Qualität oder Quantität?

Darstellung eines Lesekabinetts in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Johann Peter Hasenclever: Das Lesekabinett (1843), Alte Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz

Für viele Dinge ist der Preis der maßgebliche Faktor, ob und wie häufig etwas angeschafft wird: Kauft man lieber ein teureres Exemplar in der Hoffnung, eine höhere Qualität zu erhalten, oder mehrere günstige Exemplare? Vor dieser nahezu alltäglichen Entscheidung stand auch die Bonner Lesegesellschaft im Jahr 1794.

Bonn war gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine kleine Residenzstadt mit etwa 10.000 Einwohnern aus verschiedenen sozialen Schichten, darunter der Adel am Hof des Kurfürsten, der in Bonn residierte, eine Beamten- und Bürgerschicht, Handwerker, Kaufleute, Gesellen und Tagelöhner sowie Juden. In Bonn, wie in anderen Städten und Gegenden des Heiligen Römischen Reiches, wuchs ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Bedürfnis, Literatur in gemeinschaftlicher Form zu diskutieren und Gedanken auszutauschen. So entstanden zahlreiche sogenannte Lesegesellschaften im Reich, bei denen sich die Mitglieder in geschlossenen Räumen trafen, periodische Presse oder Bücher zu allerlei Sachgebieten exzerpierten und anschließend diskutierten. Häufig waren in den Lesegesellschaften neben den Bibliotheken auch andere Formen der Zerstreuung und Erholung vorhanden: Billardtische, Kaffee- und Teeräume oder Restaurationen (in Bonn erst ab 1794). Das Ziel war es – neben dem gesellschaftlichen Zusammenkommen – den Mitgliedern eine möglichst breite Auswahl an Literatur zur Verfügung zu stellen und so den Wissenshunger nach aufklärerischer sowie trivialer Literatur zu stillen.

In Bonn etablierte sich eine solche Gesellschaft im Jahr 1787. Sie wurde als höfische Gesellschaft charakterisiert, da sie sich nicht nur aus adeligen Hofmitgliedern zusammensetzte, sondern weil Kurfürst Max Franz von Österreich (1756-1801) bereits 1788 Förderer der Gesellschaft wurde[1]. Wie in Lesegesellschaften üblich, mussten die Mitglieder einen Mitgliedsbeitrag leisten: Er betrug vier Reichstaler pro Jahr, von dem einerseits die neue Literatur für die Bibliothek eingekauft sowie sonstige Ausgaben wie Miete oder Lohnkosten gedeckt wurden. Darüber hinaus mussten die Mitglieder die Übernahme eines Abonnements leisten, welches der gesamten Gesellschaft zur Verfügung stand. Im Vergleich zu anderen Lesegesellschaften im Reich verfügte die „Bonner Lese“ über ein solides Grundkapital, auch aufgrund des sozialen und ökonomischen Status der Mitglieder. Dabei hatte die Lese bereits demokratische Züge: Jedes Mitglied hatte eine gleichberechtigte Stimme in der Mitgliederversammlung und konnte dort beispielsweise Vorschläge zu Neuanschaffungen einbringen.

Der Kauf der Prachtausgabe Wielands

Wielands Prachtausgabe, die von Georg Joachim Göschen aus Leipzig ab 1794 in mehreren Bänden vertrieben wurde, Digitalisat der BSB München

Über eine solche Entscheidung zu einer Neuanschaffung entbrannte 1794 eine intensive Debatte unter den Mitgliedern. Es ging um die Anschaffung der Pracht- oder auch Fürstenausgabe der Werke Christoph Martin Wielands (1733-1813), die Georg Joachim Göschen (1752-1828) ab 1794 vertrieb. Hierfür erwarb er eine eigene Druckereilizenz, die es ihm ermöglichte, eine aufwändig gestaltete Fassung der Werke Wielands zu produzieren, auf gutem Papier in lateinischen Lettern gedruckt, in einem Großformat und mit vielen Kupferstichen.

Viele der Mitglieder empfanden diese Prachtausgabe als überflüssig und argumentierten, dass man nicht eine „wenigstens 200 schwere Thaler‘ kostende, bei Göschen in Leipzig angekündigte illustrierte Prachtausgabe“ kaufen wolle und so eine „ganze Hand Voll geld für ein Buch holländisch papier und ein paar dutzend Bildergen weg zu werfen“[2]. Sie verwiesen auf einen Büchernachdruck des Karlsruhers Christian Gottlieb Schmieders (1750-1827), der im Preis deutlich günstiger wäre und „worin Wielands Sämtliche Werke mit einbegriffen waren“.

Der Büchernachdruck war der nicht vom Originalverlag autorisierte Abdruck eines bereits publizierten Werkes. Er entfaltete sich aufgrund der strukturellen Veränderungen im Buchhandel wie dem Übergang vom Tausch- zum Nettohandel, der Verlagerung der Buchmesse von Frankfurt nach Leipzig und dem damit einhergehenden Auseinandergehen des Reichsbuchhandels vom nord- und nordostdeutschen Buchhandel. Auch das Kauf- und Rezeptionsverhalten des Publikums änderte sich in diesem Zeitraum. Las man zuvor einige wenige Titel intensiv und repetitiv, veränderte sich das Leseverhalten zu einer extensiven Lektüre und es wurden mehr Bücher als in den Jahrzehnten zuvor konsumiert. All diese Veränderungen mündeten in das sogenannte „Nachdruckzeitalter“ [3] in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, bei dem sich regelrechte ‚Nachdruckzentren‘ vornehmlich in Südwestdeutschland bildeten.

Der Büchernachdruck war im Heiligen Römischen Reich nicht per se verboten, obwohl mit dem (kaiserlichen) Druckprivileg theoretisch ein Schutzinstrument vorhanden war, um sich vor Nachdrucken zu schützen. Dass ausgerechnet die Nachdrucker – wie in diesem Fall Christian Gottlieb Schmieder – ab 1774 ihre Nachdrucksammlungen mit kaiserlichen Druckprivilegien versehen konnten, offenbart die Problematik mit dem Nachdruck von Büchern am Ende des Ancien Regime und wurde kontrovers von Philosophen, Verlegern, Juristen und Schriftstellern diskutiert. Von den rechtlichen Implikationen unberührt nutzte das lesende Publikum und hier besonders die Lesegesellschaften den Büchernachdruck, um den Wissenshunger und dem Bedürfnis nach neuer Lektüre zu befriedigen. So griff die Trierer Lesegesellschaft bereits 1784 aus Kostengründen nahezu vollständig auf die Nachdrucksammlung Schmieders zurück und bestückte ihre Lesebibliothek mit den preiswerteren Ausgaben der populärsten Literatur der Aufklärung oder des Sturm und Drang.

Auch in Bonn weigerten sich einige Mitglieder für ein einzelnes Buch so viel Geld auszugeben, wenn dafür auch mehrere Nachdrucke angeschafft werden könnten. Ein Gedanke, den viele – besonders Studierende – heutzutage durchaus nachvollziehen können. Ganz nach dem Motto: Quantität oder Qualität.

Zum Vergleich: Die Nachdrucke waren üblicherweise etwa zwei Drittel günstiger als die Originalausgaben. So klagte der Buchhändler Christian Friedrich Schwan (1733-1815) über die Nachdruckpreise: „Die ganz unmenschlichen Preise der sächsischen und brandenburgischen Bücher zum Theil haben viel Unheil angerichtet. Noch vor 3 Tagen geschahe mirs, daß Jemand Lessing’s Trauerspiele verlangte. Ich gab ihm Vossens Edition à 1 Rthl.r. oder 1 fl. 48 kr. hiesig Geld. Man brachte mirs wieder mit dem Anhang, ob ich mich nicht schäme, 1 fl. 48 kr. für drei Schauspiele zu fordern, die man nach der Schmieder’schen Auflage um 24 kr. haben könne. Hätte das Bändchen von Anfang an 1 fl. gekostet, wie es dann billig nicht mehr kosten sollte, wer weis, ob’s nachgedruckt worden wäre“[4].

Die Bonner Lesegesellschaft entschied sich letztlich  – im Gegensatz zur „Trierer Lese“ – für die Prachtausgabe der Werke Wielands. Wohl auch, da diese als Repräsentationsmerkmal der ‚höfischen Lesegesellschaft‘ dienen sollte und man sich eben nicht mit günstigen Nachdrucken begnügen wollte.

Die hier gezeigten Beispiele der Lesegesellschaften verdeutlichen, wie sehr die Preisgestaltung mit der Beschaffung von Lektüre korrelierte. Die Nachdrucke boten eine ernstzunehmende Alternative in der Literaturbeschaffung sowohl für Lesegesellschaften als auch für Privat- und Fürstenbibliotheken und auch für untere soziale Käuferschichten.

Die „Bonner Lese“ musste sich aufgrund der Ereignisse im Zuge der Französischen Revolution und der drohenden Einnahme Bonns durch französische Revolutionstruppen 1794 auflösen. Unter französischer Beteiligung wurde daraufhin die Lese feierlich neu als cabinet de litterature eröffnet und nahm im weiteren Verlauf mehr die Züge einer Lese- und Erholungsgesellschaft an, bei der neben der Literatur auch gesellschaftlich-gesellige Veranstaltungen stattfanden. Nach dem Übergang zur Preußenzeit zählte die Lese in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr als 600 Mitglieder. Sie existiert als eine der ältesten Bonner Bürgergesellschaften noch heute[5].

 


[1] Zur Bonner Lesegesellschaft, der Etablierung, Genese und dem Verhältnis zum Kurfürsten als höfische Gesellschaft vgl. Dann, Otto: Eine höfische Gesellschaft als Lesegesellschaft, in: Aufklärung 6,1 (1992), S. 43-57.

[2] Zitiert nach Stützel-Prüsener, Marlies: Lesegesellschaften im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Lesergeschichte, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 13 (1973), Sp. 369-594, hier Sp. 490.

[3] Zu den Veränderungen im Buchhandel wie der Verlagerung der Buchmesse von Frankfurt am Main nach Leipzig, der Emanzipation der Schriftsteller und der extensivierten Lektüre des Publikums vgl. einführend Wittmann, Reinhard: Geschichte des Buchhandels, München 1999.

[4] Brief von Christian Friedrich Schwan an Philipp Erasmus Reich vom 25. Februar 1779, zitiert nach Wittmann, Reinhard: Der gerechtfertigte Nachdrucker? Nachdruck und literarisches Leben im achtzehnten Jahrhundert, in: Wittmann, Reinhard (Hg.): Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum literarischen Leben 1750-1880 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 6), Berlin 1982, S. 69-92, hier S. 77.

[5] Zum Onlineauftritt der Lese vgl. https://www.lesebonn.de/index.php/de/.

 

Zitierweise:
Portmann, Simon: Qualität oder Quantität? Die Bonner Lesegesellschaft und der Büchernachdruck um 1800, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 24.06.2021, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2021/06/bonner-lesegesellschaft-portmann