Im Fokus dieser Mainzer Dissertation unter dem vollen Titel “Leichenpredigten und Trauerzeremoniell der geistlichen Kurfürsten. Studien zum Bischofsideal und zur Sepulkralkultur in der Germania Sacra zwischen Westfälischem Frieden und Säkularisation” stehen 64 Leichenpredigten, die von 1648 bis zum Ende des Alten Reichs im Rahmen von Trauergottesdiensten auf die geistlichen Kurfürsten von Köln, Mainz und Trier gehalten wurden. Jan Turinski möchte die „ideengeschichtliche bzw. normvermittelnde Dimension“ (S. 40) dieser von der Forschung zu katholischen Territorien lange stiefmütterlich behandelten Quellengattung untersuchen. Konkret fragt er danach, welche zeitgenössischen Idealvorstellungen des kurerzbischöflichen Amtes durch die Leichenpredigten transportiert werden sollten. Dabei liegt der Arbeit die Annahme zugrunde, Leichenpredigten seien „zentrales Element der Memoria und Repräsentation“ gewesen, um einerseits die Erinnerung an den Verstorbenen dauerhaft zu sichern (S. 14) und der Nachwelt gleichzeitig „Leitbilder politischen, sozialen und christlichen Handelns vor Augen“ zu führen (S. 20).
Um diese These zu überprüfen, widmet sich Turinski nach der Einleitung den während seines Untersuchungszeitraums regierenden Kurfürsten selbst und stellt sie in ihren jeweiligen Rollen als Angehöriger einer Adelsfamilie, als Erzbischof, als Landesherr sowie als Kur- und Reichsfürst vor. Anschließend gerät im dritten Kapitel das seiner Arbeit zugrunde liegende Quellenkorpus in den Blick und Turinski erörtert „Organisation, Produktion und Distribution“ der Leichpredigten. Dabei stellt er fest, dass die Sermone von den örtlichen Dom- oder Hofpredigern (größtenteils Jesuiten) in deutscher Sprache verfasst und gehalten wurden. Auftraggeber der Leichenpredigten waren die jeweiligen Domkapitel, unter dessen Zensur die Prediger auch standen. Im vierten Kapitel legt der Autor schließlich dar, wie sich die Leichenpredigten in die zahlreichen auf den Herrschertod folgenden Trauerakte einfügten. Den Kern seiner Untersuchung bildet das über 200 Seiten starke Kapitel 5, in dem dezidiert der Inhalt der einzelnen Sermone auf Aussagen über die oben genannten Rollen der Kurfürst-Erzbischöfe überprüft wird. Dabei legt Turinski die Predigten gewissermaßen synoptisch nebeneinander und fragt jeweils nach „allgemeinen Entwicklungen, Tendenzen und Spezifika“ der Art und Weise, wie die verschiedenen Dimensionen, in denen sich die Kurfürst-Erzbischöfe bewegt haben, behandelt werden und wie „das Bischofsideal vor dem Hintergrund dieses komplexen Bedingungsgefüges“ (S. 40) konstruiert wird. Vor dem Fazit betrachtet Turinski in Kapitel 6 noch die Beziehung der Leichenpredigten zu den oftmals im Kontext der Trauerfeierlichkeiten errichteten Castra Doloris sowie den Grabmälern einzelner Kurfürsten.
Eine zentrale Erkenntnis ist, dass die Leichenpredigten über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg die komplexe kurerzbischöfliche Existenz in all ihren Facetten beleuchtet haben. Der Autor konnte nur einen einzigen Sermon aus Mainz finden, in dem die geistliche Herrschaftsdimension nicht aufgegriffen wurde. Das Gegenbeispiel, also eine reine Fokussierung auf das erzbischöfliche Amt des Verstorbenen, trat niemals auf. Dennoch hält Turinski fest, dass während des 17. und 18. Jahrhundert kein einheitliches kurerzbischöfliches Ideal bestand, sondern die Leichenpredigten mannigfaltige Variationen an Idealen zeigen. Ebenso unterscheiden sich auch die verschiedenen auf einen einzelnen Kurfürsterzbischof gehaltenen Sermone inhaltlich. Zudem gelingt es Turinski, allgemeine Tendenzen offenzulegen: So besaß die kur- bzw. reichfürstliche Dimension ihres Amtes in den Leichenpredigten auf die Mainzer Kurfürsten, die gleichzeitig als Reichserzkanzler fungierten, bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts einen besonders großen Stellenwert. In den Sermonen auf die Kölner Erzbischöfe war dies hingegen kaum Thema. Ebenso wird deutlich, dass im Kontext aufgeklärter Diskurse und steigender Kritik an der geistlichen Staatlichkeit, die Leichenpredigten ab etwa 1750 dem geistlichen Aspekt des kur-/erzbischöflichen Amts mehr Beachtung schenkten. Dabei wurde das konstruierte Idealbild zudem durch eine größere Fokussierung auf die bischöfliche Lehr- und Weihegewalt enger an den Vorgaben des Trienter Konzils ausgerichtet. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts trat in den Sermonen schließlich parallel zur Verdichtung der Staatlichkeit in vielen Territorien des Alten Reiches die landesherrliche Dimension immer stärker hervor, die in den vier von Turinski ausfindig gemachten evangelischen Leichenpredigten auf geistliche Kurfürsten schon früher betont wurde. Abschließend hält der Autor fest, dass sich im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation „in Anlehnung, aber auch in Abgrenzung zu Trient ein eigenes Idealbild bischöflicher Existenz“ (S. 457) entwickelte.
Kleinere Flüchtigkeitsfehler, wie die Aussage, Clemens August von Bayern sei der Onkel des Kölner Kurfürsten Joseph Clemens gewesen (S. 114), fallen bei dieser gelungenen Arbeit nicht besonders ins Gewicht. Irritierend ist dennoch, dass anscheinend die neuere Literatur zur Geschichte des Kurfürstentums Köln vom Autor nicht berücksichtig wurde. Dies ist umso bedauerlicher, da Gisbert Knopp mit seinem 2018 in den Bonner Geschichtsblättern erschienenen Beitrag Der Tod des Kölner Kurfürst-Erzbischofs Clemens August. Letzte Reise, Obduktionsberichte, Trauerfeierlichkeiten und Begräbnis im Kölner Dom einen Aufsatz vorgelegt hat, wie Turinski ihn in der deutschen Forschung aktuell noch vermisst (S.145-146). Knopp beschäftigt sich nämlich ausdrücklich mit dem Fallbeispiel eines frühneuzeitlichen Herrschertods im geistlichen Kurstaat und betrachtet in diesem Zuge auch die verschiedenen auf den Wittelsbacher gehaltenen Leichenpredigten.
Insgesamt bleibt allerdings festzuhalten, dass Turinksi mit seiner Arbeit eine wichtige Quellengattung erschlossen und damit die Forschung zur geistlichen Staatlichkeit im Alten Reich um einen erkenntnisreichen Aspekt erweitert hat.
Jan Turinski: Leichenpredigten und Trauerzeremoniell der geistlichen Kurfürsten. Studien zum Bischofsideal und zur Sepulkralkultur in der Germania Sacra zwischen Westfälischem Frieden und Säkularisation (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 147), Münster 2023, 560 S., ISBN 978-3-402-15952-1.
Gatzen, Philipp Thomas: Rezension zu “Leichenpredigten und Trauerzeremoniell der geistlichen Kurfürsten. Studien zum Bischofsideal und zur Sepulkralkultur in der Germania Sacra zwischen Westfälischem Frieden und Säkularisation”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 02.09.2024, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2024/09/rezension-turinski-trauerzeremoniell-kurfuersten-gatzen
- Leichenpredigten und Trauerzeremoniell der geistlichen Kurfürsten von Jan Turinski - 2. September 2024
- Ein Abschied, jedoch kein Ende Die Jubiläums-Ausstellung zur Geschichte des IGL im Universitätsmuseum Bonn - 17. Februar 2022
- „Die Angestellten des Instituts haben ihren Dienst nicht unterbrochen“ Das Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande im Zweiten Weltkrieg - 1. Oktober 2020