Mit “Rentnern” gegen die Protestantische Ethik

“Bonn – Die Universität mit Hofgarten, Verlag der Hofkunsthandlung Edm. von König, Heidelberg. Nr. 60, N. e. Original von H. Hoffmann”, Sammlung Museum Wolmirstedt.

Selten wird eine Stadt so galant beleidigt wie das rheinische Bonn. Dass die Stadt im Urteil John Le Carrés zwar nur halb so groß, aber doppelt so tot sei wie Chicagos Hauptfriedhof, reiht sich in andere Invektiven gegen das “Bundesdorf” ein. Immer wieder fällt dabei auch der – wir nehmen es einmal als solchen – Vorwurf, Bonn sei eine “Renterstadt”. “Fair point”, möchte man sagen, insbesondere nach der Lektüre des in einer diesjährigen Ausgabe des Journal for Modern European History erschienenen Aufsatzes von Thomas Mergel.

Der Berliner Neuzeithistoriker hat in einem Aufsatz aufbauend auf früheren Forschungen zum Bürgertum die These formuliert, dass das häufig nach Max Weber als Blütephase der “Protetantischen Arbeitsethik” verstandene bügerliche Zeitalter des langen 19. Jahrhunderts auch der Müßiggang, also das “Nicht-Arbeiten” sozial angesehen war. Nicht allein die Weber’sche Protestantische Arbeitsthik kann als “Habitus des modernen Bürgertums” angesehen werden. Argumentationsleitend sind für Mergel die sogenannten “Rentiers” oder “Rentner” (ebenso “Privatiers”, “private men”, “propriétaires”) – also Menschen, die von ihrem Vermögen und dessen Erträgen lebten und nicht (mehr) erwerbstätig waren. Dieser Rentnerstatus ist damit keine Altersfrage, sondern eine Vermögensfrage und letztlich Lebensart.

Diese Rentner waren im 19. Jahrhundert keinesfalls eine marginale Gesellschaftsgruppe. Mergel gibt an, dass bis zu 20% der bürgerlichen Klassen als Rentner bezeichnet werden konnten, in Düsseldorf seien 1848 schon ein Sechstel des versteuerten EInkommens aus Renten gekommen (S. 86). Bonn rückt dabei verstärkt als “Rentnerstadt” in den Blick, konnten hier doch in den 1870er Jahren etwa 30% des Bürgertums als Rentner gelten. Unter den drei deutschen Beispielen, die Mergels Argumentation untermauern, nehmen Bonn und Carl-Joseph Hauptmann, der sich mit 41 Jahren nah Bonn als Rentier niederließ, einen wichtigen Platz ein.

Der Aufsatz zeigt damit, wie sich die häufig gehörte Kateorisierung Bonns als “Rentnerstadt” historisch in die Entwicklung des Bürgertums, hier seiner besonderen Form des Rentiers, einordnen lässt. Zudem ließe sich ausgehend von Mergels Aufsatz sagen, dass die “Rentnerstadt” keinesfalls ein Makel sein soll. Der Rentner in Bonn (und anderen Rentnerstädten) war keinesfalls faul, sondern im Gegenteil ehrenamtlich sehr aktiv, politisch oder karitativ im Gemeinwesen engagiert. Zeitgenössische Verpöhnungen dieser Lebensform in Romanen oder anderen normativen Äußerungen dürften dabei nicht die lebensweltlichen Zustände überdecken, in denen die Nicht-Arbeit des Renterns gesellschaftlich sehr anerkannt war. Denn angesichts seiner Überlegungen kommt Mergel zu dem Ergebnis, dass man statt Webers “rastlosem Erwerb” vielmehr “eine Orientierung an sozialen Erwartungen der Umwelt, an einer Idee von ‘effizienter Mäßigkeit` [vorfindet], die zwar keineswegs empfahl, untätig herumzusitzen, aber auch das Arbeiten nicht übertreiben wolle” (S. 98).

Der Beitrag von Thomas Mergel erschien unter dem Titel “Müßiggang in fleißiger Gesellschaft: Die Sozialfigur des Rentiers und die Bedeutung der Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Deutschland im westeuropäischen Vergleich”, in: Journal for Modern European History 19/1 (2021), S. 80-102. Das Journal ist in zahlreichen (Universitäts)Bibliotheken vorhanden, die ggf. auch eine Lizenz für den Zugriff zum PDF des Aufsatzes anbieten.

 

Zitierweise:
Bechtold, Jonas: Mit “Rentnern” gegen die Protestantische Ethik. Bonn als Analysebeispiel in der jüngeren Forschung, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 25.11.2021, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2021/10/mergel-rentner-protestantische-ethik-mitteilung