Das ehemalige Parlaments- und Regierungsviertel in Bonn. Topografie einer Demokratie

Über 25 Jahre nach dem Umzug der Bundesregierung nach Berlin ist die Gestalt des ehemaligen Bonner Parlaments- und Regierungsviertels – inzwischen oder immer noch – offenbar nur wenig vertraut. Wie sonst ist es zu erklären, dass außerhalb Bonns gelegentlich angenommen wird, dort seien 1999 „die Lichter ausgegangen“, während doch viele Bundeseinrichtungen weiterhin in Bonn präsent sind und in dem Stadtteil seitdem durch Unternehmen und internationale Organisationen Tausende neue Arbeitsplätze entstanden sind? Auch wissenschaftliche Literatur zur Entwicklung des zweifellos historisch bedeutsamen Stadtteils existiert nur vergleichsweise wenige. Die Publikationen aus den 1980er und 1990er Jahren blieben – von heute betrachtet – allzusehr einer zeitgebundenen Architekturkritik verpflichtet. Seit 2010 entstanden dann ein kleiner Katalog zu einem studentischen Ausstellungsprojekt[1], eine Überblicksarbeit zur Bautätigkeit des Bundes in den Nachkriegsjahrzehnten von Elisabeth Plessen[2], die allerdings nicht auf Bonn fokussiert ist, und innovative Einzelstudien wie die von Merle Ziegler über den Neubau für das Bundeskanzleramt in Bonn[3].

Somit wäre in den Bibliotheken noch Platz für ein Standardwerk, das den Baubestand umfassend beschreibt und dessen historische Entwicklung darstellt und deutet. Angelika Schyma und Elke Janßen-Schnabel, die beide langjährige leitende Mitarbeiterinnen des LVR-Amtes für Denkmalpflege im Rheinland waren, haben nun eine umfangreiche Denkmaltopografie zum Bonner Parlaments- und Regierungsviertel vorgelegt, die gleichwohl bescheiden als „Arbeitsheft“ auftritt. Wie im Vorwort zu erfahren ist, hat das Denkmalpflege-Fachamt den dortigen Baubestand bereits seit den 1980er Jahren analysiert. Im Jahr 1998, also dem erwartbaren Veränderungsdruck wegen des Regierungsumzuges noch zuvorkommend, lag sogar bereits ein Gutachten für einen rechtskräftigen Denkmalbereich Bonner Parlaments- und Regierungsviertel vor, der allerdings bislang nicht umgesetzt worden ist.

Der Ansatz der nun auf den Vorarbeiten aufbauenden Publikation von Schyma und Janßen-Schnabel ist der einer denkmalpflegerischen Inventarisation. Während die Baugeschichte des Viertels vielfältige Fragen hinsichtlich baulicher Repräsentation der Demokratie oder der Rezeptionsgeschichte der Bundesbauten zulässt – wie sie von Plessen und Ziegler auch behandelt worden sind – steht hier die Erfassung des Baubestandes klar im Vordergrund. Zwei Drittel der Publikation macht daher ein Katalog von Einzelbauten aus, der sich keineswegs auf bereits eingetragene Baudenkmäler beschränkt. Er wird ergänzt durch ein Kapitel zu bereits „abgegangenen“ (also schon abgerissenen) Bauten und einer Übersicht zu bis ins Jahr 2000 im öffentlichen Raum des Untersuchungsbereichs aufgestellten Kunstwerken.

Dem Katalogteil vorangestellt sind je ein ausführlicher, programmatischer Einführungsartikel der beiden Verfasserinnen. Schyma beschäftigt sich mit den historischen Entstehungsbedingungen des Parlaments- und Regierungsviertels und stellt dessen Planungsgeschichte bis ins Jahr 1992 vor, für die sie zudem eine hilfreiche Periodisierung anbietet. Sie erwähnt die überwiegend negative Presse, die kritischen Urteile zur Bonner Staatsarchitektur, die zum jeweiligen Zeitpunkt in Teilen ihre Berechtigung hatten, dann aber noch lange weiter tradiert worden sind. Die Entscheidung für den Umzug nach Berlin sei jedoch zu einem Zeitpunkt gefallen, „als Bonn längst seinen Provisoriumscharakter abgestreift hatte“, denn tatsächlich waren die 70er und 1980er Jahre von umfassenden Planungs- und Bautätigkeiten geprägt gewesen, deren anspruchsvollste Zeugnisse die von der Planungsgruppe Stieldorf entworfenen Hochhäuser der Bundesministerien („Kreuzbauten“) sowie der Neubau für den Bundestag nach Plänen des Architekturbüros Günter Behnisch („ehemaliger neuer Plenarsaal“) sind. Gleichwohl, so Schyma, zeichne sich das Viertel – dessen Baugebiet sich auf um 1949 entstandenen Fotografien noch „als eine Art Schrebergartenidylle“ zeige – bis heute durch einen „Konglomerat“-Charakter aus. Gerade diese in den Nachkriegsjahrzehnten entstandene städtebauliche Struktur begreift Schyma als charakteristisch und schützenswert. Daher beklagt sie, dass aufgrund von Abrissen und Neubebauungen diese „gewachsenen Strukturen des Regierungsviertels“ heute „kaum noch“ zu erkennen seien. Die Argumente sind nachvollziehbar, doch rechtfertigen es die begrenzten Verluste und Veränderungsprozesse im Viertel wirklich, von einer „Auslöschung“ zu sprechen? So kommt es wohl, dass unterschwellig auch ein wenig „Bonner Republik“-Nostalgie kommuniziert wird: Eine Abbildung aus dem Jahr 1999 im Artikel von Schyma zeigt den direkt vor dem Plenarsaal geparkten „PKW der Verfasserin“, ein schickes Nachkriegsmodell mit H-Kennzeichen.

Daher erscheint es zunächst überraschend, wenn Elke Janßen-Schnabel anschließend darlegt, dass das Parlaments- und Regierungsviertel „trotz aller Veränderungen“ heute weiterhin „die Kriterien eines Denkmalbereiches“ erfülle. Die „Idee des Regierens“ habe hier „über die Jahrzehnte einen eigenen baulichen Ausdruck gefunden“ und das Viertel sei zum Ende des Betrachtungszeitraumes „zu einer städtebaulichen Gesamtheit mit eigener Identität“ geworden. Janßen-Schnabel klärt und aktualisiert den Zuschnitt eines möglichen Denkmalbereiches und betont wie Schyma, dass für diesen „das Miteinander“ einer heterogenen Menge von Bauten konstitutiv sei, zu der auch die erhaltenswerten (also nicht selbst denkmalwerten) Baubestände hinzuzurechnen seien.

Der Katalogteil umfasst selbstverständlich die einschlägig bekannten Bauten für die Verfassungsorgane, die seit 1949 am Rhein zwischen dem Bonner Zentrum und dem 1969 eingemeindeten Bad Godesberg entstanden sind. Hinzu kommen unter anderem die schon vor dem zweiten Weltkrieg erbauten Villen am Rheinufer, deren Umbau- und Nutzungsgeschichte während der Zeit der Bonner Republik erschlossen wird. Plausibel und hilfreich erscheint es, dass dem Parlaments- und Regierungsviertel zum Beispiel auch die drei Ausstellungshäuser der Museumsmeile und die U-Bahn-Stationen von 1975 zugerechnet werden – und nicht zuletzt die 1959 eröffnete Synagoge, die symbolträchtig direkt neben dem Auswärtigen Amt und nicht weit von der durch den Bundespräsidenten genutzten Villa Hammerschmidt errichtet worden war. Die Leserinnen und Leser können sich darüber hinaus selbst ein Bild machen vom Umfang der inzwischen abgerissenen Bausubstanz. Qualitativ, das lässt sich mit dieser Übersicht erkennen, ragen hierunter die Villa Dahm (zuvor genutzt durch die Parlamentarische Gesellschaft), das Laubenganghaus (mit Appartements für Parlamentarier) und die Landesvertretung Niedersachsen heraus.

Ganz ohne kleine Mängel kommt der Katalog nicht aus. Trotz ihres Namens ist die Bundespressekonferenz keine Bundeseinrichtung, wie es hier suggeriert wird. Die steckbriefartigen Kurzprofile der Bauten sind stellenweise nicht gründlich redigiert worden und manchmal lassen die Baubeschreibungen es an begrifflicher Präzision fehlen: Der Ausdruck „Giebelseite“ beispielsweise trägt bei einem „Flachdachbau“ sicherlich nicht zur Orientierung bei. Für das Verständnis des Abgeordnetenhochhaus („Langer Eugen“), das heute als Teil des Bonner UN-Campus eingezäunt ist, wäre eventuell der Hinweis wichtig gewesen, dass die dortige Kantine im obersten Stockwerk anfänglich als öffentliche Einrichtung betrieben worden ist. Die Pädagogische Akademie, der Ursprungsbau des späteren Bundeshauses, wird nur sehr knapp in seiner äußeren Gestalt beschrieben. Dass der Akademie-Bau im Bonn der Weimarer Republik stilistisch geradezu singulär erschienen sein muss, wie er in das Neue Bauen der frühen 1930er Jahre einzuordnen ist und dass er in der Nachkriegszeit einen symbolischen Anschluss an die erste deutsche Demokratie ermöglichte  – alle diese Punkte werden mit der etwas lapidaren Zuordnung des Bauwerks zu einem „Bauhausstil“ vorläufig zurückgestellt.

Ein Referenzwerk ist diese Publikation geworden, sie bietet sich an als gewichtiger Ausgangspunkt für die weitere Auseinandersetzung mit dem historisch geprägten Stadtteil und als verlässliche Quelle für die historische und baukulturelle Vermittlungsarbeit. Zugleich lässt sie aber weiterhin Raum für Untersuchungen mit anderen Interessenlagen als jener der denkmalpflegerischen Inventarisation.

Angelika Schyma und Elke Janßen-Schnabel, Das ehemalige Parlaments- und Regierungsviertel in Bonn. Topografie einer Demokratie (Arbeitsheft der rheinischen Denkmalpflege 87, hg. v. Landeskonservatorin Dr. Andrea Pufke), Petersberg 2024; ISBN 978-3-7319-1398-6


[1] Bauen für die Bundeshauptstadt, hg. v. Martin Bredenbeck/Constanze Moneke/Martin Neubacher, Bonn 2011.

[2] Elisabeth Plessen, Bauten des Bundes 1949–1989. Zwischen Architekturkritik und zeitgenössischer Wahrnehmung, Berlin 2019.

[3] Merle Ziegler, Kybernetisch regieren. Architektur des Bonner Bundeskanzleramtes 1969–1976, Düsseldorf 2017.

Zitierweise:
Kleinschrodt, Alexander: Rezension zu “Angelika Schyma/Elke Janßen-Schnabel: Das ehemalige Parlaments- und Regierungsviertel in Bonn. Topografie einer Demokratie”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 06.11.2025, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2025/11/rezension-parlaments-regierungsviertel-bonn-kleinschrodt