Patrick Leukel nimmt in seiner voluminösen Arbeit, die 2019 bei Schöningh in Paderborn erschienen ist, eine hervorragende und detaillierte Analyse des Reichsheeres im Neusser Krieg von 1474/75 vor. Das Buch stellt die überarbeitete Fassung seiner 2015 in Mainz eingereichten Dissertation dar und ist neben Einleitung und Fazit in acht Hauptkapitel gegliedert:
- Theoretischer Zugang und Vorüberlegungen
- Aspekte des Kriegswesens im 15. Jahrhundert
- Der historische Rahmen: Das Reich – Burgund – Neuss
- Politische Initiative zur Aufstellung des Reichsheeres von 1474/75, dessen Sammlungsprozess und Umfang
- Rechte und Pflichten gegenüber Kaiser und Reich? Die Motivation der Teilnehmer am Neusser Krieg
- Zusammensetzung, Funktionsweise und Struktur fürstlicher und adliger Kontingente
- Zusammensetzung, Funktionsweise und Struktur städtischer Kontingente
- Reichsheer und Reich – Akteure, Strukturen, Organisation
Im Fokus dieser Rezension stehen vor allem jene Aspekte der Arbeit, die die rheinischen Territorien und die Stadt Köln als maßgeblichen Akteur im Neusser Krieg 1474/75 betreffen. Dieser Konflikt, anfänglich noch ein Streit zwischen Erzbischof Ruprecht einer- und Domkapitel und kurkölnischen Landständen andererseits, erhielt durch das Eingreifen Herzog Karls des Kühnen von Burgund sowie von Kaiser und Reich überregionale, wenn nicht europäische Dimensionen. Karls Eingreifen zugunsten des Erzbischofs am Niederrhein traf zunächst die Stadt Neuss, hatte aber als eigentliches Zentrum der Opposition Köln. Der hartnäckige Widerstand der Neusser, die ihre Mauern bis zum Eintreffen des Reichsheeres im Mai 1475 hielten, ließ alle weitere Pläne von Herzog und Erzbischof jedoch scheitern.
Leukel liefert die erste umfassende Darstellung eines Reichsheeres überhaupt, für die er als modernen Ansatz eine „netzwerkanalytische Perspektive“ (S. 3) wählt, um das „Reichsheer als soziales Gefüge“ (S. 3) darstellen zu können. Dabei stützt er sich vor allem auf „Kommunikationsquellen und die pragmatische Schriftlichkeit“ (S. 7). Zunächst hält Leukel fest, dass der Terminus ‚Reichsheer‘ kein Quellenbegriff ist, sondern in den mittelalterlichen Quellen vielmehr die Bezeichnungen ‚Anschlag‘, ‚Hilfe‘ oder schlicht ‚Reich‘ benutzt wurden (S. 24). Ausschlaggebend für die Bezeichnung eines Aufgebots als ‚Reichsheer‘ ist dessen Verbindung zum Kaiser. Niemals wurde ein Reichsheer gegen einen Kaiser aufgestellt, manchmal jedoch unabhängig von einer kaiserlichen Initiative (S. 33-34). Als für das 15. Jahrhundert gültige idealtypische Definition von ‚Reichsheer‘ formuliert er wie folgt, auch wenn kein Reichsheer je alle der genannten Kriterien erfüllte:
„Ein Reichsheer (im 15. Jahrhundert) wurde auf Grundlage von gegebenenfalls neu erarbeiteten Reichsmatrikeln und durch Verhandlungen zwischen Ständen und Kaiser auf einem allgemeinen Tag aufgestellt. Anlass für die Aufstellung musste eine (zumindest als solche wahrgenommene) Bedrohung der Integrität bzw. Autorität und Dignität des Reiches sein. Die Dualität von Kaiser und Reich spiegelte sich nicht nur durch die Mitwirkung beider Seiten bei der Aufstellung, sondern auch durch die Beteiligung einer breiten Basis von Reichsgliedern am eigentlichen Kriegszug wider. Diese Beteiligung wurde wiederum vom Kaiser unter Berufung auf die Beschlüsse des entsprechenden Tages eingefordert. Es versteht sich, dass dies nicht bedeutete, dass Kaiser oder Fürsten persönlich anwesend waren. Gerade ersterer schickte gerne Vertreter oder legitimierte einen der anwesenden Fürsten zu seinem Gesandten bzw. Hauptmann. Ein Kriterium, das trivial erscheint, muss hier dennoch genannt werden. Das Heer musste auch tatsächlich in der Realität aufgestellt werden. Zahlreiche Beispiele belegen, dass zwar die Aufstellung eines Heeres auf einem Tag beschlossen und bewilligt wurde, es jedoch nicht zur Aufstellung eines Heeres kam.“ (S. 36)
Im Folgenden umschreibt Leukel, weitgehend basierend auf der Forschungsliteratur, das Kriegswesen des 15. Jahrhunderts, das er als Umbruchsphase der Heeresaufbringung zwischen Lehens- und Söldnerheer charakterisiert (S. 92). Die eigentliche Handlung des Neusser Krieges, der Konflikt im Kölner Erzstift zwischen Erzbischof Ruprecht von der Pfalz und den Landständen, das Eingreifen Herzog Karls des Kühnen von Burgund und der Hergang der Belagerung von Neuss bis zum Eintreffen des Reichsheeres, fasst er gemäß dem Zuschnitts seiner Arbeit ebenfalls nur zusammen. Dabei stellt er u. a. heraus, dass die Stadt Köln das eigentliche Ziel des Burgunders gewesen sei und Neuss allein der Vorbereitung dieses finalen Schlags dienen sollte (S. 121).
Nach diesen einführenden Kapiteln widmet Leukel sich dem zentralen Gegenstand seiner Arbeit und untersucht zunächst die Aufstellung des Reichsheeres. Auch hier hebt er die Rolle der Stadt Köln als wichtige Triebfeder hervor, die diverse Reichsfürsten zur Hilfe bewegen konnte (S. 155). So kam es auch, dass Kaiser Friedrich III. Ende des Jahres 1474, als er die Hauptleute des sich sammelnden Reichsheers bestimmte, neben den Erzbischöfen Adolf von Mainz und Johann von Trier auch den Kölner Rat in diese prestigereiche Stellung erhob (S. 175). Zugleich betont Leukel aber auch die Beharrlichkeit und das Engagement Friedrichs III. für die Aufbringung des Heeres und revidiert so das in der älteren Forschung vorherrschende Bild vom untätigen Herrscher (S. 178, 225).
Eines der (aus regionaler bzw. kölnischer Perspektive) interessantesten Kapitel in Leukels Arbeit ist jenes, dass die Zusammensetzung, Funktionsweise und Struktur städtischer Kontingente thematisiert (S. 333-390). Es beschreibt, wie die Kölner im Juli und August 1474 ein großes Heer aufstellten, in dem nicht nur die Außenbürger der Stadt, sondern auch einzelne Adelige und Kölner Patrizier dienten (S. 345). Anfang Februar 1475 befahl Friedrich III. den Kölnern das Ausrücken auf die rechtsrheinisch Neuss gegenüberliegenden ‚Steine‘. Als Zweck dieses Aufmarsches benennt er die moralische Unterstützung der Belagerten und die Störung des burgundischen Nachschubs. Dieses Heer sei jedoch „einerseits zu weit entfernt und andererseits zu schwach“ (S. 348) gewesen, um den Burgundern vor Neuss ernsthaft gefährlich zu werden. Das Reichsheer, dessen Gesamtgröße er auf mindestens 35.000 bis 40.000 Mann (S. 221) beziffert, erreichte Köln zwischen dem 13. und dem 20. März 1475. Es war in sechs Abteilungen gegliedert, von denen eine allein die Stadt Köln mit etwa 4.000 Mann stellte. Damit hatte die Kölner aufgrund ihrer großen Leistungen „eine Sonderstellung unter den städtischen Kontingenten im Reichsheer“ (S. 410).
In seinem Fazit hebt Leukel nochmals die Rolle der Stadt Köln hervor, die er als „Hauptfinanzier des Krieges“ (S. 502) würdigt. Der Stadt sei es aufgrund ihrer geschickten politischen Agitation gelungen, „Personen im Umfeld des Kaisers und des Führungszirkels des Reichsheeres zu gewinnen oder zu platzieren, über die man Einfluss ausüben konnte“ (S. 529).
Das Reichsheer als solches, so resümiert er letztlich, könne als Repräsentation des Reiches gesehen werden:
„Das Reich zeigte sich durch das Reichsheer symbolisch, aber auch ganz pragmatisch als handlungsfähige Einheit. Zugleich war das Reichsheer in diesem Sinne ein Spiegel des Reiches. Wer am Reichsheer teilnahm, zählte sich selbst zum Reich und gleichzeitig zum Herrschaftsverband des Kaisers. Wer eine wichtige Funktion im Reichsheer wahrnahm, hatte ebenfalls eine wichtige Stellung und Gewicht in der Reichspolitik und umgekehrt. Es spiegelte sich hier nicht nur die Verfasstheit des Reiches, sondern auch der herrscherliche Personenverband, die politischen und soziojuristischen Beziehungen, Interessensgemeinschaften und allgemein eine Momentaufnahme der Reichspolitik wider. Wichtige politische Akteure, die zugleich als Partner Friedrichs III. in der Reichspolitik agierten, waren ebenfalls entscheidende und systemrelevante Bestandteile des Reichsheeres. Sie trugen mit dem Kaiser entscheidend zum Erfolg des Reichsheeres bei. Die Eigenschaften des politischen Systems des spätmittelalterlichen Reiches bedingten auf diese Weise die Struktur des Reichsheeres. Aus dem Defizit an handlungsfähigen Institutionen auf Reichsebene resultierten die Mechanismen der Heeraufbringung, Organisation und Führung des Reichsheeres. Die Frage nach der Funktion des Reichsheeres verweist damit auf die Frage nach der Funktion des politischen Systems des Reiches. Erst die zukünftige Schaffung von Institutionen und festen Verfahrensweisen (spätestens seit 1521) im Verbund mit der noch stärkeren Fiskalisierung der Kriegsführung sollte zu nachhaltigen Veränderungen auf Reichsebene führen. Für das Reichsheer von 1474/75 galt dies noch nicht. Es war eben kein ‚Staat im Staate‘ (oder in unserem Zusammenhang besser ‚Reich im Reiche‘), sondern ein repräsentatives Abbild des Reiches.“ (S. 531)
Patrick Leukel ist mit seiner Darstellung des Reichsheeres im Neusser Krieg ein wichtiges Werk der modernen Militärgeschichte gelungen, das sich zudem durch die Einbindung der Netzwerkanalyse um die methodische Bereicherung der Disziplin bemüht. Unabhängig davon, ob man diesen (nicht nur im methodologischen Vorwort pro forma vorgebrachten) Ansatz als fruchtbaren Zugang adaptieren möchte, ist seine Arbeit auch aus der rheinischen und kölnischen Perspektive als Beitrag zur Geschichte des Neusser Krieges überaus wertvoll und empfehlenswert.
Patrick Leukel, „all welt wil auf sein wider Burgundi“. Das Reichsheer im Neusser Krieg 1474/75 (Krieg in der Geschichte, Bd. 110), Paderborn 2019, Schöningh, 594 S., 148,00 €, ISBN 978-3-506-70914-1.
Zitierweise:
Jansen, Markus: Rezension zu „’all welt wil auf sein wider Burgundi’. Das Reichsheer im Neusser Krieg 1474/75″. Von Patrick Leukel, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 01.08.2019, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2019/08/all-welt-wil-auf-sein-wider-burgundi/
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