„31. Sonntag. Sylvester. Morgens 10 U. kam Conrad aus Düsseldorf. – Mittags z. B. Ges. u. Burgm. Besuche bei J. Müller (Nachm.) u. G. Schenk (Mittags) um sie auf morgen einzuladen, beide unpaß (ersterer Kartharr, letzterer Krampfadersprung am Fuß) u. deßhalb verhindert. Nachm. Zu Hause. Abends auf der Burgm. – dann zur B. Ges., wo nur Wenige bis Mitternacht blieben (Engelen, Ruland, Becker, König etc.) Konsul Overlack kam noch in Galla vom Kasino-Balle. – Johannes war 7 U. noch nicht aus Kemperhof zurück, wie ers zugesagt. An Pünktlichkeit kann er sich nicht gewöhnen.[…] Ein recht schlechtes Jahr in vieler Beziehung ist abgelaufen. Gebe Gott ein besseres!“ (S. 407)
Mit diesem abschätzigen Kommentar auf das, lange Zeit weithin als Höhepunkt einer deutschen Nationalgeschichte erinnerten Jahr 1871 findet die Edition der Tagebücher des Kölner Kunstmalers und Glaswerkstattbesitzers Friedrich Baudri (1808-1874) einen Abschluss. Ein Unternehmen, das sich über mehr als 15 Jahre erstreckt hat. Wie bereits für die vorangegangene Bände konstatiert worden ist, liegt die besondere Leistung des Bearbeiters darin, durch die gründliche Edition der gleichfalls etwas mehr als 15 Jahre umfassender Tagebücher (1854-1871) der Geschichtswissenschaft ein seltenes und sorgfältig kontextualisiertes Egodokument aus dem (Klein)Bürgertum des 19. Jahrhundert zu erschließen.[1]
Wiederum begegnet Baudri also in seinem alltäglichen Berufsleben, in seinem Engagement in einer reichen Zahl lokaler und regionaler Vereine – wie speziell der „B.[ürger] Ges.[ellschaft]“ – und seinen privaten Nöten, wie der persönlichen Gesundheit. Baudri war selbst auch immer wieder in unterschiedlichem Maße „unpaß“, hat etwa am Johannistag 1868 „[…] mindestens 25-30 mal gebrochen […]“ und nach mehrfacher Morphingabe dennoch am Folgetag an der Sitzung des Kölner Stadtrats teilgenommen (S. 49f).
Die Verbindung seines dortigen Mandats mit den Vereins- und Ausschussfunktionen ist es, die Baudris knappe Notizen in der edierten Form auch unter einem dezidiert politikgeschichtlichen Blickwinkel besonders reizvoll machen. Wiewohl diese die Zeit seiner kurzen Mitgliedschaft in Preußischem Abgeordnetenhaus (1873/74) und im Deutschen Reichstag (1874) nicht mehr umfassen.
So bieten Baudris Tagebücher in Hinblick auf die regionale Ebene reichlich Material für die bislang wenig untersuchten sozialen und kulturellen Grundlagen parlamentarischer Repräsentation.[2] Abseits der Stadtratssitzungen sind hier die eifrige Pflege von Beziehungen in Klientelverhältnissen und geselligen Ritualen zu beachten. Wenn auch selbst nicht frei von wirtschaftlichen Nöten, begegnet Baudri in seinen Tagebüchern regelmäßig als Vermieter und Gläubiger. Man wandte sich ferner an ihn um Rat und Vermittlung, auch bei Konfrontationen mit der Staatsmacht, beispielsweise anlässlich der Versetzung eines Soldaten in genehmere Stellung (vgl. S. 379, S. 388, S. 392ff). Die alltäglichen Gänge in die Bürgergesellschaft und auf die „Burgm.[auer]“, zur Residenz von Baudris Bruder, dem Weihbischof Johannes, dem maßgeblichen Vermittler von Baudris Kontakten zur höheren Kirchenhierarchie, zählen ebenso in dieses Feld, wie die Fülle von Besuchen und Gegenbesuchen, Weinproben und Festmählern, ja überhaupt mehr oder weniger formalisierter Zusammenkünfte in „privatem“ Rahmen.
Zwar hat Baudri ausgerechnet in der ersten Septemberhälfte 1871, während er dem 21. Deutschen Katholikentag in Mainz als Präsident vorstand, sein Tagebuch nicht geführt. Doch über die gesamten vier Jahre 1868-1871 betrachtet, bieten seine Notizen dank der minutiösen Kontextualisierung mit Stadtratsprotokollen und lokalen Pressemeldungen eine Fülle von Einblicken in die „großen Krisenherde“ des jungen Kaiserreichs aus der Perspektive eines rheinischen Katholiken. Also in erster Linie die inter- und intrakonfessionellen Konflikte im Gefolge der Reichsgründung und des Ersten Vatikanischen Konzils, die sich auf der lokalpolitischen Ebene vor Allem im Streit um die Bekenntnisschule, um Loyalitätsbekundungen zu Papst und Kirche einerseits, zu Nation und „Kaiser-König“ (S. 321, S. 333) andererseits äußerten. Baudris Tagebuch wirft aber auch ein Licht auf die sonst über die ostelbischen Provinzen Preußens hinaus wenig beachteten Wechselwirkungen zwischen Kulturkampf und Nationalitätenpolitik, wenn „Die Unterdrückung der katholischen Kirche in Polen“ und „praktische Hilfe“ für die Glaubensgeschwister im Osten diskutiert wurden (S. 69, S. 168, S. 176, S. 249, S. 330).
Die besondere Stärke der Edition, die kenntnisreiche Kontextualisierung mit anderen Quellenbeständen, die unter heutigen Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft selten genug leistbar ist, bedingt in der konkreten Umsetzung aber auch Kritik: Die umfangreichen wörtlichen Zitate aus den Stadtratsprotokollen und Presseartikeln in den Fußnoten erstrecken sich zum Teil über mehrere Seiten und verhelfen der ohnedies oft mühsamen Lektüre der kurzen Tagebuchnotizen nicht zu einem leichteren Lesefluss. Insofern könnte die anzuzeigende Edition auch als Appell für eine verstärkte Digitalisierung serieller Quellenbestände gelesen werden. Ist doch die vom Verfasser wiederholt zitierte „Kölnische Zeitung“ seit kurzen eine der nach wie vor wenigen historischen deutschen Pressemedien, die hochwertig digitalisiert und im Volltext durchsuchbar online recherchiert werden können.[3]
Nicht zum Vorteil der Orientierung des Lesers in der komplexen Materie ist auch, dass die seinerzeit für die ersten Bände bereits sehr knapp formulierten editorischen Grundsätze,[4] in der Einleitung des 4. Bandes nicht noch einmal aktualisiert worden sind.
Ernst Heinen (Hrsg.): Friedrich Baudri. Tagebücher 1854-1871, Bd. 4: 1868-1871 (= Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde LXXIII), Wien/Köln/Weimar (= Böhlau Verlag) 2021; ISBN: 978-3-412-52037-3
[1] Clemens, Gabriele B.: Rezension über: Ludwig Gierse/Ernst Heinen (Hg.): Friedrich Baudri, Tagebücher 1854-1871. 3: 1863-1867, Düsseldorf: Droste Verlag, 2013, in: Rheinische Vierteljahrsblätter, 79 (2015), S. 392-394.
[2] Vgl. das Gemeinschaftsprojekt „Privatleben, Beruf und Mandat – die sozialen und kulturellen Grundlagen parlamentarischer Repräsentation“ der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der Parteien sowie der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, https://kgparl.de/forschung/abgeordnetenleben-1871-1918/ [zuletzt aufgerufen 31.12.2021].
[3] https://zeitpunkt.nrw/ulbbn/periodical/titleinfo/9715711 [zuletzt aufgerufen 31.12.2021].
[4] Ludwig Gierse/Ernst Heinen (Hg.): Friedrich Baudri. Tagebücher 1854-1871, 1. Bd: 1854-1875, Düsseldorf 2006, S. XXf.; Dies.: Friedrich Baudri. Tagebücher 1854-1871, 2. Bd: 1858-1862, Düsseldorf 2009, S. VIIIf.
Zitierweise:
Klein, Jonas: Rezension zu “Friedrich Baudri. Tagebücher 1854-1871, Bd. 4: 1868-1871”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 23.05.2022, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2022/05/rezension-baudri-tagebuecher-band-4-1868-1871-klein