Die Bonner Republik. Vier Jahrzehnte Westdeutschland | 1949-1990
Beginnend mit einer Fotographie des zerstörten Reichstags ohne Kuppel (1955) sowie des zerstörten Hamburg 1945 schlägt der Bildband den Bogen über einundvierzig Jahre der “Alten Bundesrepublik“ zu einer Fotographie der sich 1998 in Bau befindenen neuen Reichstagskuppel als architektonisches Symbol des Übergangs von der Bonner zur Berliner Republik. Der Band gliedert sich in drei chronologische Kapitel: 1. „Aufbau (1949-1969): Die CDU-dominierte Phase Adenauer, Erhard, Kiesinger“, 2. „Renovierung (1969-1982): Die sozialliberale Phase Brandt und Schmidt“ und schließt mit 3. „Restaurierung (1982-1990): Die christlich-liberale Phase Kohl bis zur Wiedervereinigung“. Jedes Kapitel besteht aus drei wiederkehrenden Elementen: einem Essay mit politikgeschichtlichem Fokus von Prantl, den Fotographien und einigen schriftlichen Quellen. An der Stelle gilt es festzuhalten, dass es nicht der Anspruch des Bandes ist eine wissenschaftliche Darstellung anzubieten. Dementsprechend gibt es auch keine Fußnoten, wenn auch Belege der Zitate nützlich wären (z.B. S. 19, 21,191).
Die Auswahl der 338 Fotographien, darunter sowohl Presse-, Kunst- als auch Privatfotographien von u.a. Barbara Klemm, Will McBride und Jupp Darchinger, Andreas Gursky, F.C. Gundlach und Robert Lebeck, wurde durch die Fotographen und Mitherausgeber Reinhard Matz und Wolfgang Vollmer getroffen. Sie besticht durch die Mischung aus weitbekannten, fast Ikonischen Fotos z.B. des sterbenden Benno Ohnesorg (S. 172), Willy Brandts Kniefall (S. 190), die Vereidigung von Joschka Fischer in Turnschuhen (S. 307) sowie Fotographien mit Szenen aus dem Alltag — darunter: ein lesender Mann im Café (S. 179 ), Straßenszenen (S. 43), oder Supermarktaufnahmen (S. 290) —, der Architektur und Stadtansichten (z.B. S. 184). Hinzukommen prägende Ereignisse der jungen Bundesrepublik wie die Deutsche Teilung (S. 63), der Bau der Berliner Mauer (S. 132), der Auschwitz-Prozesse (S. 143) oder der Kennedy-Besuch (S.133) oder auch Industriestandorte als symbolische Orte des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunder (z.B. VW-Werk S. 75). Einen nicht unwesentlichen Teil der Fotographien kann man als Teil des „ausgefeilten Bildprogramm[s]“ der Bonner Republik verstehen.[1]
Ein erläuternder Einführungstext in die Bildauswahl — die durch die Natur des kuratorischen Aktes immer einen subjektiven Charakter hat — wäre wünschenswert gewesen. Leider sind die Fotographien weder inhaltlich oder chronologisch angeordnet, sondern lediglich dem jeweiligen Kapitel zugeordnet, sodass ein Nachvollziehen konkreter Entwicklungen anhand der ausgewählten Fotographien nur eingeschränkt möglich ist. Die Bilder sind zum Teil betitelt, an anderer Stelle kommentiert. Es bleibt fraglich, ob die teils oberflächlichen Kommentare, wie etwa auf Seite 188 zu einer Fotographie von öffentlichen Telefonzellen („Es werden noch mehr Briefe verschickt als Telefonate geführt.“), tatsächlich eine einordnende Funktion erfüllen. Dies ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass sich der Bildband in erster Linie an interessierte Lai*inen richtet. Die ausgewählten Fotographien erzeugen ein durchaus ambivalentes Bild der Bonner Republik. Da nur teilweise auf die Produktions- und Rezeptionsbedingungen der Fotographien eingegangen wird, bleibt der Band größtenteils auf der Ebene der Abbildung stehen und reflektiert kaum, inwieweit insbesondere die bekannteren Fotographien die Wahrnehmungsmuster prägen und bestimmte Deutungsweisen transportieren.[2] Dies erweckt den Eindruck, dass die Auswahl mit der politischen Agenda — dem Appell zum Beschützen der bundesdeutschen Demokratie — der Essays korrespondieren soll.
Die visuellen Quellen werden durch schriftliche ergänzt, um anhand z.B. musik-, literaturgeschichtlicher und technologischer Entwicklungen die gesellschaftliche Atmosphäre der Zeit zu vermitteln. Unter den zwölf ausgewählten Autor*innen finden sich neben Martin Walser, Günter Grass und Peter Schneider nur zwei weibliche Autorinnen Flying Lesbians (erste deutsche Frauenrockband, gegründet 1974) und Erica Jong (US-amerikanische Schriftstellerin). Nur punktuell werden Bild, Quelle und Text wie im Fall des Ausschnitts aus „Ganz unten“ von Günter Wallraff (S.305) ausführlich aufeinander bezogen. Dies bereichert den Band maßgeblich und es ist schade, dass nicht alle schriftliche Quellen in dieser Art eingebunden sind.
Neben den Fotographien liegt in der Konzeption des Bandes ein offensichtlicher Fokus auf den politischen Essays von Heribert Prantl. Der gelernter Jurist, Historiker und ehemalige Ressortleiter sowie Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung interpretiert in meinungsstarkem Schreibstil das Geschehen der “Alten Bundesrepublik”. Dabei steht die Frage im Vordergrund, welche Ereignisse und Entscheidungen — insbesondere durch die Bundeskanzler — zur Stärkung oder Schwächung der Bundesrepublik beigetragen haben. Gleich zu Beginn wird Prantls Programmatik deutlich: seine Mahnung, die bundesdeutsche Demokratie zu schützen und nicht zu gefährden. Wie wichtig ihm dieses Anliegen ist, wird durch stark emotional aufgeladene Formulierungen wie „geliebte, verehrte Verfassung“ (S. 13) deutlich. Im ersten Kapitel stellt Prantl mit seiner metaphorischen Einordnung „Schwarz-Rot-Gold: Die deutschen Farben zeigen in schöner Abfolge die Geschichte der Bundesrepublik. Auf das Schwarz der Adenauer-Zeit folgt das Brandt-und-Böll-Rot; darauf das Gold der Wiedervereinigung in der Regierungszeit von Kanzler Kohl.“ (S. 13) zugleich die Abfolge seiner politikgeschichtlicher Essays über seine drei “große Kanzler” von Adenauer über Brandt zu Kohl vor. Erhard und Kiesinger hingegen werden in Text und Bild nur randständig abgehandelt. Es ist eine bekannte Erzählung der Bonner Republik, die kaum Neues bringt und die Prantl für eine Bilanzierung — die Bonner Republik als Erfolgsgeschichte — nutzt, ohne dabei neuere geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse und ambivalente Bewertungen der Bonner Republik zu vernachlässigen. In seiner Darstellung, ausgehend vom Parlamentarischen Rat und den Aushandlungsprozessen um das Grundgesetz, nimmt Prantl zunächst die Gleichberechtigung von Mann und Frau, wie sie u.a. von Elisabeth Segler (SPD) eingefordert wurde, in den Blick und nutzt dies als Ausgangspunkt um die verschleppte Gleichberechtigung zu thematisieren. Im zweiten Kapitel „Renovierung (1969-1982)“ werden die Potenziale dieses Bildbandes durch die engere Verknüpfung von Fotographien und Text deutlich. So widmet sich das Kapitel neben Willy Brandts rethorischen Fähigkeiten schwerpunktmäßig zwei zentralen Schlüsselmotiven der sozialliberalen Phase: Für die Regierungszeit von Brandt ist es der Kniefall in Warschau (S. 190). Für die Regierungszeit von Helmut Schmidt die markiert die Fotographien der Schleyer-Entführung durch die RAF das Ende der „letzten linken Träume von einer Revolution in Deutschland“ (S. 194). Anhand dieser zwei Fotographien und den Ausführungen von Produktionskontext und der zeitgenössischen Rezeption führt Prantl rudimentär aus, inwieweit sie seines Erachtens als Ende des „Konfliktes zwischen Kriegs- und Nachkriegsgeneration“ (S. 194) zu lesen sind. Im dritten und letzten Kapitel nimmt Prantl vor allem zweierlei in den Blick: einerseits Helmut Kohl als Bundeskanzler und dessen von Prantl kritisch betrachtetes Regierungshandeln z.B. 1992 bei der Änderung des Asylgrundrechts sowie dessen „leichtfertigen Umgang mit den Grundvorschriften des Staates“ im Rahmen der Spendenaffäre (S. 280), worin Prantl eine nicht unwesentliche Gefährdung der Demokratie sieht. Anderseits thematisiert das Kapitel die maßgebliche Veränderung der Bundesrepublik durch die Einwanderung im Kontext der „Anwerbeabkommen“ und kritisiert eine fehlende Integrationspolitik der Bonner Republik (S. 283f.), die als Katalysator für rechten Populismus fungiere. Als Leser*in irritiert die Begrifflichkeiten „Altbürger” bzw. “Neubürger“ (S. 284), für Bürger*Innen mit Migrationshintergrund, die nicht nur fragwürdig — da diese Unterscheidung rechte Wir–Sie-Dichotomie reproduziert und auch somit Elemente exkludierender Narrative impliziert aufgreift —, sondern auch erklärungsbedürftig sind. Dies lässt der Autor allerdings offen. Ebenso bleibt der Autor bei der Zählung der „drei deutschen Einheiten“ (S. 284) den Leser*innen bedauerlicherweise eine Erläuterung schuldig. In den abschließenden Absätzen wird noch einmal die Programmatik des Autors deutlich: das Votum für Demokratie und Zusammenhalt unter dem Schutz einer starken Verfassung.
Der Bildband besticht vor allem durch seine hohe Qualität der Abbildungen sowie durch das Miteinander von Fotographien, Essays und schriftlichen Quellen, die neben der Politikgeschichte auch die Gesellschaftsentwicklung der Bonner Republik nachzeichnen. Insgesamt eignet sich der Band als guter Startpunkt für die Auseinandersetzung mit dem Thema „Bonner Republik“ im Sinne der Visual History [3]. Der Bildband lässt sich als Einladung verstehen, die Bonner Republik visuell zu entdecken, aber auch als Prantls persönlicher Appell zur Wahrung der bundesdeutschen Demokratie!
Prantl, Heribert; Matz, Reinhard; Vollmer, Wolfgang (Hrsg.): Die Bonner Republik. Vier Jahrzehnte Westdeutschland 1949 – 1989. Köln 2024. ISBN: 978-3-7743-0974-6
[1] Derix, Simone: Bebilderte Politik. Staatsbesuche in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1990. Göttingen 2009. S. 12.
[2] vgl. hierzu: Paul, Gerhard. Die Bundesrepublik. Eine visuelle Geschichte. Freiburg 2023.
[3] Das Forschungsfeld der Visual History nimmt sowohl die Visualität von Geschichte als auch die Geschichtlichkeit des Visuellen in den Blick. Dabei werden Bilder nicht nur als abbildendes Medium, sondern auch als Wahrnehmungsmuster, Deutungsweisen und Realitäten schaffendes historisches Subjekt verstanden. Einen guten thematischen Einstieg bieten: Britsche, Frank/Greven, Lukas (Hrsg.): Visual History und Geschichtsdidaktik. (Interdisziplinäre) Impulse und Anregungen für Praxis und Wissenschaft, Frankfurt a.M. 2023; Jäger, Jens/Knauer, Martin (Hrsg.): Bilder als historische Quellen? Dimenionen der Debatten um historische Bildforschung, München 2009; Paul, Gerhard: Visual History. Ein Studienbuch. Göttingen 2009.
Zitierweise:
Stasik, Frederice Charlotte: Rezension zu “Prantl, Heribert; Matz, Reinhard; Vollmer, Wolfgang (Hrsg.): Die Bonner Republik. Vier Jahrzehnte Westdeutschland 1949 – 1989.”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 19.05.2025, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2025/04/rezension-bonner-republik-stasik