Bildungsgeschichte(n) an Rhein und Mosel

Band 23 der Reihe „Mainzer Vorträge“ befasst sich in sechs verschriftlichten Beiträgen, die im Rahmen einer Vortragsreihe des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz gehalten wurden, mit der Geschichte der Bildung im Raum um Rhein und Mosel, betrachtet Wissensräume lokal und regional, und dies über einen Zeitraum von ca. 1000 Jahren. Die Nachverfolgung der mosel- und rheinländischen Bildungsgeschichte(n) geschieht, da es sich um einen nicht sehr umfangreichen Band handelt, exemplarisch, indem ausgewählte Themen und Aspekte herausgegriffen werden, die besonders entscheidende Entwicklungsschritte nachvollziehen lassen. Der Vortrag zur römischen Zeit, der diese Bildungsgeschichte(n) abgerundet hätte, konnte leider nicht für den Druck bearbeitet werden, doch stellt ein zusätzlicher Kurzbeitrag im Anhang ersatzweise ein antikes Schulrelief näher vor. Ergänzt werden die Aufsätze durch eine Einleitung, eine Zusammenstellung der Bildnachweise und Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren. Der Band verfügt leider über kein einheitliches Anmerkungssystem. Manche Beiträge enthalten zahlreiche Quellen- und Literaturverweise innerhalb des Texts, andere verzichten, selbst bei wörtlichen Zitaten, fast vollständig darauf, jedoch folgt jedem Beitrag immerhin eine – teils knappe, teils umfangreiche – Zusammenstellung von wichtigen Quellen- und/oder Literaturtiteln.

Dass Bildung kein eindeutiger und schwer definierbarer Begriff ist, sondern „kognitive und emotionale zur Formung von Menschen unverzichtbare Fähigkeiten und Inhalte“, neben gelehrtem auch zweckmäßiges und gesellschaftlich nützliches Wissen umfasst, wird bereits in der Einleitung (S. 7) betont. Ebenso wird auf die zu jeder Zeit erkannte Bedeutung von Bildung und Wissen für den einzelnen Menschen und die Anforderungen an die Bildungs-Vermittler hingewiesen, die den Ausgleich zwischen tradiertem und neuem Wissen herstellen mussten, sowie auf Wissensräume, Institutionen und Vorgaben der Bildungsvermittlung.

Mit den Wegen des gelehrten Wissens im Hoch- und Spätmittelalter, mit Wissens- und Entscheidungsräumen an Kloster- und Stiftsschulen sowie Universitäten befasst sich der Aufsatz von Martin Kintzinger, der einleitend auch auf die Unterschiede zwischen der älteren Bildungsgeschichte, der Wissenschaftsgeschichte und des für seinen Beitrag zentralen Konzepts der Wissensgeschichte eingeht (für Letztgenannte ist auch kulturelles, soziales und Alltagswissen einzubeziehen), außerdem auf Konzepte des „Raums“. Die Tatsache, dass im Mittelalter neben religiösen Vorstellungen auch antikes Wissen übernommen wurde, das man mit mithilfe von über jüdische und arabische Wissenschaftler erlernten Methoden zu überprüfen versuchte, führte zu “einer folgenreichen Horizonterweiterung des gelehrten Wissens in Europa“ und zum „Beginn ergebnisoffener, experimenteller Wissenschaft“ (S. 17). Auf den seit dem 12. Jahrhundert in Europa bekannten Schriften des Aristoteles basiert zudem das von Gelehrten etwickelte System der scholastischen Erkenntnisgewinnung, das an den Universitäten angewandt wurde.

Wissensräume, die einen interkulturellen Begegnungsraum umfassen, können eine bestimmte Region, eine Stadt oder eine Institution sein, können auch einen Teil eines größeren Raums einnehmen oder mehrere kleinere umfassen (etwa Mainz als Teil des Wissensraums Rhein-Mosel und darin Universität, Klöster, Schulen, Kanzleien oder die jüdische Gemeinde als eigene Wissensräume) und stellen dabei keine statischen, sondern oft temporäre und dynamische, oft durch Personen, nicht Orte definierte, nicht immer kompatible Gebilde dar. Sie sind dabei stets auch Entscheidungsräume, wo „die Lehrenden und die Lernenden sich zwischen alternativen Wissensbeständen […] entscheiden konnten oder mussten“ (S. 18), sich beispielsweise an amtskirchliche Vorgaben hielten oder diese ignorierten. Dabei konnten manche Institutionen und Strukturen freier als andere handeln.

Die Zentren des gelehrten aschkenasischen Judentums, die SchUM-Städte Speyer, Worms und Mainz, stehen im Mittelpunkt der Überlegungen Andreas Lehnhardts. In sechs Abschnitten stellt er die Einstellung des Judentums zu der im Talmud propagierten allgemeinen Bildung, zu Gelehrsamkeit, dem Ideal des lebenslangen Lernens und der häufigen Lektüre der Tora sowie die Umsetzung in der Praxis und die Lehrmethoden vor, geht auch auf die Kosten der Ausbildung ein und kann überzeugend aufzeigen, dass „Bildung ein zentrales Anliegen jüdischen Lebens war“ (S. 45). Lesen und Schreiben war notwendig, um am religiösen Leben teilzunehmen und um Verträge schließen zu können, die eigenhändig zu unterzeichnen waren. Daher begann die Ausbildung der Jungen mit dem fünften Lebensjahr, und zwar durch einen gut ausgebildeten Lehrer, der über positive Charaktereigenschaften verfügen und keinen weiteren Beruf neben dem Lehramt ausüben sollte. Höhere, d.h. rabbinische, Bildung wurde an einer Akademie, einer Yeshiwa, vermittelt, die man in der Regel nach der Persönlichkeit des Lehrers und seiner Lehrtradition auswählte. Frauen mussten nicht zwingend die Tora studieren, es wurde aber gutgeheißen, wenn sie es freiwillig taten, so dass es zahlreiche Belege für gebildete und auch berufstätige jüdische Frauen, darunter Lehrerinnen, aus dem Mittelalter gibt. Die religiösen Grundlagen und Gebete sollten sie kennen, die wichtigsten nicht nur auf Jiddisch, sondern auch auf Hebräisch, um unter anderem ihre Pflichten bei den religiösen Zeremonien im eigenen Haushalt übernehmen zu können.

Michael Matheus betrachtet unter dem Titel „Bildungsaufbrüche im Zeitalter Gutenbergs“ die Bildungsverhältnisse im 15. Jahrhundert an Rhein und Mosel und lenkt dabei unter anderem den Blick auf die innovativen Institutionen und Erfindungen, die das offenbar unzerstörbare Bild vom „finsteren Mittelalter“ klar widerlegen. Gerade im 15. Jahrhundert nahm die Zahl der Universitätsgründungen stark zu, viele davon waren als Landesuniversitäten vor allem für einen regionalen Einzusbereich vorgesehen. Interessant ist die Vorbereitung der Universitätsgründung in Mainz, in deren Zusammenhang vermutlich Gutenbergs Buchdruckerei als zukünftiger Lieferant von Lehrmaterialien eingeplant wurde. Neben der Zahl der Universitäten nahm auch das Angebot an Kloster-, Stifts- und vor allem Pfarr- und städtischen Schulen zu, neben den üblichen Lateinschulen seit dem 14. Jahrhundert auch an praxisorientierteren deutschen Schulen, in denen zusätzlich Wert auf das Erlernen von Rechenfertigkeiten gelegt wurde. All diese Bildungseinrichtungen wiederum boten die Grundlage für einen späteren Universitätsbesuch, der für die steigende Zahl der Studenten zunehmend neue Karrierechancen in Stiften, an den Fürstenhöfen und in den Städten ermöglichte. Gute Bildung erleichterte soziale Mobilität, denn im 15. Jahrhundert wurde für die Ausübung vieler Ämter Lese- und Schreibfertigkeit vorausgesetzt. Dies galt vor allem für die ca. 30 Prozent derjenigen, die einen Abschluss, insbesondere einen der höheren Fakultäten, erwarben, jedoch naturgemäß nicht gleichermaßen für alle Schichten. Frauenbildung nahm ebenfalls zu und wurde zudem oft geschätzt, zugleich strebten die Fraterherren in ihren Reformschulen die Verbesserung des allgemeinen Bildungsniveaus an und gleichzeitig nahm die Menge der volkssprachlichen Literaturtitel zu (nicht weniger als 18 deutsche Bibeldrucke vor der Reformation), ebenso wie die Anstrengungen in der Seelsorge, wo Bild- und Schrifttafeln eingesetzt wurden, um die religiöse Bildung der Menschen zu verbessern. Neben der weiteren Verbreitung der Schiftlichkeit blieben orale Praktiken, schriftlose Kommunikation (kirchliche Zeremonien, Prozessionen, Predigten, Osterspiele und Umzüge) von hoher Bedeutung im Alltag. So zeigt sich das 15. Jahrhundert als „Zeit der Reformen und Reformversuche“ mit deutlich erkennbaren „Prozessen des Bildungsaufbruchs“ (S. 74), die den Erfolg der Reformation erst möglich machten.

Die in der Frühen Neuzeit als durchaus wichtig erachtete Mädchenbildung betrachtet Bettina Braun für den Zeitraum von ca. 1500 bis 1800. Da Mädchenausbildung nicht an den deutlich besser erforschten höheren Lehranstalten stattfand, wird sie hier exemplarisch, aber dennoch sehr instruktiv, behandelt, der schwer fassbare und kaum zu verallgemeinernde Bereich der elterlichen Erziehung und Unterweisung durch Hauslehrer und -lehrerinnen jedoch vollständig ausgespart. In der Frühen Neuzeit wurde, angestoßen durch Martin Luther und auf katholischer Seite vor allem durch Juan Luis Vives, nicht nur die Frage diskutiert, ob Mädchen Bildung benötigten, in welchem Umfang und zu welchem Zweck, sondern die Erkenntnis, dass diese wünschenswert sei, schlug sich auch in obrigkeitlichen Verordnungen nieder. Zwar wurde zunehmend die Schulpflicht für alle Kinder angeordnet, doch sollten Mädchen weniger und vor allem auf ihre zukünftige Rolle bezogenen Unterricht erhalten – als Unterstützerin des Ehemanns in Haushalt und Beruf und als Erzieherin der Kinder. Dabei stand der Unterricht auch immer im Dienst der jeweiligen Konfession. Wegen der für ärmere Schichten kaum zu bewältigenden Kosten des Schulbesuchs blieb er trotz der seit dem 18. Jahrhundert immer wieder angedrohten Strafen oft aus, und die Entscheidung dagegen traf mehr Mädchen als Jungen. Im städtischen Bereich schufen die seit dem 16. Jahrhundert aufkommenden Mädchenschulen von Lehrorden wie den Ursulinen und den Englischen Fräulein für katholische Mädchen Abhilfe, da der Besuch ihrer Elementarklassen kostenlos war – es „muss also eindeutig von einem katholischen Bildungsvorsprung gesprochen werden“ (S. 97), und dies so sehr, dass sogar gelegentlich protestantische Mädchen zu diesem Unterricht angemeldet wurden.

Anna Kranzdorf widmet sich Humboldts humanistischem Bildungsideal, dem Lateinunterricht und der bis heute andauernden Diskussion über dessen Nutzen. Interessant ist hier vor allem, wie immer wieder Veränderungen des Lateinunterrichts verlangt und umgesetzt wurden, um diesen an die Anforderungen der Zeit anzupassen, kreativer und für die Schüler weniger abschreckend zu gestalten. Sinn und Zweck des Grammatikunterrichts, des Anfertigen von Übersetzungen vom Deutschen ins Lateinische, wurden diskutiert, immer wieder die Ansicht vertreten, Lateinunterricht diene der Förderung des logischen Denkens und der Bildung von Eliten. Interessant ist die Nachzeichnung der sich wandelnden Begründungen für die Legitimierung des Lateinunterrichts überhaupt, in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus, dann unter Betonung des humanistischen Aspekts nach dem Zweiten Weltkrieg, und schließlich, wie zu Beginn der 1960er Jahre die zunehmende Bewertung von Latein als Hindernis für die Chancengleichheit, denen dann wieder Argumente für das Erlernen der Sprache entgegengesetzt wurden. Dieser sehr informative Beitrag, der zunächst auf die vielfältigen Bedeutungen des Begriffs Humanismus und die Geschichte des deutschen Gymnasiums eingeht, gibt einen umfassenden Überblick über das Thema im Allgemeinen, geht jedoch leider an keiner Stelle auf den Rhein-Mosel-Raum ein und verzichtet zudem fast durchgehend auf (genaue) Nachweise von Zitatstellen.

Ansätze zur Neuordnung des deutschen Bildungswesens nach dem Zweiten Weltkrieg durch die französische Besatzung sind Thema des Beitrags von Andreas Linsenmann, der sich nicht nur auf Literatur stützt, sondern auch Archivmaterial anführt. Im Zentrum der Bemühungen der Direction de l’Education Publique und der Direction de l’Information stand die ideologische und moralische Umerziehung bzw. Neuorientierung der Deutschen, vor allem der noch weitgehend unbelasteten Jugend, einerseits im Unterricht, nachdem NS-Lehrer aus dem Dienst entlassen worden waren, andererseits auch mithilfe kultureller Veranstaltungen, d.h. mit Konzerten, Kino und Theater sowie Ausstellungen, und unter Aufbringen enormer Mittel. Man richtete sich nach den Überlegungen einer Kommission um den Germanisten Edmond Vermeil; den Bereich der Musik, dem große Aufmerksamkeit, neben Konzerten auch im Rundfunk, gewidmet wurde, vertraute man dem Gelehrten und Musiker René Marie Hilaire Thimonnier an. Insbesondere das autoritäre Staatsverständnis der Deutschen, der überzogene Nationalismus und die Abneigung gegen den französischen Nachbarn wurde als veränderungsbedürftig angesehen, zugleich aber auch als besonders schwierig eingeschätzt. Tatsächlich gelang es in der französischen Besatzungszeit nicht nur, „eine lange, deutsch-französische Konfliktgeschichte zu beenden und Fundamente für Verständigung und Annäherung zu legen“ (S. 136), sondern es entstanden auch heute noch existierende Einrichtungen wie die Verwaltungshochschule in Speyer und die 1946 wiedereröffnete Universität Mainz oder das Institut für Europäische Geschichte.

Lothar Schwinden erläutert abschließend das als Titelbild des Bandes ausgewählte Relief einer römisch-antiken Unterrichtsszene auf einem römischen Grabmal aus Neumagen an der Mosel, das um 180 n. Chr. errichtet wurde. Die Darstellung eines Lehrers und dreier Schüler unterschiedlichen Alters erlaubt einen Blick darauf, wie Unterricht im privaten Umfeld, in einer reichen römischen bzw. gallorömischen familia, unter Verwendung von Papyrusrollen und Wachstäfelchen als Unterrichtsmaterial ablief. Gute Bildung, erworben mithilfe eines griechischen Privatlehrers, wird hier als ein bedeutendes Statussymbol auch in den römischen Provinzen erkennbar.

Die einzelnen Streiflicher des Bands lassen sich sehr gut lesen und vermitteln viele interessante Einblicke in das, was in der Bildungsgeschichte im Allgemeinen und im Rhein-Moselraum im Besonderen zu unterschiedlichen Zeiten als zentral angesehen wurde, was sich änderte und was über längere Zeiträume konstant blieb, über im Mittelalter wurzelnde, noch heute bestehende Erfindungen und Institutionen und vieles mehr.

 

Bildungsgeschichte(n) an Rhein und Mosel, hrsg. v. Michael Matheus (Mainzer Vorträge 23), Stuttgart 2023, 148 S.; ISBN: 978-3-515-13409-5, als E-Book: 978-3-515-13413-2

 

Zitierweise:
Gussone, Monika: Rezension zu “Bildungsgeschichte(n) an Rhein und Mosel”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 27.11.2023, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2023/11/rezension-bildungsgeschichten-rhein-mosel-gussone