Roms fließende Grenzen – dies ist der Titel der siebten archäologischen Landesausstellung Nordrhein-Westfalens. An fünf musealen Standorten – Detmold, Xanten, Haltern am See, Köln und Bonn – werden die neuesten archäologischen Erkenntnisse zum römischen Leben am Mittel- und Niederrhein vorgestellt. Einen besonderen Anlass stellt in diesem Jahr die am 27. Juli erfolgte Aufnahme des Niedergermanischen Limes in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes dar.
Der Beitrag des LVR-LandesMuseums Bonn – „Leben am Limes“ – stellt den Legionsstandort Bonn in den räumlichen Fokus. Vor allem stehen der Mensch und seine Lebenswelt(en) am Niedergermanischen Limes im Mittelpunkt der Ausstellung. Sie beschränkt sich jedoch nicht allein auf die linksrheinische römische Provinz Germania inferior, sondern nimmt auch über die Grenze hinweg die Berührungspunkte mit den rechtsrheinischen Germanen in den Blick.[1]
Durch das Wort „Grenze“ wies Museumsdirektor Prof. Dr. Thorsten Valk der neuen Ausstellung in der Pressekonferenz am 24. November 2021 einen weitreichenden Aktualitätsbezug zu. Er konstatierte ambivalente internationale Entwicklungen des politischen Verständnisses von Grenzen. Einerseits verblasse die Bedeutung nationalstaatlicher Grenzen z.B. durch die Globalisierung oder durch das Schengen-Abkommen. Andererseits ließen sich dazu Gegenargumente aus aktuellen Schlagzeilen zum polnisch-belarussischen Grenzkonflikt oder zu den Grenzschließungen im Zuge der COVID-19-Pandemie anführen, die eine erneute Verhärtung von Grenzen bedeuten. Prof. Dr. Valk argumentierte, dass der Mensch seine Gegenwart besser verstehe, wenn er den „Spiegel der Vergangenheit“ benutze und aktuelle Ereignisse mit den früheren in Beziehung setzt. So betont “Leben am Limes” mehr die interkulturellen Berührungspunkte zwischen beiden Seiten der Grenze als den kriegerischen Aspekt, welcher in der Öffentlichkeit nach wie vor am präsentesten ist.[2]
Der Beginn der Ausstellung befindet sich im 4. Stockwerk vor der Dachterrasse. Hier bekommen die Besucher*innen einen groben historischen Kontext geboten, welcher durch eine Zeitleiste und eine Bildschirm-Diashow vermittelt wird. Von 100 v. bis 400 n. Chr. werden markante Ereignisse und Entwicklungen am Niedergermanischen Limes vorgestellt, wie z.B. die Ausdehnung des Römischen Reiches, die Augusteischen Feldzüge, der Bataveraufstand und die berühmte Varusschlacht. Der Ausstellungsteil im 4. Stockwerk erscheint als Prolog, durch den sich die Besuchenden vor den spezielleren Sachverhalten einen Überblick über die Historie verschaffen können.
Nach dem Abstieg auf das Zwischendeck lernen die Besucher*innen hier den räumlichen Rahmen der Ausstellung kennen. Neben einer interaktiven Multimedia-Station über die römische Geschichte am Rhein und einer stattlichen Karte des gesamten Römischen Reiches sticht vor allem das sechs Meter lange Limes-Modell heraus. Von Kuratorin Tünde Kaszab-Olschweski als „Shooting Star“ der Ausstellung bezeichnet, präsentiert die horizontale 3D-Karte den Niedergermanischen Limes von Bad Breisig im heutigen Rheinland-Pfalz bis nach Katwijk an der Nordseeküste der Niederlande. 400 Kilometer römische Präsenz am Rhein sind hier dargestellt. Einen besonderen Fokus legt das Modell auf Siedlungen, Infrastruktur und Bergbau beidseitig des Rheins. Städte und Militärlager sowie Straßen und Wasserleitungen werden hier zur Schau gestellt. An den Seiten des Limes-Modells wurden Schubladen angebracht, auf denen nicht nur historische Informationen über die antiken Objekte zu finden sind. Auch liefern die Schubladentexte Antworten auf Fragen zur Arbeit der Archäolog*innen vor Ort, wie: „Was ist eine archäologische Prospektion?“ und „Wie alt sind die verschiedenen Schichten einer Straße?“.
Die Stationen im 4. Stockwerk und auf dem Zwischendeck schildern die naturräumlichen und politischen Gegebenheiten im antiken Rheinland sowie die Taten „großer“ Feldherren. Nach einem weiteren Treppenabstieg beginnt im 3. Obergeschoss der Teil der Ausstellung, welcher den Alltag des gewöhnlichen Menschen an der „nassen Grenze“ beleuchtet; ein Blick in das Leben am Limes. Begrüßt werden die Besucher*innen von einer Wandtafel und verschiedenen Büsten. Auf Ersterer sind bekannte Namen von Personen verschiedener sozialer und kultureller Bevölkerungsgruppen verewigt, ob griechischer Auxiliarsoldat oder germanische Adlige. Sie alle lebten und wirkten am Niedergermanischen Limes. Einige von ihnen werden im späteren Verlauf der Ausstellung noch ausführlicher vorgestellt.
Nun lernen die Besucher*innen „Roms Adler am Rhein“ kennen, die römischen Soldaten. In diesem wird der Alltag der Legionäre im Bonner Militärlager belichtet. Der militärische Abschnitt der Ausstellung ist demnach nicht nur eine bloße Zurschaustellung alter Militaria, sondern kommt dem Alltag des einfachen Soldaten durch Zitate aus Briefen und durch die von den legionariis individualisierte Innenausstattung in den Unterkünften besonders nahe. Aufwändigere Individualisierungen konnten sich dagegen nur Militärs höheren Ranges leisten. Dies bezeugt der Blickfänger am Eingang zu „Roms Adler am Rhein“: ein kostbarer Helm eines Reiters aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. Seine Besonderheit liegt nicht nur im hochwertigen Material, sondern auch in der einzigartigen Anfertigung. Da der Nackenschirm auffällig schräg und der Ohrenschutz asymmetrisch angebracht wurde, wird vermutet, dass der Helm eine Spezialanfertigung für den an einer Halsmuskelverletzung leidenden Soldaten war.
Im nächsten Teilbereich wird das Leben der Menschen außerhalb des Militärlagers, also der Nicht-Soldaten in der Lagervorstadt und im vicus Bonnensis, behandelt. Die Bevölkerungszahl betrug zu manchen Zeiten um die 10.000 Einwohner*innen. Es werden Objekte ausgestellt, welche Einblicke in das alltägliche Familienleben gewähren, wie z.B. Spielzeuge von Kindern, Grabbeigaben und Küchenutensilien. Besonders auffallend ist eine weitere interaktive Multimedia-Station. Auf dem Boden ist eine Karte vom heutigen Bonn eingezeichnet, worauf die entsprechenden Standorte des römischen Legionslagers und der Lagervorstadt farblich gekennzeichnet wurden. Mit dem Fuß können Besucher*innen Sensoren am Boden auslösen, die quer durch die virtuelle Stadt verteilt sind, wodurch Filme über die Bergung antiker Objekte in Bonn an die Wand projiziert werden. Dadurch erhält man, genauso wie bei dem Limes-Modell, einerseits historische Informationen, andererseits auch Einblicke in die Arbeit der Archäolog*innen. Die Kuratorinnen intendieren, die Besucher*innen zum selbstständigen Erkunden des „römischen Bonns“ zu bewegen. Einige gefundene Objekte sind, wenn auch nur als Rekonstruktion, heute in der Stadt auffindbar, wie z.B. ein römischer Backofen in der Welschnonnenstraße.
Auch werden die damalige Infrastruktur, der Handel sowie das Reisen an Land und zu Wasser betrachtet. Vor allem in der Rubrik „Verkehrsachse Rhein“ kommt die Doppeldeutigkeit der betitelten „fließenden Grenze“ zum Vorschein. In Leverkusen-Rheindorf wurde ein kostbarer Trinkbecher geborgen. Auf ihm ist sogar der Name der wahrscheinlichen Besitzerin mit einer Widmung eingraviert: MERVEIFA VIVAS [CVM] TVIS. Dies ist nicht nur ein Hinweis darauf, dass die germanische Bevölkerung der Germania magna im Handel mit den römischen Siedlungen links des Limes stand, sie verstanden scheinbar auch Latein. Diese Erkenntnisse sind ein Bruch mit der pathetischen Phrase „Römer gegen Germanen“. Es war eben nicht (nur) ein Gegeneinander, sondern befanden sich die Rheinseiten auch im regen, fließenden Kulturaustausch.
Das bestätigen weitere Meinungen aus der Forschung. Befunde weisen darauf hin, dass sowohl römische als auch nicht-römische Handwerkstraditionen im Barbaricum fusioniert wurden und daher von römisch-germanischen „Mischkulturen“ ausgegangen werden kann.[3] Genauso wie Merueifas Prachtgefäß sind weitere römische Handwerksprodukte in nahezu allen Siedlungen des freien Germaniens bekannt.[4] Umgekehrt zog die Germania inferior mit ihrer Wirtschaftskraft Menschen aus der Germania magna an, „die in der Hoffnung, am Reichtum der Provinzen teilzuhaben, in der Nähe des Limes siedelten“.[5] Es existieren auch Hinweise auf „pendelnde Germanen“, welche die provinzialrömischen Märkte besuchten sowie germanische Bernsteinhändler in der Colonia Claudia Ara Agrippinensium (C.C.A.A.).[6]
„Leben am Limes“ bringt jedoch nicht nur den Austausch zwischen den beiden Rheinseiten zum Ausdruck. In der Nähe des Kastells Gelduba (Krefeld-Gellep) wurde ein Bruchstück eines Terra Sigillata-Gefäßes gefunden. Auf dieser Scherbe ist der Name eines aus Nordsyrien stammenden Kaufmanns in aramäischen Schriftzeichen eingraviert. Die Ausstellung verdeutlicht hiermit die vorhandene kulturelle Vielfalt am Niedergermanischen Limes, welche, vor allem mit dem Ausbau der Infrastruktur und dem Handel zunahm.[7] Selbst kleinste Objekte können weitreichende historische Erkenntnisse bieten.
Zum Abschluss der Ausstellung wird das Landleben am Niedergermanischen Limes beleuchtet. Durch die steigende Bevölkerungsanzahl entstanden vor allem im Hinterland Kölns immer mehr villae rusticae, um den Bedarf an Lebensmitteln zu decken. Es werden landwirtschaftliche Werkzeuge, aber auch außergewöhnlichere Objekte gezeigt, wie z.B. der einzigartige Klappsessel einer wohl gesellschaftlich höhergestellten Person. Stellvertretend für die in jeder Themengruppe vorhandenen Mitmachstationen sei an dieser Stelle das Gespräch zwischen der Germanin „Haldania“ und dem Römer „Marcus“ erwähnt. Die Besucher*innen können durch die Zuordnung der jeweils passenden Lebensmittel über die voneinander abweichende Landwirtschaft der Germanen und Römer spielerisch lernen.
Verabschiedet werden die Besucher*innen von einem Relief des zweihörnigen „Vater Rheins“ und einem Ausblick auf die fränkischen Königtümer des anbrechenden Mittelalters, zu dessen Zeit beide Rheinseiten bereits miteinander verschmolzen waren.
Die Ausstellung „Leben am Limes“ setzt den Besucher*innen die soziokulturelle Lupe an. Die menschennahen Ausstellungsstücke, welche im Übrigen fast gänzlich aus dem eigenen Bestand des Landesmuseums stammen, werden interessierten Besucher*innen auch ohne fachlichen Hintergrund den Alltag unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen im Rheinland trotz der großen zeitlichen Distanz nahbarer machen. „Leben am Limes“ lässt bewusst militärische Auseinandersetzungen zwischen Römern und Germanen aus und betont stattdessen die interkulturellen Aspekte der jahrhundertelangen Beziehung beider Nachbarn. Damit sei an die Einführung Prof. Dr. Valks und den „Spiegel der Vergangenheit“ erinnert: damals wie heute können Grenzen trennend, aber eben auch fließend sein.
An dieser Stelle soll auf die vielfältigen Führungen des LVR-LandesMuseums Bonn durch die Ausstellung sowie auf den Begleitband „Roms fliessende Grenzen. Archäologische Landesausstellung Nordrhein-Westfalen“ hingewiesen werden.[8]
[1] Im vorliegenden Beitrag wird von “den Germanen” als verallgemeinernde Kategorie für die Menschen östlich des Rheins gesprochen. Zu beachten ist jedoch, dass sie keine feste, homogene Kultur, gar ein Volk, waren. Für die Verwendbarkeit des wissenschaftlichen Germanenbegriffs respektive der Germanenbegriffe vgl. Brather, Sebastian: Germanen als Kategorie der Forschung? Römischer Blickwinkel und kulturelle Praxis, in: Uelsberg, Gabriele u.a. (Hgg.): Germanen. Eine archäologische Bestandsaufnahme. Begleitband zur Ausstellung, Darmstadt 2020, S. 401-415, hier S. 411-414.
[2] Zelle, Michael: Rauschen im Blätterwald – Die Ausstellung Imperium Konflikt Mythos. 2000 Jahre Varusschlacht und ihr Widerhall in den Medien, in: Gehrke, Hans-Joachim/Sénécheau, Miriam (Hgg.): Geschichte, Archäologie, Öffentlichkeit. Für einen neuen Dialog zwischen Wissenschaft und Medien. Standpunkte aus Forschung und Praxis (Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen 4), Bielefeld 2014, S. 275-284, hier S. 281f.
[3] Voß, Hans-Ulrich: „Germanen“ und „Römer“, in: Uelsberg, Gabriele u.a. (Hgg.): Germanen. Eine archäologische Bestandsaufnahme. Begleitband zur Ausstellung, Darmstadt 2020, S. 432-449, hier S. 440.
[4] Steuer, Heiko: Zehn Vorurteile antiker und moderner Historiker. Über die Verhältnisse in „Germanien“ in den ersten Jahrhunderten um und nach Christi Geburt, in: Uelsberg, Gabriele u.a. (Hgg.): Germanen. Eine archäologische Bestandsaufnahme. Begleitband zur Ausstellung, Darmstadt 2020, S. 43-65, hier S. 57.
[5] Kakoschke, Andreas: Ortsfremde in den römischen Provinzen Germania inferior und Germania superior. Eine Untersuchung zur Mobilität in den germanischen Provinzen anhand der Inschriften des 1. und 3. Jahrhunderts n. Chr. (Osnabrücker Forschungen zu Altertum und Antike-Rezeption 5), Möhnesee 2002, S. 571.
[6] Ebd.
[7] von Prittwitz und Gaffron, Hans-Hoyer: Fremde und fremdes Know-how. Bevölkerungsvielfalt im römischen Rheinland, in: Claßen, Erich u.a. (Hgg.): Roms fliessende Grenzen. Archäologische Landesausstellung Nordrhein-Westfalen (Schriften zur Bodendenkmalpflege in Nordrhein-Westfalen 12). Begleitband zur Ausstellung, Darmstadt 2021, S. 145-153, hier S. 148.
[8] Informationen zu Ausstellung und Katalog abrufbar unter https://landesmuseum-bonn.lvr.de/de/ausstellungen/archiv/roms_fliessende_grenzen/leben_am_limes_1.html (letzter Zugriff 27.07.2022 – Aktualisierung durch die Redaktion).
Zitierweise:
Dreßen, Samuel: Roms fließende Grenzen. Archäologische Landesausstellung Nordrhein-Westfalen, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 13.12.2021, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2021/12/roms-fliessende-grenzen/