Meistererzählung(en) vom Frieden in interdisziplinärer Perspektive

Frieden ist keine Konstante, sondern wird von verschiedenen Personen(gruppen) zu verschiedenen Zeiten immer wieder anders wahrgenommen und bewertet. Sogenannte Meistererzählungen[1] von Frieden tradieren also immer auch gesellschaftliche Einstellungen, Erwartungen und Verhaltensweisen. Der Westfälische Friede, sicherlich eines der am dichtesten beschriebenen Ereignisse der modernen Historiographie, hat zum Teil stark national geprägte Narrative hervorgebracht, die gerade im 19. Jahrhundert eine identitätsstiftende Wirkung entfalteten. Dabei dominierte in der historischen Forschung die deutsch-französische Perspektive. Zudem galt er lange Zeit als Geburtsstunde des modernen Völkerrechts und des Westfälischen Systems, das vom Völkerrecht und souveränen staatlichen Akteuren geprägt gewesen sei. Diese Denkfigur findet bis heute große Resonanz in den Internationalen Beziehungen. Die Geschichtswissenschaft sieht dies deutlich kritischer, da das Konzept eine simplifizierende und zu enge Perspektive einnehme, die den Fokus auf das Alte Reich lege und damit letztlich die Komplexität des frühneuzeitlichen Staatensystems ignoriere.[2] Dennoch hatte der Westfälische Friedenskongress (WFK) unbestritten eine Vorbildwirkung – und sei es eine negative – für die diplomatischen Praktiken späterer Friedensprozesse.

Die erste Sektion untersucht in vier Einzelperspektiven das Bild vom WFK. Hierbei werden sowohl geschichts- als auch politik- und literaturwissenschaftliche Positionen eingenommen. Wie verschiebt sich die Bewertung des WFK durch eine solche Perspektivenerweiterung? Im Mittelpunkt stehen dabei jene nationalen Narrative, die bislang kaum oder erst allmählich Wirkung entfalten konnten: die schwedische (Martin Hårdstedt, Historiker/Umeå), die spanische (Alistair Malcolm, Historiker/Limerick), die niederländische (Helmer Helmers, Literaturwissenschaftler/Amsterdam) und die französische Sicht (Claire Gantet, Historikerin/Fribourg). Letztere ist zwar deutlich prominenter aufgearbeitet, ist aber für den Vergleich mit den anderen Nationalgeschichten notwendig, gerade wenn es um die Frage geht, wie sich diese zu den dominanten Erzählungen verhalten. Warum findet dieses Ereignis beispielsweise in der spanischen Geschichtsschreibung so wenig Beachtung? Wann hat sich der jeweilige Blick auf die Verhandlungen in Münster und Osnabrück und ihr Ergebnis etabliert?

Das oftmals dominierende deutsche Narrativ wird mit Marie-Thérèse Mourey (Paris) als Moderation bewusst von einer französischen Germanistin vertreten. In ihren Arbeiten zum barocken Theater und Ballett hat sie sich unter anderem mit dem WFK beschäftigt und dabei deren politische Dimension aufgezeigt.[3] Damit bringt sie eine Außenperspektive als Literaturwissenschaftlerin auf die deutsche Forschung in die Diskussion.

Den Kommentar übernimmt Benjamin de Carvalho vom Norwegian Institute of International Affairs in Oslo, der sich aus Sicht der Internationalen Beziehung ausgiebig mit der Entwicklung des Staatensystems und somit auch mit dem WFK auseinandergesetzt hat.[4] Auf diese Weise bildet er ein Gegengewicht zu den historischen und literaturwissenschaftlichen Narrativen vom WFK und bringt die verschiedenen Bewertungen des WFK in einen Dialog.

 

SEKTION 1: MEISTERERZÄHLUNG(EN) VOM FRIEDEN IN INTERDISZIPLINÄRER PERSPEKTIVE

Moderation: Marie Mouray / Kommentar: Benjamin de Carvalho

  1. Der Westfälische Friedenskongress: Kontext, Erbe und Konsequenzen aus schwedischer Perspektive (Martin Hårdstedt)
  2. Spanish views on the Westphalia process: Congress Diplomacy as Eternalisation of War (Alistair Malcolm)
  3. Dutch News and Debate on the Peace Negotiations in Westphalia: a Case of Public Diplomacy (Helmer Helmers)
  4. Der ambivalente Friede: Der Westfälische Friedenskongress in der französischen Historiographie (Claire Gantet)

 

 


[1] Zum Begriff „Meistererzählung“: Jarausch, Konrad H. / Sabrow, Martin: „Meistererzählung“ – Zur Karriere eines Begriffes. In: Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Hrsg. von Jarausch, Konrad H. / Sabrow, M. Göttingen 2002, 9-32.

[2] Duchhardt, Heinz: Der Westfälische Friede. Diplomatie − politische Zäsur − kulturelles Umfeld − Rezeptionsgeschichte (Historische Zeitschrift. Beihefte, 26) München 1998; Duchhardt, Heinz: Westphalian System. Zur Problematik einer Denkfigur. In: Historische Zeitschrift 269 (1999), 305-315; dort auch Kritik.

[3] U.a. Mourey, Marie-Thérèse: Entre mythe et histoire: la Guerre de Trente Ans vue à la loupe. In: Etudes Germaniques, 2002/4, 773-780.

[4] U.a. Leira, Halvard / De Carvalho, Benjamin (Hg.): Historical international relations, 4 Bände, London / Thousand Oaks, California 2015; De Carvalho, Benjamin / Leira, Halvard / Hobson, John M.: The big bangs of IR. The myths that your teachers still tell you about 1648 and 1919. In: Millennium – Journal of International Studies 39/3 (2011), 735–758.

 

 

Zitierweise:
Oetzel, Lena: „Meistererzählung(en) vom Frieden in interdisziplinärer Perspektive“, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 21.06.2017, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2017/06/meistererzaehlungen/

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Dr. Lena Oetzel
Dr. Lena Oetzel

Über Dr. Lena Oetzel

studierte Geschichte, Politikwissenschaften und Philosophie in Bonn und St. Andrews. 2012 promovierte sie an der Universität Salzburg über „‘Gespräche‘ über Herrschaft. Herrscherkritik bei Elisabeth I. von England (1558–1603)“. In ihrem aktuellen Projekt beschäftigt sie sich mit Interessen von Gesandten auf dem Westfälischen Friedenskongress (1643–1649). In diesem Zusammenhang war sie von 2014-2016 Gastwissenschaftlerin am Zentrum für Historische Friedensforschung, Bonn. Sie lehrt und arbeitet an den Universitäten Bonn und Salzburg.

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