Studien zur Geschichte von Bonn im Früh- und Hochmittelalter. Stifte, Klöster und Pfarreien
Die Sichtung, Sondierung und Auswertung tausender, zu einem beträchtlichen Teil noch unedierter Urkunden und weiterer schriftlicher Quellen, ergänzt durch eine bis ins kleinste Detail gehende Aufarbeitung hauptsächlich archäologischer und historischer Literatur, das Ganze akribisch belegt und nachgewiesen in einem Apparat von über 3.000 Fußnoten (leider durchgehend gezählt) und eingegrenzt auf einen relativ engen Untersuchungsraum – dies alles klingt gleichsam nach Sisyphos-Arbeit, der sich die Archivarbeit ja in der Tat oft nähert und die Vf. in seinem umfangreichen Vorwort zumindest auch andeutet, und für viele klingt dies sicherlich auch nach einem Lebenswerk. Dies gilt aber sicher nicht bei Manfred van Rey, der in seiner langen Schaffenszeit gleich mehrere solcher opera permagna unternommen und vorgelegt hat und mit seinen “Studien zur Geschichte von Bonn” nun ein weiteres nachlegt.
Das Werk ist in zwei große Blöcke gegliedert: der erste gilt den Klöstern und Stiften, in dem Vf. diese nicht nur als “Zentren des geistig-spirituellen Lebens” (S. 16), sondern auch – und vor allem – in ihrer Funktion quasi als ‘Wirtschaftsunternehmen’ bis ins Kleinste nachzeichnet; der zweite, der in quantitativer Hinsicht etwa nur die Hälfte des ersten umfasst, widmet sich sodann den Pfarreien und ihren Kirchen, deren konkreter Untersuchung im Einzelnen allgemeine Überlegungen und Beobachtungen wie etwa zum Verhältnis von pagus und Dekanat oder zur Entstehung und Dotation von Pfarrkirchen vorangestellt sind.
Auch im Innern der Blöcke ist eine gewisse Diskrepanz zwischen den Untersuchungen und Darstellungen zu den einzelnen Einrichtungen zu erkennen. Zwar folgt der erste Teil immer demselben, grundgelegten Schema, was den Lesefluss zunächst erleichtert: Gründung à Privilegien à Besitzentwicklung à Baugeschichte. Der zweite Teil hingegen erscheint eher als eine mehr oder weniger ungeordnete Aneinanderreihung von Einzelstudien unterschiedlicher Belange und Fragestellungen, von denen einige eine entsprechende Auswertung des Kölner Liber Valoris von 1308 als gemeinsamen Quellengrund haben.
Zurück zum ersten Teil: Obwohl schon bei der ersten in den Blick genommenen Einrichtung, der Dietkirche, ebenso grundsätzliche Analysen wie etwa zu den Anfängen des Christentums in Bonn oder der Christianisierung und seelsorgerlichen Versorgung des Bonner Raums eingeflochten sind wie auch Detailfragen, beispielsweise die topographische, ob an der ursprünglichen Taufkirche das für den Ritus in seiner Zeit benötigte fließende Wasser verfügbar war oder nicht, werden die Untersuchungen zur Dietkirche an Ausführlichkeit bei weitem übertroffen von denjenigen zu SS. Cassius und Florentius. Für die hochmittelalterlichen Gründungen wie etwa Schwarzrheindorf oder Rolandswerth (das spätere Nonnenwerth) gibt es vergleichsweise wenig zu berichten und zu deuten. Mir geht es bei dieser Beobachtung freilich weniger um zahlenmäßige Diskrepanzen oder innere Inkongruenzen – auch solche gibt es, wird der Leser doch in Durchbrechung des erwähnten Duktus gelegentlich zwischen Urkunden, Baugeschichte und liturgischen Besonderheiten einer Einrichtung hin- und hergeworfen. Vielmehr geht es um eine grundsätzliche Feststellung, die nämlich Fluch und Segen der Quellenlage gleichermaßen aufzeigt: Der Primat der Quellen, eigentlich selbstverständlich, ja Leitsatz für Historiker:innen (soweit sie/er sich nicht als Essayist ausgeben mag), kann, wie hier, fast unermessliche Fundgruben für Detail- und Lokalstudien auftun, die dann aber auch die Gefahr bergen, den eifrigen Sammler ganz in sich einzuschließen, wie ebenfalls hier. Anders formuliert: ihn vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen zu lassen. Die akribische, vorwiegend archivalische Quellenarbeit führt den Vf. häufig zu einer bloßen Aneinanderreihung von Dokumenteninhalten, ohne übergreifende, interpretatorische Klammer. So sind zwar Entwicklungen meist gut, Zusammenhänge und Strukturen dagegen nur schwer erkennbar. Weniger orts- und raumkundigen Leser:innen hätten kartographische Veranschaulichungen, auf die Vf. ebenso wie auf eine allgemeine Übersichtskarte verzichtet, zum Verständnis allerdings noch maßgeblich weiterhelfen können. Der recht erschöpfende Gang durch das Dickicht zahlloser Inhalte und Informationen aus Dokumenten, dies gilt insbesondere im Gros der (Schenkungs)urkunden und Güterverzeichnisse, wird Leser:in dadurch noch beschwerlicher, dass Vf. sie und ihn dabei immer wieder ‘vom Hölzchen aufs Stöckchen’ führt, vom Detail zu weiteren Details oder manchmal eben auch in allgemeinere Aspekte zu diesem Detail. Dass man dabei gelegentlich auf Redundanzen und mehr noch auf Wiederholungen (vor allem in Teil II aus Teil I) trifft, ist naheliegend und lässt sich wohl kaum vermeiden. Dies gilt gerade in Anbetracht der hohen Anzahl zu behandelnder Einrichtungen, unter denen Vf., seinem hohen Anspruch folgend, auch keine einzige ohne genaue Prüfung belässt, selbst dann nicht, wenn deren Lage gar nicht bekannt ist und schon früh (1313) eine Übersiedlung nach Köln erfolgt war wie im Fall eines Augustinerinnenkonvents in der Pfarrei Dietkirchen.
À propos Köln, à propos 1313 – zwei Stichworte, die zu weiteren grundsätzlichen Gesichtspunkten dieser Besprechung führen und die weiter Anlass zu kritischen Fragen geben. Aus welchem Grund wird etwa das schon erwähnte Benediktinerinnenkloster Rolandswerth (Nonnenwerth) auf der Rheininsel bei Bad Honnef in gleicher Dichte und Intensität behandelt wie die Bonner Einrichtungen? Die Antwort scheint vordergründig auf der Hand zu liegen, denn das Frauenklöster gehörte nach Ausweis einer Kölner Urkunde (St. Gereon) von 1307 zur Pfarrei Mehlem, das 1969 mit Bad Godesberg der Stadt Bonn eingegliedert wurde und damit dem Untersuchungsraum zugehört. Bei genauerem Hinsehen und gestützt auf den Eindruck der Lektüre des Gesamtwerks lässt sich allerdings ein tiefer liegender Grund erahnen: Vf. hält immer, über den Bonner ‘Tellerrand’ oder, treffender gesagt: über die Bonner ‘Kirchturmwarte’ hinaus, auch den größeren Rahmen der Kölner Erzdiözese im Blick, verweist auf Kölner Entwicklungen etc. So sieht er, um zunächst das Beispiel nochmals aufzugreifen, die Gründung von Rolandswerth im Schatten der Burg Rolandseck “als südliche[m] Kölner Bollwerk gegen die Trierer Herrschaftsansprüche” (S. 281). Er schenkt gut die Hälfte des Kapitels über die Ministerialen der Bonner Stifte und Klöster der Kölner Ministerialität bzw. Ministerialen weiterer Einrichtungen der Erzdiözese oder widmet zum Thema Fernbesitz in und um Bonn den Kölner Stiften, Abteien und Kommenden als einzigen ein eigenes Kapitel. Im zweiten Teil nimmt eine Kölner Quelle, der Liber Valoris von 1308, eine Hauptrolle ein, dies freilich zu Recht, zumal Vf. deren Aussagerelevanz hier dann weitestgehend auf den Untersuchungsraum beschränkt hält. In der Gesamtschau ist der ‘Kölner Blick’ für die ‘Studien zur Geschichte von Bonn’ zumindest ergänzend oft hilfreich, aber prinzipiell hätte eine grobe, aber klare Linie in der Veranschaulichung der Kölner Rahmenbedingungen vermutlich besser zum Verständnis beigetragen als ein mit gleicher Dichte, in gleichbleibender immanenter Detailtreue wie bei den konkreten Bonner Verhältnissen gesponnenes Gewirr von zahlreichen Haarsträngen.
Dies leitet über zu dem zweiten oben in diesem Abschnitt angedeuteten Kritikpunkt: Die Methode, aus spätmittelalterlichen Zeugnissen kirchlicher Verwaltungsgliederung, die zumeist sehr exakt und vor allem kleinräumig Aufschluss geben, Rückschlüsse auf politisch-administrative Verhältnisse des Frühmittelalters zu ziehen, hat – man denke etwa an die Erforschung von pagus und Gau – eine lange Tradition, in der französischen Forschung (siehe etwa die Hinzunahme der pouillés) mehr noch als in der deutschsprachigen. Generell ist hierbei jedoch Vorsicht geboten und lassen sich Antworten niemals pauschal, sondern nur in kleinräumigen Detailstudien finden, die mögliche Veränderungen durch jahrhundertelange Entwicklung von vorneherein mit ins Kalkül nehmen. So bleibt auch Vf. zunächst vorsichtig und versucht frühmittelalterliche Verhältnisse (Bonngau; Ahrgau) mit Quellen aus der Zeit zu erschließen, um dann aber doch den Liber Valoris von 1308 – freilich mit uneindeutigem Ergebnis – zu Hilfe zu nehmen. Doch richtet sich die Kritik gar nicht gegen die Heranziehung spätmittelalterlicher Quellen, die, im Gegenteil, unter der genannten Kautel und mit Bedacht die Kenntnis über administrative und räumliche Gliederung erweitern bzw. verdichten kann, als vielmehr gegen den zeitlichen Horizont und Anspruch des Vf. in diesem Werk generell. Entgegen der selbstauferlegten Eingrenzung im Titel (“im Früh- und Hochmittelalter”) führt Vf. seine Darlegungen und Untersuchungen nahezu in allen Teilen und wie selbstverständlich darüber hinaus, zwar nicht bis zum Übergang zur Neuzeit, aber doch regelmäßig über die nach Forschungskonvenienz gedachte Begrenzung für das Hochmittelalter ‘um 1250’ hinaus. Solche Durchlässigkeit ist an sich ja eher hervorzuheben als zu monieren. Hier aber trägt sie, ebenso wie die Verdichtung durch Kölner Exemplare, erheblich zur Baumbepflanzung bei und verstellt dem Betrachter den Blick auf den Wald noch weiter, um das schon mehrfach bemühte Bild erneut zu strapazieren.
Aus dieser Fundgrube historischer Einblicke und Details zur Bonner Geschichte, die sich vor allem für Kirchen-, Sozial- und Wirtschaftshistoriker:innen als eine wahre Schatzgrube erweisen wird, einzelne herauszugreifen und näher vorzustellen, wäre angesichts der Fülle annähernd unmöglich – der Feinschliff dieser ‘Diamanten’ mag der weiteren Forschung vorbehaltenen bleiben. So bleibe ich meiner bisherigen, eher kritisch untermalenden Linie treu und beschränke mich auf eines der wenigen Beispiele, in denen mit gutem Grund Zweifel an der Deutung des Vf. angebracht werden können. Es geht um das am 10. Juni 873 von König Ludwig dem Deutschen in Aachen ausgestellte, kopial im Chartular der Abtei aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts überlieferte Diplom DLdD 147 für die Abtei Stablo. Der erste Teil gibt eine Besitzbestätigung für diese, wobei DLdD 147 wiederum auf rezente Privilegien seines kaiserlichen Bruders Lothar I. (verloren) und seines Neffen Lothar II. (DLo II 17) von 862 zurückgreift. Die erneute Bestätigung in relativ kurzer Zeit ist primär sicherlich auf den Herrschaftswechsel zurückzuführen, der mit dem Meersener Teilungsvertrag von 870 sozusagen auch de iure verankert war: Stablo gehörte zu dem Teil des ehemaligen regnum Lotharii (Lothars II.), der dem Ostfrankenreich und damit Ludwig dem Deutschen zugefallen war. Die erwähnten Besitzungen sind größtenteils – einige wenige liegen weiter nördlich, wie etwa Huy – pagi und comitatus im Südosten des heutigen Belgien zugewiesen, liegen also in einem weiteren Umfeld von Stablo. Doch DLdD 147 nimmt nicht nur eine Bestätigung, sondern auch eine Erweiterung des Besitzes vor: In dem Teil der Besitzauflistung von mehreren Orten, die dem pagus Famenne – einem Untergau des Condroz, wie Vf. völlig zu Recht vor gut 40 Jahren selbst in Weiterführung von Ansätzen der belgischen Forschung herausgearbeitet hatte – zugewiesen sind, ist zwischen Bra-sur-Lienne (16 km südwestlich von Stablo) und den anschließenden, nicht mehr dem pagus Famenne zugedachten (der Übergang insuper bestärkt diese Vermutung), sehr wohl aber dem ‘belgischen’ Umfeld von Stablo zugehörigen Huy und Dinant eine Ortsreihung et Curbionem et Wisipen cum Melinam et Philuppam eingefügt. Für Vf. dagegen besteht offensichtlich kein Zweifel daran (siehe die mehrfachen Ausführungen S. 140f., S. 382, S. 588f., S. 595f.), dass die eingefügten Orte in einem ganz anderen Kontext, viel weiter östlich, im Bonner Raum nämlich zu lokalisieren sind: Villip, das als “gesichert” gelte (S. 382), sowie Mehlem, Wisipen “wahrscheinlich […] eine rheinnahe Wüstung im Ortsteil Rolandswerth, an die noch heute der Straßenname Wickchenstraße erinnert” (S. 382). Die Identifizierungen waren schon von Wolfgang Jungandreas in seinem Moselland-Lexikon, das gerade in den ortsnamenkundlichen Bezugnahmen und Deutungen nicht unumstritten ist, und in historischer Argumentation von Eugen Ewig vertreten worden, später dann, zur Stützung der Identifizierung von Mehlem, etwa auch in der Ortsnamenforschung von Maria Besse und Horst Bursch. Zu letzterem Punkt ist anzumerken, dass Mehlem 804 und 882 Mielenheim, 812 in Werdener Überlieferung Melenhem und später 943 Molinen genannt ist, die Form Melina davon also etwas absteht, was freilich nicht zwangsläufig gegen eine Identifizierung als Mehlem bei Bonn sprechen würde. Auffällig ist en détail allerdings, dass die Inanspruchnahme für den Bonner Raum den vierten der 873 eingefügten Orte, mit der die Reihe sogar eröffnet (et Curbionem …), ganz außer Acht lässt, ebenso wie generell (dies wurde oben schon angedeutet) den klar gegebenen räumlichen Kontext im Südosten des heutigen Belgien: in dem unmittelbar einschlägigen Passus der Urkunde sind dies zuvor sieben Orte im pagus Famenne, im Folgenden zwei in angrenzenden pagi gelegene Orte, im Weiteren sind Besitzungen in der Grafschaft Ardennen mit Ortszuweisungen südwestlich von Stablo, im pagus Condroz, in der Grafschaft Lomme sowie im pagus Haspengau genannt. Hier, und der Disposition des Diploms zufolge konkret in der Famenne, sind die vier Orte des Einschubs et Curbionem et Wisipen cum Melinam et Philuppam in DLdD 147 zu suchen – und in der Tat zu finden: Côrbion in Leignon, Ortsteil von Ciney und ca. 4 Kilometer südlich davon gelegen, Ychippe 2 Kilometer südöstlich von Côrbion, Melina wohl in der Nähe von Ychippe, wenn damit nicht Melen östlich von Lüttich, das dann freilich außerhalb des Famenne-Kontextes stünde, bezeichnet ist; lediglich die Identifizierung von Philuppa in diesem Rahmen muss völlig offenbleiben, wäre aber dann, wenn man die Famenne-Reihe nach cum Melinam enden ließe, nicht mehr zwangsläufig in engeren räumlichen Umfeld zu verstehen – so wie die beiden anschließenden, bereits in den Vorurkunden genannten südostbelgischen Städte Huy und Dinant, diese allerdings sicher (siehe oben), auch nicht.
Vf. beendet sein Werk abrupt, am Ende steht eine weitere Belegsammlung zu den Almosen und Hospitälern der Bonner Kirchen, Klöster und Stifte. Angesichts der Vielzahl behandelter Einrichtungen, Themen und Einzelaspekte und vor allem mit Blick darauf, dass es primär als eine akurate Bestandsaufnahme zu charakterisieren ist, wäre eine globale Zusammenfassung vermutlich auch wenig sinnvoll oder zielführend gewesen. Für die Geschichte Bonns und des Bonner Raums bietet es eine Fundgrube an Einzelstücken zu deren weiterer Erforschung.
Rey, Manfred van: Studien zur Geschichte von Bonn im Früh- und Hochmittelalter. Stifte, Klöster und Pfarreien (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn 73), Stadt Bonn Stadtarchiv und Stadthistorische Bibliothek, Bonn 2019. 791 Seiten; ISBN: 978-3-922832-84-3
Zitierweise:
Bauer, Thomas: Rezension zu “Studien zur Geschichte von Bonn im Früh- und Hochmittelalter. Stifte, Klöster und Pfarreien”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 16.09.2021, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2021/09/rezension-bonn-mittelalter-stifte-kloester-pfarreien-bauer