Volksgemeinschaftsforschung und Regionalgeschichte

Die Lokal- oder Regionalgeschichte der NS-Zeit mag nicht mehr zu den Themen gehören, die besondere wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten oder akademische Meriten versprechen; mit welch beträchtlichen Erträgen sie immer noch betrieben werden kann, zeigt jedoch der Sammelband „Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt“. Er versucht, die Geschichte der Stadt Neustadt während des NS-Regimes möglichst umfassend zu rekonstruieren und dabei, über die konkreten lokalgeschichtlichen Erträge hinaus, einen Beitrag zu einer Kultur und „Sozialgeschichte des Alltags im Nationalsozialismus“ (S. 1) zu leisten. Dabei wird die lange Zeit gebräuchliche Formulierung von der deutschen Gesellschaft „unterm Hakenkreuz“ ebenso beiseitegeschoben wie die in der lokalhistorischen NS-Forschung seit den 1970er-Jahren oft gebrauchte Formel von „Widerstand und Verfolgung“ – zugunsten eines stärkeren Bezugs auf den Begriff der „Volksgemeinschaft“, der in den letzten Jahrzehnten in der NS-Forschung zunehmend diskutiert und forschungsleitend eingesetzt wurde. Mit dieser perspektivischen Verschiebung, so der Herausgeber Markus Raasch in seiner differenzierten und umsichtigen Einleitung, soll das Bild lokaler NS-Geschichte neu akzentuiert werden: Betrachtungsweisen, die kategorisch zwischen normalen Bürger*innen und „Nazis“ unterschieden, von der Totalität nationalsozialistischer Unterdrückung ausgingen, mit Blick auf die Facetten des Widerständigen die vielen Formen der Anpassung und „Kollaboration“ (Olaf Blaschke) aus dem Blick verloren, werden hier relativiert. Stattdessen sollen stärker „Interaktion[en]“ (S. 4) zwischen Staat, Partei und Gesellschaft, Aushandlungsprozesse und Anpassungsmuster, Handlungsspielräume und Mobilisierungsprozesse unter lokalen Eliten und Bevölkerung Beachtung finden. Mit Blick auf das wirkmächtige Konstrukt der „Volksgemeinschaft“ werden zudem die vielfältigen Mechanismen der Abgrenzung und Ausschließung thematisiert, die für die NS-Gesellschaft konstitutiv waren.

Während die NS-Zeit in der Pfalz schon Gegenstand zahlreicher Untersuchungen war, liegen zu Neustadt bisher nur wenige „historisch-kritisch argumentieren[de]“ (S. 17) Untersuchungen vor. Eine weitergehende Auseinandersetzung mit der lokalen NS-Geschichte bietet sich laut Raasch jedoch nicht nur aus Gründen lokaler Selbstreflexion an, sondern wegen historischer Besonderheiten, Neustadts „sozialer Vielgestaltigkeit“ und „konfessioneller Inhomogenität“ (S. 11), seiner Nähe zu Frankreich, der Stellung als Gauhauptstadt und regionalem Herrschaftszentrum sowie schließlich bestimmter Bilder und Propagandaformeln aus der NS-Zeit, die bis heute nachwirken und sich v.a. in einer selektiven Wahrnehmung des Gauleiters Josef Bürckel sowie dem unter Bürckel entwickelten „Branding“ „Neustadt an der Weinstraße“ kristallisieren. Die Quellenlage kann dabei als durchaus gut gelten, wie der Herausgeber in der Einleitung darlegt.

Das Themenspektrum ist breit: Nach einem einführenden Teil zur Vorgeschichte sowie zur NS-Machtübernahme werden verschiedene gesellschaftliche Gruppen in den Blick genommen (Kinder, Jugendliche, Frauen, Arbeiterschaft, Kirchen), dann unterschiedliche Institutionen bzw. Handlungsfelder (NS-Verbände, Wirtschaft, Justiz, Kultur, Sport etc.) thematisiert, anschließend jene Bevölkerungsgruppen, die keinen Platz in der „Volksgemeinschaft“ erhielten (Jüdinnen und Juden, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, Straftäter und sonstige Deviante). Es folgen Abschnitte zu den spezifischen Bedingungen, Erfahrungsmustern und Ausgrenzungspraktiken der Kriegszeit sowie Ausblicke auf die Nachkriegszeit, die nicht zuletzt verschiedene Aspekte lokaler Erinnerungskultur behandeln.

Diese kurze Übersicht deutet schon an, dass sich in den 39 Einzelbeiträgen durchaus klassische ereignis-, verfolgungs- und organisationsgeschichtliche Ansätze finden lassen. Erkennbar ist aber das durchgängige Bemühen, die mitunter bereits in anderen Kontexten entwickelten Untersuchungen an die Perspektive der Volksgemeinschaftsforschung anzudocken. Die stringente Herausgeberschaft schlägt sich auch anderweitig nieder: die Aufsätze haben alle eine ähnliche Länge, beginnen mit kurzen Einführungen zur Literatur- und Quellenlage und bieten jeweils ein Resümee, das auf das gemeinsame Thema Bezug nimmt.

Diese beeindruckende, bei einem solch umfangreichen Projekt keineswegs zu erwartende Konsistenz bringt auch gewisse Nachteile mit sich: manche Einbettung in die Forschung gerät etwas kurz oder bemüht nur einzelne Referenzwerke, manche Quellenauswertung wünschte man sich ausführlicher, mitunter scheint die Perspektive der Volksgemeinschaftsforschung für eine eingehende Darstellung des Gegenstands nur bedingt geeignet oder eher ergänzt, denn aus dem Material entwickelt. Das sind jedoch Details – insgesamt liefert der Band ein vielschichtiges, zeitlich nuanciertes Panorama lokaler NS-Herrschaft, ihrer Akteure, Politikfelder, sozialen und kulturellen Praktiken, eine bündige, jedoch keineswegs schematische Darstellung der „Volksgemeinschaft“ im Alltag und in der „Provinz“.

Angesichts des Umfangs des Bandes sei hier auf die Besprechung einzelner Aufsätze verzichtet. Grundstürzende Neuerungen sind angesichts der Dichte und Komplexität der NS-Forschung sicher nicht zu erwarten, und die beteiligten Autor*innen reflektieren denn auch offen, wenn in Neustadt vieles war „wie andernorts“. Damit wird aber auch deutlich, dass die Prozesse gesellschaftlicher Mobilisierung, nationalsozialistischer Gemeinschaftsbildung und Ausgrenzung auch die „Peripherie“ des Reiches prägten und das in den Nachkriegsjahrzehnten so populäre Bild einer der NS-Politik abgewandten „Provinz“ endgültig ad acta gelegt werden kann. Darüber hinaus liegt ein wichtiger Ertrag des Bandes in der differenzierenden, anschaulichen Rekonstruktion, sei es des Schulalltages, der konfessionellen Beziehungen, des Sports oder des Kulturlebens, sowie in den vielfältigen Einblicken in die Bemühungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, sich mit den Zumutungen der NS-Herrschaft zu arrangieren, von den Partizipationsangeboten des Regimes zu profitieren, sich in die „Volksgemeinschaft“ einzuschreiben.

Im Übrigen bleibt es nicht beim „wie andernorts auch“. Zum einen wird immer wieder deutlich, welche Bedeutung die Grenzlage Neustadts und die damit verbundenen historischen Erfahrungen für die örtliche Ausgrenzungs- und Kontrollpolitik hatten – auch am Separatismusvorwurf, der in der politischen Verfolgung wie bei der Diskreditierung von (vermeintlichen) „Gegnern“ des Regimes eine wichtige Rolle spielte. Zum zweiten wird die funktionale Aufwertung Neustadts in den Jahren nach 1933 gut herausgearbeitet. Die „Gauhauptstadt“ war nicht nur zentraler Raum und Ausgangspunkt politischer „Gleichschaltung“ und Unterdrückung in der Region, sondern Kristallisationspunkt der Infrastrukturentwicklung, Wirtschafts- und Kulturförderung, also einer breitangelegten Erschließung der Gesellschaft im Sinne des „nationalsozialistischen Projekts“. Indem die Beiträge immer wieder auf den Gauleiter Bürckel Bezug nehmen, machen sie – drittens – deutlich, dass auch bei der gebotenen strukturellen Betrachtung des NS-Regimes die Rolle einzelner Akteure nicht unterschätzt werden darf. Der Band weist (nochmals) nach, wie stark Bürckel das regionale Terrain mit seinen Initiativen und politischen Schwerpunktsetzungen prägte, ob bei der rigorosen Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung, der Inszenierung des Regimes als sozialer „Wohlfahrtsdiktatur“ oder der touristischen Vermarktung der Pfalz. Gleichzeitig wird jedoch deutlich, dass Bürckel innerhalb der Gauleiterriege keineswegs ein Solitär war, sondern sich aus einem Baukasten von Herrschafts- und Darstellungstechniken bediente, den auch anderen „Provinzfürsten“ der NSDAP auf ihre Art nutzten. Der „Bürckel-Mythos“ wird dabei – auch im Hinblick auf seine Fortwirkung in der Nachkriegszeit – durchaus relativiert.

Zu würdigen ist schließlich noch etwas anderes: Zum einen, dass neben etablierten Zeithistoriker*innen und Vertreter*innen der Regionalgeschichte konsequent junge Forscher*innen beteiligt wurden. Zum anderen, dass der Band als Teil eines größeren Projekts angelegt ist, das sich auch mit einer Ausstellung, verschiedenen Internetangeboten und didaktischen Formaten der Aufarbeitung der regionalen NS-Geschichte widmet und Forschung integral mit historischer Bildungsarbeit verbindet.[1] Bleibt zu hoffen, dass dies nicht nur die öffentliche Auseinandersetzung anregt, sondern auch dem vorliegenden Buch zusätzliche Leser*innenkreise eröffnet.

Markus Raasch (Hg.): Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus, Münster 2020, 935 S.; ISBN: 978-3-402-24627-6.

 


[1] Vgl. https://neustadt-und-nationalsozialismus.uni-mainz.de/ (abgerufen am 14.09.2022)

 

Zitierweise:
Roth, Thomas: Rezension zu “Volksgemeinschaftsforschung und Regionalgeschichte. Eine Studie zu Neustadt in der NS-Zeit, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 10.10.2022, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2022/10/rezension-volksgemeinschaftsforschung-und-regionalgeschichte-roth