichkeiten in eine dominierende Rolle innerhalb der kurkölnischen Politik rücken konnten, hing zweifellos damit zusammen, dass die Herrscher selbst politische Dilettanten im neutralen Sinne des Wortes waren, die unbedingt politischer Mentoren bedurften. Zum Teil brachten die Kurfürsten aber auch, wie bereits erwähnt, nicht das nötige Engagement auf, um sich mit den Details der Regierung angemessen zu befassen. Genau dazu dienten ihnen die Favoriten, die man daher mit Fug und Recht als „der zweite Mann im Staat“[5] bezeichnen kann.

So wurden die maßgeblichen politischen Entscheidungen in wittelsbachischer Zeit bezeichnenderweise nicht etwa im Geheimen Rat oder später dann der Geheimen Staatskonferenz gefällt, sondern von den jeweiligen kurfürstlichen Favoriten. Sie leiteten sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik und waren letztlich nur dem Herrscher selbst verantwortlich. Sie fällten ihre politischen Entscheidungen in der Regel unabhängig von den obersten Regierungsbehörden und nicht zuletzt auch unabhängig von den Landständen.

Die Beantwortung der Frage „Wer regierte eigentlich die ,Kleinen‘ und ,Großen Welten‘ des kurkönischen ,composite state‘?“ erfordert es, noch eine weitere Akteursgruppe bzw. Herrschaftsform in den Blick zu nehmen, die bislang noch nicht erwähnt wurden, nämlich die sogenannten Unterherrschaften. Die Unterherrschaften waren „eine die Jahrhunderte bis zum Ende des Ancien Régime überdauernde, institutionalisierte […] Erscheinungsform von Kleinstherrschaften in den Händen von Adel und (seltener) Kirche“[6]. Diese Unterherrschaften stellen ein spätmittelalterliches und frühneuzeitliches Herrschaftsphänomen des rheinisch-westfälischen Raums dar, das bislang noch nicht hinreichend erforscht wurde, das aber großes Potenzial für diejenigen Forschungsfragen zum Thema ,Kleine und Große Welten‘ bereithält, die sich mit der unteren Herrschaftsebene und den reziproken Einflüssen von diesbezüglichen ,Top-down‘- und ,Bottom-up‘-Prozessen beschäftigen.

Worum handelte es sich bei den Unterherrschaften? „Eine Unterherrschaft […] war ein quasi-autonomer Bezirk, in dem der Unterherr unbestritten die volle Straf- und Zivilgerichtsbarkeit ausübte, über die Polizeigewalt (Gebot und Verbot) verfügte, von seinen Hintersassen Steuern und Dienste verlangen konnte und noch weitere Kompetenzen (Regalrechte, Judengeleit, Kirchenhoheit) zumindest beanspruchte. Insofern war er in seiner Herrschaft ex definitione Landesherr im hergebrachten Sinne und wurde gelegentlich auch so bezeichnet […].“[7]

Die vorliegenden Zahlen für das Kurfürstentum Köln schwanken. Auszugehen ist für das 18. Jahrhundert von ca. 80 und für die nordrheinischen Territorien insgesamt von ca. 180 Unterherrschaften. Aus landesherrlicher Sicht wurde die Verwaltung durch die zahlreichen Unterherrschaften insgesamt gesehen erschwert, da es oftmals zu Konflikten kam. Solche Auseinandersetzungen resultierten typischerweise aus kurfürstlichen Versuchen, in die tatsächlichen oder vermeintlichen Rechte der Unterherren einzugreifen und die Unterherrschaften zu den Lasten und Aufgaben des Gesamtterritoriums heranzuziehen. Die kurkölnischen Untertanen huldigten jedenfalls sowohl dem Kurfürsten als auch den Unterherrn und standen daher zu beiden in einem direkten, unmittelbaren Unterordnungsverhältnis. Die Untertanen hatten es also mit einer „gestaffelten Obrigkeit zu tun, wobei die höhere, die landesfürstliche, ihnen einesteils zusätzliche Pflichten und Lasten […] auflud, ihnen andernteils aber einen Weg eröffnete, sich gegen ungerechtfertigte Pressionen ihrer direkten Obrigkeiten zu wehren“.[8]

In der Forschung ist noch nicht geklärt, ob und inwiefern die Begriffe „Unterherrschaften“ und „Herrlichkeiten“ trennscharf voneinander zu differenzieren sind. „Unterherrschaften“ und „Herrlichkeiten“ einte jedenfalls die Tatsache, dass in ihnen kein landesherrlicher Anspruch auf Abgaben bestand. Die Tendenz scheint dahin gegangen zu sein, dass die kurfürstliche Kanzlei den Begriff „Unterherrschaften“ oder „Unterherrlichkeiten“ favorisierte, um mit der Vorsilbe „Unter-“ die Nachrangigkeit der Unterherren zu akzentuieren. Wolf D. Penning hat diese konkurrierenden Ansprüche in einer Fallstudie zur Unterherrschaft Miel treffend analysiert: „Für den Unterherrn stand die Eigenständigkeit gegenüber dem Landesherrn auf dem Spiel, die sich nur wahren ließ, wenn er die Herrschaftsverhältnisse im eigenen Bereich aufrechterhalten konnte; für die Zentrale aber galt es, ihre Auffassung von vorrangiger und übergeordneter Kompetenz durchzusetzen.“[9]

Abschließen möchte ich die Überlegungen zu der Frage „Wer regierte eigentlich die ,Kleinen und Großen Welten‘ des kurkönischen ,composite state‘?“ mit einem letzten Aspekt beleuchten, der die große Bedeutung des Faktors Dynastie als Leitfaktor frühneuzeitlicher Politik verdeutlicht. Das Kurfürstentum Köln fungierte für die Wittelsbacher seit dem späten 16. Jahrhundert als eine Art von Sekundogenitur – als ,klassisches‘ Nebenland, das vor allem zur Versorgung der zweit- oder nachgeborenen männlichen Nachkommen diente. Tonangebend in den bilateralen Beziehungen zwischen Kurbayern und Kurköln in wittelsbachischer Zeit war traditionell der Münchener Hof. Die neuere Forschung betont zwar, dass sich die Kölner Kurfürsten keineswegs immer blindlings nach den Direktiven des älteren Bruders aus der Münchener Residenz richteten. Vielmehr verfolgten sie – zumindest zeitweise – auch dezidierte Eigeninteressen, die keineswegs immer mit den Zielsetzungen und Prioritäten des bayerischen Hofes konvergierten. Dennoch ist aufs Ganze des Untersuchungszeitraums zu konstatieren, dass die wittelsbachischen Kölner Kurfürsten bei der Gestaltung ihrer Politik stets davon geprägt blieben, dass sie nicht nur als Bayern verstanden, sondern sich auch familiär verpflichtet fühlten, als konkrete Interessenvertreter ihrer Dynastie zu agieren und idealerweise einen gemeinsamen politischen Kurs zu steuern.

Ob und inwiefern sie darauf bedacht waren, phasenweise größere politische Distanz zum Münchener Hof zu wahren, muss für jeden einzelnen Herrscher individuell beantwortet werden. Der Faktor Dynastie, ihre wittelsbachische Herkunft war und blieb jedenfalls stets ein wichtiger Faktor im Rahmen der Herrschaftsgestaltung und vor allem -inszenierung der Kölner Kurfürsten.

 

3. Fazit

Wenn man sich die im Verlauf der vorangegangenen Ausführungen genannten Akteure in der Gesamtschau vor Augen führt, dann erschließt sich der Sinn des gewählten Titels dieses Beitrags: „Polykratie in actu: Macht und Herrschaft(en) in den ,Kleinen‘ und ,Großen Welten‘ des Kurfürstentums Köln in wittelsbachischer Zeit“. Die Pluralität der an Macht und Herrschaft in den ,Kleinen und Großen Welten‘ Kurkölns partizipierenden Akteure und Behörden zeigt in aller Deutlichkeit, dass kaum ein Beispiel geeigneter wäre, das ,Absolutismus‘-Bild der älteren Forschung zu dekonstruieren, als Kurköln. Der Kurfürst bzw. Erzbischof von Köln war alles andere als ein monokratischer Herrscher. Vielmehr war er eingebunden in ein politisches, rechtliches und soziales Herrschaftskorsett, das in signifikanter Weise plurale Strukturen und konkurrierende Akteure aufwies, deren Kompetenzen, Rollen und Loyalitäten zumeist nicht trennscharf abgegrenzt waren. Es spricht daher viel dafür, das frühneuzeitliche Kurfürstentum Köln als Polykratie zu bezeichnen, in der die herausgehobene Stellung des Domkapitels als Mitregenten sogar schriftlich fixiert war.

Selbst wenn man ,Absolutismus‘ als idealtypisches heuristisches Konstrukt versteht und nicht als Phänomen der tatsächlichen Herrschaftspraxis, sondern lediglich in teleologisch-prozesshafter Hinsicht als letztes Ziel oder Zweck herrscherlichen Handelns deutet, stellt sich im Falle des Kurfürstentums Köln die berechtigte Frage, inwiefern die Herrscher überhaupt ein Bewusstsein dafür hatten oder entwickelten, ihre Lande in monokratischer Manier regieren zu wollen. Man sollte also auf den Begriff ,Absolutismus‘ als Bezeichnung für die konkrete Herrschaftspraxis ganz verzichten, will man die Herrschaftsverhältnisse im Kurfürstentum Köln adäquat umschreiben.

Die von mir gewählte Formulierung „Polykratie in actu“ verweist dagegen auf folgenden Sachverhalt: Selbst wenn man für das frühneuzeitliche Kurfürstentum Köln unterstellt, dass bestimmte Zielvorstellungen oder auch normative Vorstellungen von Herrschaft, die mit dem zeitgenössischen Diskurs über die herausgehobene Stellung des Monarchen korrespondieren, als Möglichkeiten (,in potentia‘) angelegt waren, dann ist doch in aller Deutlichkeit zu konstatieren, dass diese Potenziale oder Normvorstellungen unbedingt von dem zu unterscheiden sind, was ,in actu‘ tatsächlich vor Ort, gerade auf der unteren Ebene, geschah. Monokratische Herrschaftsansprüche waren im Kurfürstentum Köln jedenfalls von vornherein dazu verdammt, mit der tradierten Verfassung zu kollidieren und in der konkreten Herrschaftspraxis schnell an ihre Grenzen zu stoßen. Kurköln blieb über die gesamte Frühe Neuzeit hinweg durch ein eng verflochtenes Mit-, Neben- und zeitweise auch Gegeneinander unterschiedlichster ,Kleiner‘ und ,Großer Welten‘ geprägt.

 


[1] Dieser Beitrag geht auf einen nicht publizierten Vortrag zurück, den der Verfasser am 24. Januar 2023 unter dem Titel „Polykratie in actu: Macht und Herrschaft(en) im Kurfürstentum Köln in wittelsbachischer Zeit“ im Rahmen einer Ringvorlesung des Zentrums „Macht und Herrschaft“ an der Universität Bonn gehalten hat und der hier in überarbeiteter Form wiederaufgenommen wird. Darin eingeflossen sind Ergebnisse einer Studie, die 2021 in Aufsatzform publiziert wurden; vgl. Michael Rohrschneider, Kurköln – ein geistlicher ,composite state‘ der Frühen Neuzeit. Stand und Perspektiven der Forschung, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 85 (2021), S. 127-147. Der Vortragscharakter wurde in diesem Beitrag nahezu unverändert beibehalten. Die Belege beschränken sich weitgehend auf die Nachweise wörtlicher Zitate. Mehr zur Erforschung des Kurfürstentums Köln un der “Kleinen Welten” finden Sie hier: “#KurKoeln2019” und “#KleineWelten“.

[2] Michael Ströhmer, Jurisdiktionsökonomie im Fürstbistum Paderborn. Institutionen ‒ Ressourcen ‒ Transaktionen (1650–1800) (Westfalen in der Vormoderne 17; Paderborner Historische Forschungen 17), Münster 2013, S. 50.

[3] Vgl. Philipp Gatzen, Weisungsbefugter Stellvertreter oder subalterner Repräsentant? Die Statthalter im Rheinischen Erzstifts während der Regierungszeit Kurfürst Clemens Augusts, in: Alheydis Plassmann/Michael Rohrschneider/Andrea Stieldorf (Hrsg.), Herrschaftsnorm und Herrschaftspraxis im Kurfürstentum Köln im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Studien zu Macht und Herrschaft, 11), Göttingen 2021, S. 49-74.

[4] Vgl. David Schulte, Die ‚Kleine Welt‘ als großes Hindernis? Landständische Initiativen gegen den Kölner Kurfürsten, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 18.12.2023, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2023/12/landstaende-kleine-welt-hindernis-schulte/

[5] In Anlehnung an Michael Kaiser/Andreas Pečar (Hrsg.), Der zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten in der Frühen Neuzeit (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 32), Berlin 2003.

[6] Stephan Laux, Gravamen und Geleit. Die Juden im Ständestaat der Frühen Neuzeit (15.–18. Jahrhundert) (Forschungen zur Geschichte der Juden. Abteilung A: Abhandlungen, 21). Hannover 2010, S. 167.

[7] Wilhelm Janssen, Unterherrschaft. Anmerkungen zu einem Strukturmerkmal niederrheinischer Territorien in der frühen Neuzeit, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 76 (2012), S. 152-175, hier S. 156.

[8] Ebd., S. 174.

[9] Wolf D. Penning, Herrschaft – Anspruch und Durchsetzung im Erzstift Köln am Ende des 17. Jahrhunderts. Eine Fallstudie zum Phänomen der Unterherrschaft, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein insbesondere das alte Erzbistum Köln 201 (1998), S. 167-182, hier S. 182.

 

Zitierweise:
Rohrschneider, Michael: “Polykratie in actu: Macht und Herrschaft(en) in den ,Kleinen‘ und ,Großen Welten‘ des Kurfürstentums Köln in wittelsbachischer Zeit”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 27.01.2025, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2025/01/Polykratie-in-actu-rohrschneider

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