Winston Smith ist ein Mann ohne Geschichte. Seine Eltern kennt er kaum, da er im Heim aufwuchs, an seine Kindheit kann er sich fast nicht erinnern. Er ist 39 Jahre alt, lebt in London, der Hauptstadt Ozeaniens, und ist beschäftigt im Ministerium für Wahrheit. Smiths größte Freude in seinem kargen Leben ist die Arbeit. In einem Land, das vom „Big Brother“ beherrscht wird, ist es Smiths Aufgabe, das Archivmaterial des Ministeriums im Sinne der gegenwärtigen politischen Wahrheit zu manipulieren. Smith schreibt alte Zeitungsartikel um, Bücher, Akten. Er bearbeitet Filmmaterial und Fotos so gekonnt, dass man nicht merkt, wenn sie rückwirkend verändert wurden. „Einen Tag um den anderen und fast von Minute zu Minute wurde die Vergangenheit mit der Gegenwart in Einklang gebracht (…). Die ganze Historie stand so gleichsam auf einem auswechselbaren Blatt, das genauso oft, wie es nötig wurde, radiert und neu beschrieben werden konnte“.[1] In George Orwells Roman „1984“, verfasst im Jahre 1949, wird nicht nur die Zukunft zum Gegenstand dystopischer Betrachtung, sondern auch die Vergangenheit, die Frage der historischen Wahrheit, von Faktizität, Aussagekraft archivalischer Quellen und letztlich auch der Beruf des professionellen Vergangenheitsdeuters – des Historikers. Die Parallelen in die heutige Zeit sind kaum zu übersehen. Vielfach hat die technische Entwicklung sogar Orwells kühnste Albträume bei weitem übertroffen. Fake News, Bots, Trolle, Wahlbeeinflussung über soziale Medien, Gesetze über die offiziell zulässige Interpretation des Holocausts wie zuletzt in Polen – die Welt ist ungleich komplexer geworden und die Geschichte zunehmend zum Instrument politischer Legitimation.
Der französische Historiker Frédéric Sallée versucht mit seinem neuesten Werk „La mécanique de l’histoire“ genau auf diese jüngste Entwicklung eine Antwort aus Sicht der Geschichtswissenschaft zu geben. Im handlichen Format von 218 Seiten legt Sallée die Mechanismen der Geschichte als Wissenschaft aber auch als historischem Prozess dar und verortet den Historiker zwischen beidem. Dabei ist sein Buch alles andere als abstrakt. Es entstand aus Sallées Erfahrungen als Gymnasiallehrer, Universitätsdozent und Internetnutzer im Umgang mit der Geschichte und den gängigen Vorurteilen ihr gegenüber. Daher ist sein Buch auch ein wenig unakademisch strukturiert und sehr didaktisch aufgebaut. So gibt der Autor dem Leser eine ausführliche Definition der Geschichte an die Hand, ein Glossar wichtiger geschichtswissenschaftlicher Konzepte, eine sehr auf das Wesentliche verdichtete Bibliographie und zwischendurch immer wieder kurze Info-Kästen. Das Buch orientiert sich weniger als vergleichbare deutsche Publikationen[2] am rein (inner-)universitären Diskurs, sondern sucht den Dialog zwischen Wissenschaft und Geschichtsinteressierten aller Art. Insbesondere richtet es sich an Studienanfänger. Sallées Monographie ist in fünf Haupt-Kapitel mit mehreren Unterkapiteln unterteilt. Der Autor beleuchtet hier die Ursprünge und Grundprinzipien der Geschichtswissenschaft von der Antike bis zur Gegenwart und stellt die praktische Arbeit des Historikers und dessen Quellen vor. Er verortet die Wissenschaft und ihre Protagonisten vor ihrem jeweiligen Zeitgeist, untersucht die Geschichte als Gegenstand des Schulunterrichts, des Universitätsstudiums und des öffentlichen Diskurses und letztlich auch in ihrem Verhältnis zur Politik. Die Unterkapitel sind jeweils in Form kurzer Thesen von ungefähr fünf Seiten Länge verfasst. Sie greifen weit verbreitete Vorstellungen und Vorurteile über die Geschichte auf, die Sallée hinterfragt.
Schreibt der Sieger die Geschichte? Wurden die Frauen von der Geschichtsschreibung vergessen? Ist der Holocaust im Geschichtsunterricht überrepräsentiert? Gibt es eine Pflicht zur Erinnerung? Haben die Menschen aus der Geschichte nichts gelernt? Sallées Rundumschlag holt weit aus. In einer engagierten Einleitung hebt der Verfasser die Verantwortung des Historikers für seine Gegenwart hervor. Die Zeiten, da man sich als Gelehrter in der Bibliothek vergraben konnte, seien vorbei, die Geschichte sei mittlerweile durch die neuen Medien omnipräsent und bedürfe von daher einer ständigen Einordnung und Interpretation durch Fachleute. Sallée ruft gar das Zeitalter des „homo historicus“ aus und unterstreicht abermals die Wichtigkeit des Geschichtswissenschaftlers im 21. Jahrhundert. Welch ein Balsam für die generell wunde Seele der Historikerzunft, die sich gesellschaftlich immer wieder für ihre Daseinsberechtigung verteidigen muss.
Sallée versucht den Blick auf die Geschichte zu weiten, festgefügte Vorstellungen zu durchbrechen und ein Tiefenverständnis für das Fach zu erzeugen. So bemüht er sich immer wieder den nationalen und eurozentrischen Horizont des Faches zu überwinden. Auch wenn sein Werk aus einer sehr französischen Perspektive verfasst ist, zeigt Sallée durchgehend auf, dass Geschichte und Geschichtsschreibung kein rein europäisches Phänomen sind. So setzt er beispielsweise der antiken griechischen und römischen Historiographie die zeitgenössische chinesische des Historikers Sima Quian entgegen oder hinterfragt die weltweite Gültigkeit der europäischen Epocheneinteilung in Antike, Mittelalter, Neuzeit. Sallée zeigt auf, dass nicht nur Sieger die Geschichte schreiben, sondern auch die Verlierer dem ihre eigenen Interpretationen entgegensetzen. So wurde beispielsweise die Niederlage des Vercingetorix gegen Julius Cäsar bei der Schlacht von Alesia 52 v. Chr. im 19. Jahrhundert zum Einigungsmythos der französischen Nation umgeschrieben und der gallische Fürst machte gleichsam Karriere vom Besiegten zum tragischen Helden.
Manchmal jedoch stößt das von Sallée gewählte Format an seine Grenzen und man würde sich eine vertiefte Diskussion statt einer einführenden Überblicksdarstellung wünschen. Das gilt insbesondere dann, wenn aktuelle und kontroverse Debatten innerhalb der Geschichtswissenschaft und in der Auseinandersetzung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit thematisiert werden. Dies zeigt sich beispielsweise bei der Rolle der Frau in der Wissenschaft. Sicherlich hat sich in den letzten Jahrzehnten mit der Entstehung der Gender Studies und der Frauengeschichte hinsichtlich der Sichtbarkeit der Frau in der Geschichte schon viel getan. Dennoch ist fraglich wie überzeugend Sallées generell großer Fortschrittsoptimismus in Sachen Geschlechtergleichheit angesichts der miserablen Zahlen von Frauen in universitären Führungspositionen ist. Insbesondere sein Exkurs zu Historikerinnen in Afrika wirkt in seiner verkürzten Darstellung problematisch. Zum einen unterläuft Sallée ein Fehler, indem er die weiße Südafrikanerin Sylvia Neame fälschlich zur person of colour erklärt (S. 115). Zum anderen scheint es aus dem Kontext gerissen, wenn er von den internationalen Wissenschaftskarrieren von Florence Mahoney und Nwando Achebe eine begrüßenswerte Entwicklung in der afrikanischen Wissenschaftslandschaft ableitet. Angesichts der grundsätzlichen Frauenrechtssituation in weiten Teilen dieses Kontinentes ist dies nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein.
Sallées Optimismus, der das ganze Werk durchzieht und ihm auch seine angenehme und anregende Lesbarkeit verschafft, ist vielleicht das einzige, was man ihm an manchen Stellen vorwerfen kann. Abgesehen hiervon jedoch wäre eine deutsche Übersetzung absolut wünschenswert, weil diese eine Lücke auf dem Feld der Einführungsliteratur und Disziplinen-Kritik der Geschichte schließen würde. Wenn man sich mancherorts mehr Raum für weitergehende Diskussionen erhoffen würde, so hat Sallée sein Ziel erreicht. Es ist nicht die Aufgabe seines Buches, alle angerissenen Probleme und Fragestellungen bis ins Letzte auszudiskutieren. Sallée will zum Denken selbst anregen und sein Werk möchte als erster Schritt in Richtung der Auseinandersetzung mit der Geschichte dienen. Hat Sallées Buch bei der Lektüre nicht nur alte Fragen beantwortet, sondern auch neue aufgeworfen, wäre dies, wie der Franzose sagen würde, tant mieux!
Winston Smith hätte Sallées Buch sicherlich sehr geholfen. Doch auch so setzte er sich durch eine Kette von Ereignissen erstmals kritisch mit seiner Zeit, seiner Gesellschaft und seinem Land auseinander. Smith begann nach der Lektüre eines Schulbuches das offizielle Geschichtsbild Ozeaniens, an dessen Fälschung er selbst so lange mitgewirkt hatte, zu hinterfragen. Bei der Begegnung mit einem älteren Herrn vor einer Gastwirtschaft fasste er einen folgenreichen Entschluss: „Plötzlich fiel Winston wieder die Stelle ein, die er aus dem Geschichtsbuch in sein Tagebuch übertragen hatte, und ein toller Impuls ergriff von ihm Besitz. Er würde in die Kneipe gehen, mit dem alten Mann Bekanntschaft schließen und ihn ausfragen. Er würde zu ihm sagen: ‚Erzählen Sie mir von Ihrem Leben, aus Ihrer Kindheit. Wie sah es damals aus? War alles besser als heute? Oder war es vielleicht schlechter?‘“[3] Wie eine Gesellschaft ohne Historiker aussehen könnte, zeigt George Orwell somit mehr als eindrücklich auf. Dass man diesem Albtraum jedoch etwas entgegensetzen kann, zeigt zum Glück das Buch von Frédéric Sallée.
Frédéric Sallée, La mécanique de l’histoire, Paris 2019, 979-1031-8038-52.
[1] George Orwell, 1984. Ein utopischer Roman, Zürich 1964, S. 19.
[2] Blum, Harmut/Wolters, Reinhard, Alte Geschichte studieren, Konstanz 2006; Jordan, Stefan, Einführung in das Geschichtsstudium, Ditzingen 2019; Jordan, Stefan (Hrsg.), Grundbegriffe der Geschichtswissenschaft, Ditzingen 2019.
[3] Orwell, 1984, S. 39.
Zitierweise:
Glahé, Philipp: Rezension zu „La méchanique de l’histoire”. Von Frédéric Sallée, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 30.03.2020, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2020/03/la-mecanique-de-lhistoire/
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