„Euthanasie“, Zwangssterilisation, Humanexperimente. NS-Medizinverbrechen an Rhein und Sieg 1933–1945 Von Ansgar Sebastian Klein

Im Auftrag des Rhein-Sieg-Kreises, bezuschusst vom Landschaftsverband Rheinland und in Kooperation mit der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn wurden ab Ende 2017 die NS-Medizinverbrechen an Rhein und Sieg untersucht. Parallel zu den Forschungen wurde eine öffentliche Vortragsreihe organisiert. Seit dem vergangenen Jahr liegt das Ergebnis der Studie vor. Der Band ist reich bebildert und umfasst neben der Einleitung fünf Abschnitte: Nach den verwaltungsgeschichtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – hier zeigt sich noch einmal die starke Position der Zentrumspartei in der Region im Verhältnis zur NSDAP unmittelbar vor der Machtübernahme – werden die Zwangssterilisationspraxis, die „Euthanasie“-Verbrechen, die Verbrechen in Konzentrationslagern sowie das Thema Anerkennung und Entschädigung behandelt. Der jeweilige Umfang der Kapitel variiert erheblich: Stehen für die Geschichte der Zwangssterilisation rund 200 Seiten zu Verfügung, sind es nur sechs bzw. zehn Seiten für die letzten beiden Kapitel.

Die Quellenbasis für die Untersuchung der Zwangssterilisationspraxis auf dem Gebiet des heutigen Rhein-Sieg-Kreises ist ungewöhnlich gut, insgesamt etwa 2800 „Erbgesundheitsakten“ aus dem ehemaligen Kreis Bonn-Land, vor allem aber aus dem ehemaligen Siegkreis stehen der Forschung zu Verfügung. Hinzu kommen Akten aus dem Gesundheitsamt Bonn sowie eine Kartei des Bonner „Erbgesundheitsgerichts“. Entsprechend detailliert lassen sich die administrativen Abläufe und das Ineinandergreifen von Sozialverwaltung, Medizin und Justiz darstellen. Dieser Teil der Untersuchung beinhaltet eine ausführliche Vorstellung der beteiligten Kreis-, Amts- und Fürsorgeärzte und -ärztinnen wie auch der Juristen und Ärzte an den „Erbgesundheitsgerichten“. In zahlreichen biografischen Abrissen werden die beruflichen Werdegänge nachgezeichnet, Parteizughörigkeiten aufgeführt und relativ häufig auch exkulpatorische Äußerungen aus den Spruchkammerverfahren nach dem Krieg zitiert oder referiert. Erhellend sind die tabellarischen Überblicksdarstellungen der Anzeige stellenden Ärzte und Institutionen, aufgeschlüsselt nach Bonn-Land, Siegkreis und Bonn-Stadt, und ebenso die der dabei vorgelegten Diagnosen.

Mehrfach wird der Anspruch bekräftigt, mit dieser Publikation den Opfern der Medizinverbrechen Namen und Gesicht zu geben. Tatsächlich werden immer wieder einzelne Personen, die zwangssterilisiert wurden, genannt. Zudem wurde eine Reihe biografischer Skizzen in das Buch aufgenommen, in erster Linie von Frauen, die neben der Zwangssterilisation auch eine zwangsweise Abtreibung erlitten haben. Obwohl zahlenmäßig deutlich mehr Männer sterilisiert wurden – was mit den beiden Strafanstalten im Untersuchungsgebiet zu tun hat –, werden sie nur durch zwei, zudem sehr knappe, biographische Skizzen repräsentiert.

Die Kenntnisse über die Opfer dieser Maßnahmen stammt fast ausschließlich aus den Akten der Zwangssterilisationsverfahrens. Auf diesem Weg wandern aber auch zahlreiche abwertende diagnostische Bezeichnungen in die biografischen Skizzen ein. Gerade weil der Umstand weitgehend der Quellenlage geschuldet ist, wäre hier eine Auseinandersetzung mit der Sprache und insbesondere mit den Prämissen der zugrunde liegenden Erbgesundheitslehre angebracht gewesen. Wurden in diesem Rahmen doch in systematischer Weise soziale Verhältnisse und Umstände – Bildungsdefizite, Wohnungsnot, Kinderreichtum, Fürsorgebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit etc. – zu individuellen „Defekten“ umgedeutet, was sich im verwendeten Vokabular niederschlägt. Immer dann, wenn es gelang für die biografischen Skizzen weitere Stimmen hinzuzuziehen, die das Material aus den Ämtern und Kliniken kontrastiert, gewinnt das Bild des Opfers an Kontur.

Um den erwähnten Anspruch – den Opfern ihre Würde zurückzugeben – gerecht zu werden, entschied man sich dafür, die Menschen, die im Rahmen der NS-„Euthanasie“ ermordet wurden, in der Publikation beim Namen zu nennen. Die Nachnamen der Opfer der Zwangssterilisation werden jedoch abgekürzt, also anonymisiert. Begründet wird dies mit dem Persönlichkeitsschutz. Von diesen Personen liegt kein Sterbedatum vor und dies zu recherchieren, habe einen unverhältnismäßig hohen Rechercheaufwand bedeutet, – sie könnten also noch leben, heißt es. Angesichts von Geburtsdaten, die nur selten nach 1915 liegen, wäre dies allerdings erstaunlich.

Vor- und Nachteile einer Geschichtsschreibung der Region werden in diesem Band deutlich. Sehr viel genauer als in großräumigen Darstellungen kann auf die institutionellen Zusammenhänge und das Zusammenspiel der verschiedenen Personen eingegangen werden. Gerade im Feld von verfahrensförmiger Gewalt gelingt dies sonst nur selten, gewöhnlich verschwinden die Tatbeteiligten hinter dem Bild einer anonymen Maschinerie. Dies konnte hier angesichts der umfangreich erschlossenen Quellen vermieden werden. Auf der anderen Seite bleiben manche Abläufe des Tatgeschehens etwas rätselhaft, die unter einem größeren Fokus leichter verständlich wären. So mag es erstaunlich erscheinen, dass im Februar 1941, unmittelbar bevor im Rahmen der „Aktion T4“ die Transporte auch im Rheinland anliefen, jüdische Anstaltspatienten gesondert in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt wurden. Nachvollziehbarer wird der Vorgang, wenn man weiß, dass es sich um die dritte und letzte Welle dieser gesonderten Verlegungsaktion jüdischer Patienten und Patientinnen handelt, die in anderen Landesteilen bereits im Juli 1940 begann. So ist die Einbettung der regionalen Vorgänge in die Gesamtabläufe der NS-„Euthanasie“ nicht immer ganz geglückt. Die systematische Falschdatierung des Sterbetags im Rahmen der „Aktion T4“ wird zwar erwähnt, jedoch wird bei den namentlich genannten Opfern das von den Tätern angegebene falsche Sterbedatum aufgeführt und das tatsächliche Sterbedatum – der Tag des Transports in die Tötungsanstalt – mehrfach als ungewiss bezeichnet oder oftmals nur als Vermutung angefügt („…kann Kirwald auch bereits am 7. März gestorben sein.“ S. 266). Oder es werden gar erneut die Täterangaben übernommen (vgl. ebd.).

Die Rekonstruktion einer regionalen Durchführung der Medizinverbrechen bietet für deren zentrale Motive nur begrenzte Deutungsansätze. In der Rahmung der Forschungsergebnisse, insbesondere in der Einleitung macht sich der Autor die Position zueigen, dass die Morde an kranken, behinderten und missliebigen Personen während des Krieges als radikalisierte Fortsetzung der Erbgesundheitspolitik aufzufassen sei („Massenmord an Menschen mit psychischer oder physischer Behinderung – aus Gründen der ‚Rassenhygiene’“, S. 17, ähnlich auch S. 43). Der Punkt wird nicht diskutiert, aber immerhin wäre darauf hinzuweisen gewesen, dass es hierzu seit Jahren eine Debatte mit höchst unterschiedlichen Positionen gibt: Dass eine Bewegung und in der Folge eine Praxis, die vehement auf Erbbiologie und auf die (angebliche) Belastung der biologischen Substanz „des Volkes“ durch bestimmte Menschen abstellt – also im Kern „Rassenpolitik“ sein will, wie es in der Einleitung heißt –, in eine von Nutzenkalkülen dominierte Vernichtungspolitik mündet, ist nicht ohne Weiteres verständlich.

Im Schlussabschnitt resümiert der Autor, es habe „über 1000 Sterilisationen und mindestens 147 Tote durch ‚Euthanasie‘“ (S. 345) im Rhein-Sieg-Kreis gegeben. Gemeint sind mit den „Euthanasie“-Toten Patienten und Patientinnen, die in andere Anstalten verlegt wurden: Anstalten der „Aktion T4“, der „Kindereuthanasie“ und der „Dezentralen Euthanasie“. Dem stehen „475 Personen aus dem Untersuchungsgebiet“ (S. 320) gegenüber, die zwischen 1939 und 1945 in der Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt Bonn starben. Der größte Teil dieser Sterbefälle muss mit den katastrophalen Verhältnisse auf der dortigen Station IIIb in Zusammenhang gebracht, auf der die Patienten und Patientinnen an Nahrungsmittelentzug und verweigerter Behandlung starben. Es handelt sich demnach um Todesfälle, die mindestens in Kauf genommen, wahrscheinlich aber intendiert waren. Dies würde bedeuten, dass etwa dreimal so viele Menschen an „Euthanasie“-Maßnahmen im Kreis selbst starben als in anderen Tötungsanstalten. Einzeltodnachweise sind in der Bonner Anstalt wie im gesamten Bereich der „Dezentralen Euthanasie“ kaum möglich. Diesen Gesichtspunkt hätte man in eine Diskussion dieser frappierenden Forschungsresultate einfließen lassen können. Hilfreich dafür wäre die Angabe der Sterberate gewesen, also der Sterbefälle in Bonn pro Jahr im Verhältnis zur Gesamtzahl der Patienten und Patientinnen. Aber der Punkt wird nicht diskutiert, wie insgesamt die akribisch zusammengetragenen Daten und Fakten dieser Studie nur sehr zurückhaltend erörtert werden.

 

Klein, Ansgar Sebastian: „Euthanasie“, Zwangssterilisation, Humanexperimente. NS-Medizinverbrechen an Rhein und Sieg 1933–1945 (Stadt und Gesellschaft, 8). Köln, Böhlau 2020; ISBN 978-3-412-52000-7

 

Zitierweise:
Schneider, Christoph: Rezension zu “’Euthanasie’, Zwangssterilisation, Humanexperimente. NS-Medizinverbrechen an Rhein und Sieg 1933–1945”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 23.09.2021, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2021/09/rezension-euthanasie-medizinverbrechen-rhein-sieg-schneider

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Christoph Schneider

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