“Augenlust?” titelt der zur gleichnamigen Ausstellung über „niederländische Stillleben im Detail“ erschienene Katalog. Üppig und rot glänzende Kirschen, saftige Pfirsiche und geöffnete Haselnüsse, die man gleichzeitig auf dem Buchcover sieht, versprechen genau dies: die Sinne ansprechende Bilder, eine lustvolle Betrachtung! Doch der dargestellte Überfluss auf niederländischen Tischen des siebzehnten Jahrhunderts verweist auch auf die dunklen Seiten und globalen Bezüge dieses inszenierten und teilweise importierten Luxus. Die Ambivalenz aus Reichtum einerseits und Ausbeutung andererseits war ein dramaturgisches Element der Ausstellung und durchzieht auch den Ausstellungskatalog wie ein roter Faden.
Die Ausstellung konnte zwischen September 2022 und Februar 2023 im LVR LandesMuseum Bonn – Rheinisches Landesmuseum für Archäologie, Kunst und Kulturgeschichte besichtig werden. Der Katalog, der zum Ausstellungsbeginn erschienen ist, hingegen bleibt und ermöglicht es interessierten Leser:innen und Betrachter:innen das Konzept der Ausstellung (genauer) kennenzulernen. Viele hochwertige Abbildungen geben zudem einen Eindruck von der Ausstellung oder ermöglichen es, diese wieder in Erinnerung zu rufen und die sinnliche Komponente auch in Buchform zu transportieren. Die einzelnen Kapitel sind von ausgewiesenen Expert:innen verfasst und geben über die konkrete Ausstellung hinaus vertiefend Einblicke in einzelne Themenbereiche. Vorweggenommen sei hier, dass die Rezensentin keine Kunsthistorikerin, sondern Historikerin mit einem Interesse an niederländischem Kolonialismus und Sklaverei sowie Geschlechtergeschichte ist. Aus dieser Perspektive ist auch die vorliegende Rezension verfasst. Damit bleiben im Folgenden viele spannende Aspekte des Ausstellungskatalogs unerwähnt, andere erhalten mehr Aufmerksamkeit.
Der Katalog besteht aus zwei Teilen. Der erste einführende Teil umfasst ein Vorwort von Thorsten Valk, die Vorstellung des Ausstellungskonzeptes durch Alexandra Käss, Jan-David Mentzel und Thorsten Valk, einen Einblick in die Wirtschafts- und Kulturgeschichte der Niederlande im siebzehnten Jahrhundert (das sogenannte ‚goldenen Zeitalter‘) von Nils Büttner, eine Erläuterung zur Gattung Stillleben von Alexandra Käss, Jan-David Mentzel und Birgit Ulrike Münch sowie ein etwas loses Kapitel zum Buchdruck und Buchhandel in den Niederlanden, insbesondere in Amsterdam von Paul Dijstelberge und Larissa van Vianen. Im Vorwort wird das Konzept der Ausstellung kurz vorgestellt. Die 14 Exponaten aus niederländischen Stillleben des siebzehnten Jahrhunderts wurden durch Gegenstände ergänzt, die Einblicke in die Lebenswelten hinter den Bildern ermöglichen sollen – indem das auf den Bildern Dargestellte damit buchstäblich in den Raum hineintritt. Zudem soll anhand der Bilder nicht nur das sogenannte ‚Goldene Zeitalter‘ der Niederlande, sondern auch dessen Schattenseiten, eine Geschichte der Ausbeutung erzählt werden, die mit der Erfolgsgeschichte verknüpft war. Die Einleitung führt daran anschließend noch genauer in das Thema ein. Zugänglich gemacht werden soll die Sinnlichkeit der Stillleben, aber auch eine Reise durch die niederländische Kultur- und Sozialgeschichte geboten werden. Damit, so die Ausstellungsmacher:innen, soll die Lust am Betrachten mit einer kritischen Reflexion verbunden werden. Dem Konzept der Slow Exhibition folgend setzt die Ausstellung auf Reduktion und Entschleunigung. Das begründet den Fokus auf nur 14 Exponate, die dafür im Detail vorgestellt und historische Kontexte eingebettet werden. Der anschließende Einblick in die Kultur- und Wirtschaftsgeschichte der Niederlande im siebzehnten Jahrhundert macht anschaulich, dass der Boom in Kunst und Kultur, der auch für die Fülle an Stillleben verantwortlich ist, die wir heute bewundern können, sehr eng mit dem wirtschaftlichen Erfolg der Niederlande durch den globalen Überseehandel zusammenhing. Die Gattungsfrage, das wird im Kapitel zu Stillleben sehr schnell deutlich, lässt sich nicht so einfach und auch nicht abschließend klären. „Stilleven“ im Sinne eines Abmalens der Natur hatten immer auch repräsentative Funktion und sind deshalb hochgradig arrangiert. Charakteristisch ist dabei die Interaktion zwischen dem Dargestellten und den Betrachter:innen. Die Materialität des Dargestellten kommt einer Aufforderung nach, „über die Gegebenheiten der Dinge zu meditieren und sich zu ihnen ins Verhältnis zu setzen“ (S. 41). Im Anschluss an die Forschungen zur materiellen Kultur wird in der Ausstellung den Produktionsbedingungen, deren Transport, Handel und Konsum nachgespürt. Der Aneignungsprozess im und mit dem Bild wird dabei kritisch reflektiert.
Der zweite Teil widmet sich dann den 14 Stillleben, die jeweils kurz beschrieben und anschließend im Detail vorgestellt werden. Unter dem Titel „global player“ wird das Stillleben mit Gobelinvorhang (1669/70) von Jan van der Heyden vorgestellt. Man sieht das Arbeitszimmer eines bürgerlichen Haushalts, indem sich Landkarten, ein Globus und ein Atlas, aber auch eine Nautilusmuschel aus dem Indischen Ozean und eine Naginata (Speer) aus Japan befinden. Hier wird die Geschichte des Sammelns von Wissen als Aneignungsprozess greifbar, die Hand in Hand mit dem Aufstieg der Niederlande als globale Handelsnation und -macht einherging. Das Stillleben mit einem Lobgedicht auf den Pökelhering (1657) von Joseph de Bray führt direkt zu den Schattenseiten dieser Aufstiegs- und Erfolgsgeschichte. Zum einen steht hinter der Nationalspeise eine Fischindustrie, die Quelle wirtschaftlichen Wohlstands für die Niederlande war, aber auch zur Ausbeutung der lokalen Bevölkerung und ganzer Fischerdörfer führte und damit zur Verarmung der Fischer und ihrer Familien beitrug. Zum anderen war das zum Konservieren des Herings verwendete Salz ein importiertes Luxusgut und die Salzgewinnung direkt mit unfreien Arbeitsverhältnissen außerhalb der Niederlande verbunden.
Neben dem Hering gehörte Käse zu einem beliebten Motiv auf niederländischen Stillleben. Dieser ist sowohl auf einem opulenten Frühstücksstillleben mit exotischen Früchten von Floris van Schooten zu sehen als auch auf dem bäuerlichen Frühstück von P. V. Plas (beide 1. Hälfte 17. Jh.). Unter der Überschrift „Fremd und Eigen“ wird ein weiterer Frühstückstisch mit Siegburger Steinzeugkanne (um 1624) von Pieter Claesz präsentiert, der ebenfalls Lebensmittel aus der lokalen Landwirtschaft (Brot und Käse) neben importierten Gütern (chinesisches Porzellan und Früchte) anpreist. Zu letzteren gehörten auch die Genussmittel Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak. Auf dem Stillleben mit Nüssen, Wein und Tabakpäckchen (1670) von Hubert van Ravensteyn wurde der aus Amerika eingeführte Tabak mit exotischer Bebilderung angepriesen. Und auch hier scheinen die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen auf den Tabakplantagen in der sogenannten neuen Welt auf.
Diese sicherlich dunkelste Schattenseite des niederländischen Aufstiegs, die Sklaverei, ist auch im nächsten Stillleben Thema: Auf Juriaan van Streeks Prunkstillleben mit Diener (um 1670/1680) ist ein schwarzer Page abgebildet, der auf einem Tablett angerichtete Zitrusfrüchte trägt. Die Interpretation, dass der junge Mann auf dem Bild gleich der exquisiten Lebensmittel (Austern und Zitrusfrüchte) und Gegenstände (eine Nautilusmuschel aus dem Pazifik und ein Krug aus chinesischem Porzellan) als Objekt dargestellt und betrachtet wurde, leuchtet vor dem historischen Hintergrund der Kommodifizierung von Menschen im Zusammenhang mit dem Sklavenhandel ein, geht aber aus der Abbildung selbst nicht zwangsläufig hervor. Zwar sind auf den meisten Stillleben keine Menschen, sondern nur Gegenstände, also Objekte zu sehen, aber dennoch (so sieht und liest man einige Seiten später) wurden auch anderes Dienstpersonal, wie Küchenmägde mitunter abgebildet. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ist diese kunstgeschichtliche Interpretation besonders interessant, weil die Quellenlage zu versklavten und nach Europa verschleppten Menschen aus Afrika und Asien äußerst desperat und ihr Status (versklavt oder frei) schwierig zu bestimmen ist. Die bildlichen Darstellungen versprechen deshalb eine notwendige Ergänzung zu ansonsten sehr spröden Quellen, wie Schiffslisten oder Kirchenbucheinträgen zu sein, die viel verbergen, aber doch auch einiges erkennen lassen.
Neben Früchten, Salz, Muscheln, Porzellan und Menschen wurden auch Pflanzen, insbesondere Blumen, Blumensamen und -wurzeln aus aller Welt nach Amsterdam eingeführt. Das Stillleben Korb mit Blumen (1618-1627) (nach) Jan Brueghel d. Ä. lässt die Betrachter:innen an dieser Vielfalt teilhaben. Und auch das Waldbodenstillleben mit Schmetterlingen (um 1673) von Otto Marseus van Schrieck zeigt ein im siebzehnten Jahrhundert aufkeimendes naturwissenschaftliches Interesse am Sammeln, Studieren (Lupe und Mikroskop) und detailliertem, wenn auch nicht unbedingt realem Abbilden von heimischen Pflanzen und Tieren ebenso wie welchen aus fremden Weltregionen.
Mit den nächsten beiden Stillleben ändert sich der thematische Fokus. Der Frühstückstisch mit Römer und großer Zinnkanne (um 1640) von Pieter Claesz und das Stillleben mit Kindermaske und Büchern (um 1630) von Pieter Potter führt uns vor Augen, dass auch wohlhabende Familien im siebzehnten Jahrhundert von hoher Säuglings- und Kindersterblichkeit betroffen waren. Das erklärt zum einen den finanziellen Aufwand, der in Feiern zu einer bevorstehenden Geburt eines Kindes investiert wurde, wie es auf der prächtigen Tafel auf dem ersten Bild der Fall zu sein scheint. Zum anderen war auch die Trauer um verstorbene Kinder ständig präsent und konnte wie auf dem zweiten Stillleben mit Gipsmaske, die die Totenmaske eines Kinds sein könnte, eingefangen sein und wurde so für die Nachwelt archiviert. In dem Küchenfrühstück (1665) von Reynier Covyn ist die zweite Person auf einem Stillleben zu sehen. Hier wurde eine arbeitende Dienstmagd beim Zubereiten einer Fischspeise dargestellt. Eine besondere prekäre Situation ergab sich für die Amsterdamer Frauen der Unterschicht. Viele Männer verließen Amsterdam, als Händler, Soldaten und Matrosen auf den Schiffen, über die der internationale Handel abgewickelt wurde, was zu einem Frauenüberschuss führte. Für wohlhabende Frauen des Bürgertums konnte dies Freiheiten und Handlungsspielräume mit sich bringen, für Frauen der Untersichte bedeutete dies, dass es schwieriger war einen Ehemann und eine Anstellung zu finden. Das Stillleben verbirgt diese Lebensumstände vieler Hausangestellten, auch wenn diese die Arbeit verrichteten, die für den dargestellten Wohlstand notwendig war.
Zwar waren auch viele Frauen gerade an der Produktion des Genres Stillleben beteiligt, aber nur sehr wenige von ihnen wurden berühmt und sind mit Namen bekannt. Eine davon ist Clara Peeters. Aus ihrer Hand stammt das Stillleben mit Käse (um 1615). Besonders interessant ist an ihren Bildern, dass sie sich mit winzigen Selbstporträts oder mit ihren Initialen darauf einschrieb und dadurch verewigte. Das letzte Stillleben von Franciscus Gijsbrechts zeigt einen Wandschrank Trompe-l’Œil (um 1675), der mit Wertpapieren und Münzen den Wohlstand der Niederlande im siebzehnten Jahrhundert abbildet.
Eine wegweisende konzeptionelle Entscheidung zeichnet sowohl die Ausstellung als auch den Katalog aus und setzt thematische Schwerpunkte, die in anderen Auseinandersetzungen mit niederländischen Stillleben oder dem siebzehnten Jahrhundert oft ausbleiben. Der Fokus auf Details der “slow exhibition” ermöglicht es, in 14 Stillleben “hineinzuzoomen”, indem einzelne Ausschnitte vergrößert abgebildet werden. Dadurch treten bisher weniger beachtete Aspekte in den Vordergrund und bereits bekannte Darstellungen und Themen werden aus einer neuen Perspektive zugänglich gemacht. Das ermöglicht eine betont kritische Einbettung der Stillleben und der auf ihnen abgebildeten Produkte, Tiere und Personen in zwei historische Entwicklungen und Zusammenhänge. Das sind zum einen die sich verändernden Geschlechterrollen und die Herausbildung binärer Geschlechtsidentitäten.[1] Dieser historische Prozess wird oftmals im achtzehnten Jahrhundert verortet, zeichnet sich aber bereits im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts ab und wird im Ausstellungskatalog immer wieder in seiner Prozesshaftigkeit (mit-)reflektiert. Zum anderen sind es die Aus- und Rückwirkungen des frühen europäischen Kolonialismus und des globalen Handels mit Waren und Menschen auf europäische Länder und Gesellschaften. Dieses ohne Frage wichtige Unterfangen überzeugt meistens als geboten und notwendig. An einzelnen Stellen wirft der kunsthistorische Zugang zum Bildmaterial Stillleben – und hier wird es aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive besonders interessant – neue Fragen auch für die historische Forschung auf: Was erzählen uns die Stillleben über die Herstellung und den Transport der auf ihnen dargestellten Produkte und Güter? Wer waren die Personen, die diese Güter herstellten? Wer waren die Menschen, die als Teil dieser Arrangements abgebildet wurden? Denn, das machen die Interpretationen der Stillleben sehr deutlich, die tatsächlichen Produktions- und Arbeitsbedingungen und damit die Lebensrealitäten eines Großteils der Menschen bleiben auf den Gemälden unsichtbar.
Dennoch ermöglicht es die Ausstellung und der dazu gehörige Katalog etwas über die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen der einheimischen Fischindustrie und der Verarmung der von dieser Arbeit abhängigen Bevölkerungsschichten zu erfahren. Das Bildnis der Küchenmagd und des afrikanischen Pagen idealisieren die lokalen wie globalen Arbeitsbedingungen von freien wie versklavten Dienstboten in den Niederlanden. Damit werden anhand der Stillleben auch die Geschichten von Personen sichtbar, die Teil der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen einer sich rasant globalisierenden Welt im siebzehnten Jahrhundert waren und sich im Spannungsfeld aus Reichtum und Ausbeutung bewegten. Um mit den Worten der Herausgeber:innen zu enden: „Die Bilder blieben mehrdeutig, und daran lag ihr Reiz“ (S. 44). Und diese Mehrdeutigkeit macht auch die Ausstellung und den dazugehörigen Katalog erstaunlich aktuell.
Alexandra Käss, Birgit Ulrike Münch und Thorsten Valk (Hg.): Augenlust? Niederländische Stillleben im Detail (Ausstellungskatalog zur Ausstellung „Augenlust? Niederländische Stillleben im Detail“, 22. September 2022 bis 19. Februar 2023, LVR-LandesMuseum Bonn – Rheinisches Landesmuseum für Archäologie, Kunst- und Kulturgeschichte), Sandstein Verlag Dresden 2022; ISBN: 978-3-95498-709-2.
[1] Karin Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363–393.
Zitierweise:
Lehner, Eva: Rezension zu “Alexandra Käss, Birgit Ulrike Münch und Thorsten Valk (Hgg): Augenlust? Niederländische Stillleben im Detail”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 15.02.2024, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2024/02/rezension-augenlust-lehner