Stadt und Kirche, Land und Herrschaft am Niederrhein in Mittelalter und anbrechender Neuzeit
Dieter Scheler, viele Jahrzehnte als Historiker an der Universität Bochum tätig und seit seiner Pensionierung Honorarprofessor, hat sich intensiv und immer wieder aus anderen Blickwinkeln mit der Geschichte des Niederrheins, insbesondere im 15. und 16. Jahrhundert beschäftigt. Innerhalb dieses thematischen Rahmens hat er einen landesgeschichtlichen Zugang gewählt (und seinen Studierenden vermittelt), der das Politische auf der europäischen wie der lokalen Ebene, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Fragestellungen, Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte in ihren vielschichtigen Schattierungen wie auch Themen der Kulturgeschichte einschließt – und dies stets nah an den Quellen. 16 bereits an anderer Stelle publizierte Aufsätze und einen bislang unveröffentlichen Vortrag Schelers haben die Herausgeber in dem vorliegenden Band zusammengetragen, um die Vielfalt der von ihm behandelten Themen und seine Herangehensweise aus Anlass eines runden Geburtstags zu würdigen.
Den Auftakt des Bandes macht mit „Die niederen Lande: Der Raum des Niederrheins im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit“ (S. 9-25) ein Beitrag, der sich explizit der Einbindung des das Werk bestimmenden geographischen Raums in größere Beziehungsnetze widmet. Während der Niederrhein im Spätmittelalter in praktisch allen Bereichen – dynastischer Politik und Heiratskreisen des landsässigen Adels, Wirtschaft, Kirche, Bildung und Kultur – nach Westen hin orientiert war, seien diese Bezüge mit Beginn der frühen Neuzeit in starkem Maße gekappt und durch eine – vielfach erzwungene – Orientierung in Richtung Osten ersetzt worden. Im 19. Jahrhundert sei der Niederrhein dann zu einer „Zwischenregion zwischen Industrie und Grenze“ geworden, wobei sich in jüngster Zeit „das Ende einer langen Verlustgeschichte“ anbahne.
Den Aspekt der geographischen Bezüge nimmt der folgende Beitrag „Köln oder Brüssel: Die heimlichen Hauptstädte von Kleve-Mark“ (S. 27-41) nur scheinbar auf; inhaltlich geht es hier schwerpunktmäßig um die intensive dynastische und politische Einbindung des Klever Herzogshauses durch die verwandtschaftlich verbundenen Herzöge von Burgund im 15. Jahrhundert, der gegenüber die traditionellen Beziehungen Kleves zum Kölner Erzstift in dieser Zeit von sehr viel geringerer Bedeutung waren.
Die vier folgenden Beiträge konzentrieren sich im Wesentlichen auf das Verhältnis zwischen fürstlicher Herrschaft und landsässigem Adel. In „Die Juristen des Herzogs und der Hof“ (S. 43-56) wird anhand vieler konkreter Beispiele die Rollen- und Kompetenzverteilung adliger und bürgerlicher Räte und Amtsträger am fürstlichen Hof – insbesondere dem der Herzöge von Kleve – im Übergange vom Spätmittelalter zur Frühneuzeit untersucht. In „Die Stützen der Herrschaft: Der Adel in Kleve und Geldern“ (S. 57-67) werden die Spielräume der „großen Herren“ und des „amtmannfähigen Adels“ im Fürstendienst skizziert. Trotz struktureller Unterschiede in den Herzogtümern Kleve und Geldern waren zahlreiche Familie in grenzüberschreitende Netzwerke eingebunden. Der Rolle des fürstlichen Amtmanns widmet sich der Beitrag „Adel und Amt im 15. und 16. Jahrhundert“ (S. 69-80). Skizziert werden dabei sowohl die unterschiedlichen Interessenlagen der Fürsten und der Amtsträger wie auch die Perspektive der Amtsinsassen. Ein weiterer Aspekt, nämlich die Bedeutung des Adels als Kreditgeber, wird schließlich in „Rendite und Repräsentation: Der Adel als Landstand und landesherrlicher Gläubiger und Jülich und Berg im Spätmittelalter“ (S. 81-91) am Beispiel der Herzogtümer Jülich-Berg behandelt.
In „Tot synen profyte: Grundbesitz zwischen Stadt und Land am Niederrhein im späten Mittelalter“ (S. 93-116) schildert Scheler das komplexe rechtliche System, mit dem am Niederrhein Grundbesitz in Form der Behandigung verpachtet wurde. Die Möglichkeit, die Zugriffsrechte des Obereigentümers einmal ausgegebener Immobilien zu für die Behandigten günstigen wirtschaftlichen Konditionen weitgehend auszuschalten, bot reichen bürgerlichen Spekulanten vielfach größere Spielräume als adligen Konkurrenten und damit Aufstiegschancen.
Sehr quellennah werden in „Bürger und Bauern: die Stadt Kalkar und ihr Umland im späten Mittelalter“ (S. 117-141) die intensiven Verflechtungen der städtischen und ländlichen Sphäre am konkreten Beispiel dargestellt und die Vorstellung von klar voneinander geschiedenen Lebenswelten deutlich relativiert. Besonderes Gewicht hat auch hier der Aspekt der Bodennutzung, mit dem die Städte auf ihr Umland ausgriffen, doch kommen auch Aspekte wie Pfarr- und Gerichtsstrukturen, familiäre Vernetzungen oder Fälle von Bürgern mit ländlichem Wohnsitz zur Sprache.
Den bäuerlichen Oberschichten widmet sich der Beitrag „Zur dörflichen Sozialstruktur am Niederrhein im späten Mittelalter“ (S. 143-163). Am Beispiel des Weinbauortes Mehlem südlich von Bonn und des Kirchspiels Bislich nahe Wesel wird anhand quantifizierender Quellen deutlich, dass man sich die dörfliche Einwohnerschaft weder allzu homogen, noch von der Stadtbevölkerung streng geschieden vorstellen darf.
Den Blick auf den Umgang mit Pfarrstellen in vorreformatorischer Zeit richtet der Beitrag „Patronage und Aufstieg im Niederkirchenwesen“ (S. 165-183). Die faktische Differenzierung zwischen Ausübung des Pfarramts und Nutzung der Pfründe führte in einer beträchtlichen Zahl von Fällen zum Auseinanderfallen vom Empfang des „geistlichen Lehens“ durch den Pfründeninhaber und der Sakramentenverwaltung durch subalterne Priester. Scheler nimmt hier die divergierenden Interessen von u.a. Patronatsherren, Petenten, Pfründeninhabern und Pfarrangehörigen in den Blick und weist damit auf eine Vielfalt teilweise widerstreitender Interessen hin. Auch der folgende Beitrag „Patronat und Rekrutierung der Landgeistlichkeit am Niederrhein im 15. Jahrhundert“ (S. 185-194) widmet sich diesem Themenkomplex.
Ausgehend von der Person des Xantener Scholasters Hermann Kric, der im 13. Jahrhundert Texte sowohl zur Liturgie als auch zur Wirtschaftsführung am Viktorstift verfasste, wird in dem Beitrag „Liturgie und Pfründe“ (S. 195-209) die zunehmende Bürokratisierung der stiftischen Einkünfteverwaltung in ihrem kirchenrechtlichen Kontext behandelt.
Der Beitrag „Das Xantener Kapitel des 15. Jahrhunderts im Spiegel seiner Literatur und seiner Rechnungen“ (S. 211-222) widmet sich der Rolle einzelner Kanoniker für die politische und administrative Außenwirkung des Xantener Stifts und zeigt das Potenzial auf, das eine gleichzeitige Betrachtung verschiedenartiger Quellengruppen bietet.
Die beiden großen Prozessionen der Jahre 1464 und 1487, denen der Dekan Arnold Heymerick als Organisator ein literarisches Denkmal gesetzt hat, werden im Beitrag „Die Xantener Viktorstracht: Wallfahrt, Politik und Kommerz am Niederrhein im 15. Jahrhundert“ (S. 223-238) in den Blick genommen. Nicht zuletzt durch die Heranziehung weiterer Quellen – insbesondere von Xantener und auswärtigen Rechnungen – gelingen erstaunlich detaillierte Einblicke in die Pachtentfaltung, mit denen diese auch durch den Klever Herzog geförderten religiösen Großereignisse (aus Wesel war 1487 beinahe die Hälfte der Stadtbevölkerung in Xanten anwesend) durchgeführt wurden. Letztlich dienten die Prozessionen und Heiltumsschauen aber insbesondere als kräftige Finanzspritzen für das Xantener Stift und die im Umbau befindliche Viktorskirche, die durch geschicktes Marketing (wie eine Verbreitung der mit der Teilnahme verbundenen päpstlichen Ablässe im Druck) flankiert wurden. In allgemeinerer Form widmet sich dem Themenkomplex der folgende kurze Beitrag „Inszenierte Wirklichkeit: Spätmittelalterliche Prozessionen zwischen Obrigkeit und ‚Volk‘“ (S. 239-247).
Einen biographischen Zugang bietet der Beitrag „Zur Ästhetik der Devotio moderna: Louis de Blois in Liessies“ (S. 249-262). Der aus hochadliger Familie stammende Abt eines Benediktinerklosters im Hennegau zeichnet sich in seinen Schriften wie in seiner praktischen Tätigkeit als individueller Vertreter der devotio moderna aus, bei dem das Bemühen um „das richtige Maß“ in allen Dingen Entspannung, Erheiterung und Schönheit nicht ausschließt.
Den Abschluss des Bandes bildet die erstmalige Publikation eines Vortrags über Arnold Heymerick, dem in Schelers Publikationen häufig eine tragende Rolle zukommt („Der Xantener Dekan Arnold Heymerick: Niederrheiner, Römer, Humanist“; S. 263-270).
Die beeindruckende Vielfalt der Themen, die Dieter Scheler – zugleich bezogen auf einen spezifischen Raum und eine Epoche, die klassischerweise zumeist immer noch als teilweise dem Mittelalter, teilweise der Neuzeit zugehörig betrachtet wird – während eines Vierteljahrhunderts bearbeitet hat, kommt in dem vorliegenden Band deutlich zur Geltung. Dass sich angesichts der Anlage des Werkes diverse Überschneidungen ergeben und manche Anekdoten, die Scheler aus den Quellen herausgearbeitet hat, wiederholen, ist letztlich unvermeidbar. Die Materialfülle und die breite Sach- und Quellenkenntnis des Autors machen die Lektüre in jedem Fall zu einem Gewinn. Ein Wermutstropfen sind jedoch die nicht wenigen Fehler, die wohl der technischen Bearbeitung anzulasten sind und in manchen Fällen leider sogar sinnentstellend wirken.
Dieter Scheler: Stadt und Kirche, Land und Herrschaft am Niederrhein in Mittelalter und anbrechender Neuzeit. Gesammelte Studien, hrsg. von Hiram Kümper unter Mitarbeit von Andrea Berlin (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 30), Münster/New York 2019; ISBN: 9783830935421
Zitierweise:
Hagemann, Manuel: Rezension zu “Stadt und Kirche, Land und Herrschaft am Niederrhein in Mittelalter und anbrechender Neuzeit.”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 02.02.2023, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2023/02/rezension-stadt-und-kirche-niederrhein-hagemann