Rheinpanoramen
Wenn es eine Landschaft der Freizeit, vielleicht auch der Muße und Erholung im Deutschland des 19. Jahrhunderts gegeben hat, sozusagen ein ‚place to be‘, so war es das Rheintal zwischen Mainz und Köln. Damals wie heute begleiteten Panoramakarten in Form von Leporellos den Rheinreisenden, die – damals wie heute – erhebliche Unstimmigkeiten aufweisen. Handelt es sich dabei um ein Versehen?
Reisen und Romantik
Bis in die frühe Neuzeit war das Unterwegs-Sein fast immer mit einer realen Notwendigkeit verknüpft. Unterwegs waren vor allem Händler und Kaufleute, Pilger, Handwerker und Studenten, einige Bildungsreisende, fahrendes Volk sowie Angehörige der Oberschicht auf Inspektionsreisen.
Auf einen ersten ‚Reiseboom‘ im ausgehenden 17. Jahrhundert zu den beliebten Heilbädern folgte eine zweite Reisewelle, die ‚Grand Tour‘ oder Kavalierstour. Dabei ging es weniger um Freizeit und Erholung, sondern in erster Linie darum, Erfahrungen und Eindrücke zu sammeln, um sich auf künftige Aufgaben vorzubereiten und Netzwerke zu knüpfen.
Wurden deutsche Territorien bei der ‚Grand Tour‘ berührt, so kristallisierte sich das Rheintal als wichtige Route heraus. Diese als dramatisch empfundene Gegend entsprach einem neuen Natur- und Landschaftsverständnis in der zweiten Hälfte des 18. Jhd. Hielt sich die Zahl der Rheinreisenden zunächst noch in engen Grenzen, änderte sich dies in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts binnen weniger Jahre.
Nach der politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung am Ende der Koalitionskriege, besonders aber durch die technische Entwicklung der Schifffahrt kam es in wenigen Jahrzehnten zu einer ungeahnten Steigerung von Handel und Reisen auf dem Rhein. Die Reise von Rotterdam nach Köln, die die üblicherweise dreißig bis vierzig Tage in Anspruch nahm und der Unterstützung von zwanzig bis dreißig Zugpferden bedurfte, dauerte mit dem Dampfschiff noch gerade viereinhalb Tage. Was im Mai 1827 mit wenigen wagemutigen Fahrgästen auf zwei Dampfschiffen als Verkehr zwischen Köln und Mainz begann, steigerte sich bis 1850 auf eine Million Passagiere.
Nun wurde die „Rheinreise (…) eine Form der Selbstdarstellung der Emporgekommenen; man musste den Rhein gesehen haben, wollte man daheim etwas gelten.“[1] Und Baedeker warnte 1849 vor dem „übersättigten, anmaßenden Reisepöbel, der in dem engen Rheintal vermöge des leichten Dampfverkehrs das Land heuschreckenartig überflutet.“[2]
Mit diesem Massentourismus entwickelte sich das Mittelrheintal zur Reisedestination. Gleichzeitig verstärkte die mit dem technischen Fortschritt einhergehende Desillusionierung die romantische Sehnsucht nach der idealen Rheinlandschaft der Vergangenheit, wie sie sich bei den frühen deutschen Romantikern in Erzählungen, Legenden und Balladen niedergeschlagen hatte und über Verserzählungen wie Byrons ‚Childe Harold’s Pilgrimage‘ (ab 1812 veröffentlicht) die Rheinbegeisterung der Briten anfachte.
Rheinpanoramen
Die Geschichte der Rheinpanoramen, also Panoramakarten, die ein dreidimensionales, plastisches Bild der Landschaft zeigen, begann 1811 und war eng mit Susanna Maria Rebecca Elisabeth von Adlerflycht (1775-1846) aus Frankfurt verbunden. Sie war Malerin und skizzierte auf einer Rheinfahrt im Jahr 1811 die Strecke von Bingen bis Koblenz in einer völlig neuen Art und Weise. In einer 1822 erschienenen Besprechung der Erstveröffentlichung heißt es: „Die Darstellung ist von eigener Art, sie ist weder von oben, aus der Luft herab, noch, was auch nicht möglich wäre, von einem einzigen festen Standpunkte aus genommen, sondern sie ist fortlaufend, so dass die Gegenstände in malerischer Zeichnung, wie sie sich in der Natur an einander anreihen und dem Auge des auf dem Flusse hinabschwimmenden Beobachters darstellen, wiedergegeben sind, und das Blatt eine zusammenhängende Reihe von Landschaften liefert.“[3]
Diese farbig ausgeführte Skizze “Das Rheinthal von der Mündung der Nahe bis zur Mündung der Mosel” (Abb. 1) blieb unveröffentlicht, bis 1820 Elisabeths Tochter Sophie (1801-1838) Johann Georg Cotta (1796-1863) heiratete, den Sohn des Verlegers Johann Friedrich Cotta (1764-1832). Die familiären Beziehungen zu einer bedeutenden Verlegerfamilien im deutschsprachigen Raum können wohl als Hintergrund für den zwei Jahre später erfolgten Druck genommen werden. Cotta war ein äußerst umtriebiger Entrepreneur und u. a. an der Entwicklung der tourismusfördernden Dampfschifffahrt auf dem Rhein prominent beteiligt.
Mit dem zunehmenden Rheintourismus wuchs die Nachfrage nach derartigen malerischen Reliefs und schon bald folgten zwei weitere Publikationen. Einer ihrer Zeichner könnte Friedrich Wilhelm Delkeskamp (1794-1872) gewesen sein, der bereits seit 1823 für das Frankfurter Verlagshaus Wilmans eine Fassung des Panoramas bearbeitete, nun jedoch über den gesamten Streckenabschnitt von Mainz bis Köln. Diese Fassung kam 1825 auf den Markt und war so erfolgreich, dass sich der Titel, den Delkeskamp seinem Werk gegeben hatte – Panorama des Rheins und seiner nächsten Umgebungen von Mainz bis Cöln – fortan als Genre-Name für alle anderen in der Folgezeit auf dem Markt erscheinenden Faltpläne des Flusslaufes durchsetzte.
1837 brachte Delkeskamp nunmehr im eigenen Verlag eine überarbeitete Fassung seines Panoramas heraus (Abb. 2). Das grundsätzlich Neue an dieser Ausgabe war, dass er den starren Rahmen des Panoramas mit seiner seitlichen Beschriftung auflöste und dort mit sechzig Randbildern von Burgen und architektonischen Sehenswürdigkeiten versah. Hierdurch konnten nicht nur uninteressante Hochflächen links und rechts des Rheins überdeckt werden. Vielmehr machten diese Randbilder „das Panorama recht eigentlich zum Souvenir.“[4]
Über mehr als 25 Jahre druckte Delkeskamp seine Panoramena jedes Jahr neu und aktualisierte sie alle zwei bis drei Jahre. Das begleitende Textheft erschien in mehreren Sprachen. Die Bedeutung, die Delkeskamp in der Kunstwelt der gezeichneten Panoramen hatte, mag man daran ermessen, dass er in seinem Nachruf in der Gartenlaube anlässlich seines Todes 1872 als „Der Meister der Panoramen“ betitelt wurde.[5]
Wie populär Rheinreisen zwischenzeitlich waren, zeigte nicht nur die Zahl der Reisenden. Auch die schier unüberschaubare Vielzahl an Reisebeschreibungen, Illustrationen und Bildern verdeutlichen dies. Im rhein-fernen Berlin wurde 1833 als perfekte Illusion einer Rheinreise ein Pleorama installiert: „Bei dieser ‚Ersatzreise‘ saß man in einem großen überdachten und mechanisch geschaukelten Boot, während zu beiden Seiten die Uferpanoramen von Mainz bis St. Goar synchron vorbeigezogen wurden – eine Stunde lang. Lichteffekte und Geräuschkulisse – kulminierend in Unwettern – perfektionierten die Illusion einer Rheinreise, mit dem Vorteil, nicht ‚der Gefahr zu ertrinken unterworfen‘ zu sein, wie man werbend garantierte.“[6]
Realität und Illusion
Die Betrachtung von drei Rheinpanoramen aus den 1950er, 1970er und den 2000er Jahren[7] waren der persönliche Ausgangspunkt für die vorstehenden Anmerkungen. Vergleicht man die Kartendarstellung mit der Realität ihres jeweiligen Veröffentlichungszeitraumes, so fallen bei genauerem Hinsehen viele Ungereimtheiten auf. So ist in der Karte aus den 1950er Jahren noch die Brücke von Remagen funktionstüchtig eingezeichnet oder die Mündung der Sieg in den Rhein so dargestellt, wie sie bereits seit den 1850er Jahren nicht mehr existierte. Es sind Rheininseln zu erkennen und Bergbahnen, die es zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr gab. Auch in dem Panorama aus den 1970er Jahren passen wichtige Straßen- und Fährverbindungen nicht mit den Realitäten aus der Zeit der Veröffentlichung überein.
Fehlende Aktualisierungen mögen wirtschaftlichen Überlegungen der Verlage geschuldet sein, aber ganz wesentlich scheint, dass sie ein weitaus idyllischeres Bild vermitteln, als es sich mit der industriell überprägten Wirklichkeit in Übereinstimmung bringen lässt. Nur zart angedeutet ist in den Karten die kompakte Wucht der Industrieanlagen am Chemiestandort Wesseling oder die geschlossene Gewerbegebietslandschaft nördlich Koblenz. Vielmehr haben alle Orte auf den Karten eine kleine Kirche, jedoch keine Neubaugebiete:
Überarbeitungen und Aktualisierungen der Nachkriegszeit haben die Rheinpanoramen nicht realistischer gemacht. Sie bieten dem Betrachter ein geschöntes Bild und sind bis heute Teil einer letztlich auf Illusion und Traum angelegten Tourismusindustrie. „Don’t part with your illusions. When they are gone you may still exist but you have ceased to live.”[8] Vielleicht wollen wir gerne getäuscht werden – zumindest manchmal. Vielleicht ist es aber auch einfach schön am Rhein – zumindest mancherorts.
Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung des Artikels der Zeitschrift „Siedlungsforschung: Archäologie – Geschichte – Geographie“ Band 35, der auf einem Kurzvortrag auf der 43. Tagung des Arbeitskreises für historische Kulturlandschaftsforschung in Mitteleuropa ARKUM e.V. (Bad Wildbad, 21.-24. September 2016) basiert.
[1] Tümmers, Horst Johannes: Der Rhein. Ein europäischer Fluss und seine Geschichte. München 1994, S. 200.
[2] Wieland, Rainer: Das Buch des Reisens. Berlin 2015, S. 225.
[3] Sattler, Alfred: Rheinpanoramen. Reisehilfen und Souvenirs. Katalog zu der Ausstellung in der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln 7. Mai – 24. Juli 1993 (= Schriften der Universitäts- und Stadtbibliothek, 3). Köln 1993, S. 16.
Es sind keine Aufzeichnungen darüber bekannt, wie Elisabeth von Adlerflycht ihr Panorama gezeichnet hat. „Das Wissen um die Entstehung ist verloren gegangen“ (Steckner, Cornelius: Das erste Rheinpanorama, Elisabeth von Adlerflycht und Friedrich Wilhelm Delkeskamp. In: Schäfke, Werner; Bodsch, Ingrid (Hrsg.): Der Lauf des Rheines. Der Mittelrhein in illustrierten Reisebeschreibungen, Alben, Panoramen und Karten des 17. bis 19. Jahrhunderts aus den Beständen der Bibliothek und der Graphischen Sammlung des Kölnischen Stadtmuseums, der Stadthistorischen Bibliothek Bonn und des Stadtmuseums Bonn. Köln/Bonn, S. 33-39, hier S. 36). Da nur von einer Rheinreise die Rede ist, sind mehrfache Ausflüge auf die den Fluss links- und rechtsrheinisch begleitenden Hochflächen zur Erfassung der Landschaft nach der Natur eher unwahrscheinlich. Auch heutige Panoramazeichner sind an dieser Stelle ratlos, wie Gespräche des Autors mit früheren und aktuellen Panorama-Verlagen und -Zeichnern ergaben.
[4] Sattler: Rheinpanoramen, S. 30f.
[5] Der komplette Nachruf auf Delkeskamp findet sich in: Die Gartenlaube, Jahrgang 1872, Heft 40, S. 668 (abgerufen am 22.04.2020).
[6] Schmitt, Michael: „Quod vidi, pinxi“. Die Kommerzialisierung der Rheinlandschaft in der Druckgraphik des 19. Jahrhunderts. In: Schäfke; Bodsch (Hrsg.): Der Lauf des Rheines. Köln/Bonn, S. 41-61, hier S. 42; siehe auch Tümmers: Der Rhein, S. 260. Zur Wirkung von Pleoramen siehe auch Straßmann, Burkhard: Die reine Illusion, Die ZEIT vom 04. April 2016.
[7] Der Rhein. Führer-Panorama von Mainz bis Köln. Verlag W. Suder, Mainz. o.J.; Rheinlauf mit Beschreibung von Mainz bis Köln, 20. Aufl., Stollfuss-Verlag, Bonn o.J.; Rheinlauf Mittelrhein von Mainz bis Köln. Flusslaufkarte mit informativen Begleittexten und vielen Farbfotos. Rahmel Verlag, Pulheim. o.J. Die Erscheinungsdaten der Karten sind nur näherungsweise aufgrund genannter Ereignisse in den Randtexten zu ermitteln.
[8] Übersetzung: “Verabschiede Dich nicht von deinen Illusionen. Denn wenn sie weg sind, magst du vielleicht weiterhin existieren, aber du hast aufgehört zu leben.” Aus: Twain Mark: Quotes from Following the Equator, chapter LIX. Hartford, Connecticut 1897 (Onlinequelle, abgerufen am 18.04.2020).
Zitierweise:
Mogk, Marcus: Rheinpanoramen. Anmerkungen zu Illusion und Realität, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 22.04.2020, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2020/04/rheinpanoramen