Zum Erinnerungsjahr des Kriegsendes und der Novemberrevolution 1918 sind in den letzten Jahren zahlreiche neue Aufsätze, Monographien und Sammelbände entstanden. Die vorliegende Aufsatzsammlung reiht sich hier ein, legt den Fokus aber auf die Regionalgeschichte. Der von Frank Bischoff, Guido Hitze und Wilfried Reininghaus herausgegebene Band präsentiert die verschriftlichten Beiträge einer Tagung im Düsseldorfer Landtag am 8./9. November 2018 aus Anlass des Kriegsendes und des „Aufbruchs in die Demokratie“. Die Beiträger*innen nähern sich dem Kriegsende, der Novemberrevolution und den ersten Jahren der jungen deutschen Republik aus regionalgeschichtlicher Perspektive. Die meisten Beiträge fokussieren auf das Rheinland und Westfalen, der Band enthält aber auch Forschungsergebnisse zum lippischen Freistaat. Tagung und Tagungsband gehen auf die Zusammenarbeit der Historischen Kommission für Westfalen und der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde zurück und waren von langer Hand vorbereitet. Bereits 2014 hatten die Historischen Kommissionen der Bundesrepublik beschlossen, jeweils für Ihren Bereich die regionalen Aspekte des Erinnerungsjahrs 1918 aufzuarbeiten, die bis dato noch kaum erforscht waren. Für das Rheinland und Westfalen liegt nun der hier zu besprechende sehr umfangreiche Sammelband sowie eine Vorstudie von Wilfried Reininghaus zur Revolution in Westfalen und Lippe aus dem Jahr 2016 vor.[1] Der Forschungsstand zur Regionalgeschichte der Novemberrevolution ist damit deutlich erweitert worden.
Der Band ist in drei große Abschnitte aufgeteilt, die jeweils mehrere Beiträge auf sich vereinen. Vorangestellt ist diesen „Sektionen“ zunächst jedoch der Beitrag von Stefan Berger, der die Novemberrevolution in den europäischen Kontext einbettet. Berger argumentiert, die Novemberrevolution reihe sich in einen Zyklus ein, der weit gefasst von den antikolonialen Bewegungen der 1890er Jahre bis zur asturischen Revolution 1934 reiche und sich um Fragen von Nation, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit drehe. Der Beitrag ist mit Gewinn zu lesen, auch wenn grade in Hinblick auf das Rheinland die Einbeziehung der jüngeren französischen Revolutionserfahrung wünschenswert gewesen wäre.
Die erste Sektion stellt die „Militärische[n] Rahmenbedingungen“ vor. Zunächst schildert Thomas Tippach die Phase des Übergangs von den letzten Kriegsmonaten zum Kriegsende und der Demobilmachung um die Jahreswende 1918/1919 aus Sicht des Militärs. Er stützt sich dazu u.a. auf die Überlieferungen der badischen und bayrischen Armeekorps, die in der Forschung bisher nur wenig Beachtung gefunden haben. Im Anschluss nimmt Horst-Pierre Bothien eine Tiefenbohrung der Rheinlandbesetzung am Beispiel Bonns vor. Der Abschnitt endet mit einem Beitrag Philipp Kochs zur Rolle der Preußisch-Hessischen Staatseisenbahn in der Revolution. Der Kollaps der Eisenbahn zur Jahreswende 1918/19 verschärfte bestehende Versorgungsprobleme und erschwerte die Demobilmachung und trug insofern auch zur Radikalisierung der Revolution bei.
Die zweite Sektion nimmt die „Allgemeinen Entwicklungen“ in den Blick. Hierzu zählen die Wahlen und Wahlkämpfe im Rheinland und Westfalen (Wilfried Reininghaus), die Separatismusbewegungen im Rheinland und Westfalen (Martin Schlemmer), Frauen als Wählerinnen (Bärbel Sunderbrink), das Verhältnis der Ruhrpolen zur Revolution (Wulf Schade) sowie die Herausbildung des extremen Antisemitismus während der Revolution (Ulrich Wyrwa). Interessant sind besonders die Beiträge zu Wahlen und Wählerinnen. So führte die Einführung des Frauenwahlrechts zwar bei allen Parteien zur Aufnahme von Frauen in die Wahllisten, sie belegten aber in der Regel die hinteren Listenplätze und kamen bei der Besetzung der Parlamente nicht zum Zuge. Zudem stellte sich in der Analyse der Wahl zur Nationalversammlung und den bald folgenden Landtags- und Kommunalwahlen heraus, dass Frauen nicht wie angenommen Frauen wählten. In den folgenden Wahlkämpfen bemühten sich die Parteien daher immer weniger um die Stimmen von Frauen. Besonders interessant ist auch der Beitrag von Wulf Schade, der auf die innere Differenzierung der polnischstämmigen Bevölkerung des Ruhrgebiets hinweist und das Spannungsverhältnis zwischen polnischer Nationalbewegung und Unterstützung der Revolution beleuchtet. Dass das Kriegsende auch dem Antisemitismus, der während des Krieges im Rahmen des Burgfriedens unterdrückt wurde, neuen Auftrieb gab, stellt Ulrich Wyrwa dar. Dabei fällt auch die tragende Rolle auf, die katholische Priester und evangelische Pfarrer bei der antisemitischen Hetze spielten.
Die dritte und umfangreichste Sektion umfasst sieben Lokalstudien zu den großen Ballungszentren des Rheinlands und Westfalens (Düsseldorf – Johannes Heck, Essen – Klaus Wisotzky, Duisburg/Hamborn – Michael Kanther u. Andreas Pilger, Ruhrgebiet – Stefan Goch, Dortmund – André Biederbeck, Elberfeld/Barmen – Reiner Rhefus, Köln – Hans Peter Mensing), enthält aber auch drei Beiträge zu den ländlichen Gebieten der Region (kölnisches Sauerland – Jens Hahnwald, westliches Münsterland – Wilfried Reininghaus, Kreis Halle/Westfalen – Rolf Westheider). Diese Lokalstudien erweitern die Perspektive der Revolutionsgeschichte deutlich, indem sie sich hauptsächlich auf die Rolle der Arbeiter- und Soldatenräte (ASR) und das sozialistische Lager konzentrieren. Die Perspektive der liberalen und konservativen Parteien und Bürger*innen gerät dabei jedoch etwas zu kurz, wobei meines Erachtens grade in der Einbeziehung anderer sozialer Gruppen ein großer Vorteil der Regionalgeschichte liegt. Das Potential solch einer breiteren Perspektive deuten die Studien zu den ländlichen Gebieten an. Jens Hahnwalds Aufsatz zum kölnischen Sauerland beschäftigt sich beispielsweise auch mit der Einbeziehung anderer Gruppen wie dem katholischen Bürgertum in die ASR. Reininghaus und Westheider gehen in ihren Beiträgen auf die Bauernräte ein. Insgesamt wird durch die Lokalstudien der deutliche Unterschied in der Revolutionserfahrung zwischen Stadt und Land sehr deutlich. Ein kleines Manko aller Beiträge ist die fehlende Auseinandersetzung mit der spanischen Grippe – nur bei Westheider findet die Pandemie Beachtung. Man muss den Autor*innen aber zu Gute halten, dass in der deutschen Geschichtsschreibung über Kriegsende, Novemberrevolution und dem darauf ausbrechenden Bürgerkrieg die Grippepandemie kaum beachtet wurde. Es ist jedoch zu vermuten, dass sich dieser Umstand in naher Zukunft ändern wird.
In der Regel sind die Beiträge aus den Archiven – hauptsächlich den Stadtarchiven – gearbeitet. Darüber hinaus ziehen die Autor*innen lokale Zeitungen als Quelle heran. Sie produzieren so originär neue Erkenntnisse und zeigen daneben auch die Bedeutung städtischer Archive für die Geschichtswissenschaft auf. Mit dem Rheinland und Westfalen beleuchtet der Sammelband die regionalen Revolutionserfahrungen zweier bedeutender Regionen des Deutschen Reichs. Der Band ist damit nicht nur für regionalgeschichtlich Interessierte relevant. Daneben ist er auch gut in der universitären Lehre einsetzbar. Einerseits zeigt er sehr schön, dass Kriegsende und Revolution nicht nur in Berlin Spuren hinterlassen haben, sondern Geschichte auch in der Region stattfand und dort von verschiedenen sozialen Gruppen unterschiedlich erfahren wurde. Insofern bildet er einen guten Kontrast zu politikhistorischen Darstellungen, die sich auf die nationale Ebene und die Ereignisse in Berlin konzentrieren. An den durchweg quellengestützten Aufsätzen lässt sich andererseits zudem deutlich machen, mit welchen unterschiedlichen Quellen und Methoden Historiker*innen arbeiten und wie sie die Quellen erzählerisch darstellen. Grade für den Einsatz in der Lehre wäre aber eine digitale Ausgabe des Bandes wünschenswert.
Frank Bischoff, Guido Hitze, Wilfried Reininghaus (Hg.): Aufbruch in die Demokratie. Die Revolution 1918/19 im Rheinland und Westfalen (=Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen Neue Folge 51 / Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde Vorträge 37), Aschendorff: Münster 2020, 59,00 €, 680 Seiten; ISBN 978-3-402-15135-8
[1] Wilfried Reininghaus: Die Revolution 1918/19 in Westfalen und Lippe als Forschungsproblem. Quellen und offene Fragen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen Neue Folge 33), Münster 2016.
Zitierweise:
Selgert, Felix: Rezension zu “Aufbruch in die Demokratie. Die Revolution 1918/19 im Rheinland und Westfalen”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 09.11.2021, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2021/11/rezension-aufbruch-in-die-demokratie-selgert