Kamelle! Kamelle!

Ab 11:11 Uhr geht es heute wieder los: Die fünfte Jahreszeit wird feierlich eröffnet. Egal, ob die Zeit bis zum Aschermittwoch nun als Karneval, Fastnacht, Fasenacht oder Fasching gefeiert wird, an Naschereien jeglicher Art wird es dabei nicht mangeln. Beim Rosenmontagszug in Köln wurden im Jahr 2019 allein ca. 300 Tonnen Süßigkeiten (vgl. Festkomitee Kölner Karneval 2019) unter die Feiernden gebracht – Schokolade, Pralinen, Popcorn, Würstchen und Spülschwämme und höchstwahrscheinlich auch tonnenweise Bonbons.

Strenggenommen waren mit den Kamelle ganz ursprünglich nur Bonbons gemeint. Das Wort ist eine Kürzung von Karamelle, ein Wort, das ursprünglich für Sahne- oder Karamellbonbons genutzt wurde (vgl. Kluge 2011). Heute wird das Wort deutlich breiter für sämtliche Arten von Süßigkeiten und anderem Wurfmaterial genutzt, wenn auch vor allem in der Region um die beiden Karnevalshochburgen Köln und Düsseldorf. Auch wenn „Kamelle, Kamelle!“ durch den rheinischen und insbesondere den Kölner Karneval als der typische Ruf nach Wurf-Geschenken deutschlandweit und darüber hinaus gilt: Die Bezeichnung für das Zuckerwerk weicht bereits in der nächsten Umgebung von diesem ab.

Die Kamelle und der „Dialektatlas Mittleres Westdeutschland“ (DMW)

Dies ist eine von Hunderten Fragen des Forschungsprojekts Dialektatlas Mittleres Westdeutschland (DMW), das seit 2016 im Akademienprogramm des Bundes und der Länder gefördert und durch die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste betreut wird. Wie in allen Atlanten werden im DMW Karten präsentiert, die jedoch nicht vorwiegend geographische und politische Informationen enthalten, sondern insbesondere sprachliche. Der DMW hat es sich zum Ziel gemacht, mittels systematischer Erhebungen die Dialekte bzw. die standardfernsten Sprechweisen, die es heute im Bundesland und etwas darüber hinaus gibt, zu dokumentieren und zu analysieren. Der Begriff Standardferne lässt sich anhand einer Skala illustrieren: Liegt das Standarddeutsche (auch Hochdeutsch genannt) an einem Pol, so sollen im DMW jeweils die Sprechweisen aufgenommen werden, die am weitesten davon entfernt sind. In einigen Regionen ist das tiefer Dialekt oder auch noch richtiges Plattdeutsch, in anderen, vor allem städtischen Regionen, kann man, gerade von jüngeren Menschen, auf das erste Hören fast meinen, es gäbe gar keine regionalen Sprachmerkmale mehr.

Für die DMW-Datenerhebungen wurden Orte (heute durch Eingemeindungen oft Ortsteile) mit 500 bis 8.000 Einwohner*innen ausgewählt, in denen schon im 19. Jahrhundert von Georg Wenker und seinen Mitarbeitern – übrigens für den gesamten deutschsprachigen Raum – eine flächendeckende Dialekt-Erhebung durchgeführt wurde. Von den vier Universitätsstandorten Bonn, Münster, Paderborn und Siegen aus werden je zwei möglichst ortsfeste Dialektsprecher*innen in zwei Altersgruppen in ihren Heimatorten besucht und ihre Sprache aufgenommen. Zentral ist die älteste Generation (ab 70 Jahre), von der wir wissen, dass sie noch Dialekt spricht. Doch es kommen auch Aufnahmen einer jüngeren Generation (30 bis ca. 45 Jahre) hinzu, um zu prüfen, wie sich die Regionalsprache heute schon verändert hat. In einem etwa dreistündigen Interview beantworten sie als Gewährspersonen Aufgaben zu ihrem Dialekt. In ca. 800 Aufgaben helfen kurze Videos, Umschreibungen, Satzkarten und Fotos dabei, die Sprechweise umfassend zu erheben. Hierbei geht es nicht nur darum, dass in unterschiedlichen Regionen andere Wörter benutzt werden, sondern auch um die Aussprache, die Flexion, die Wortbildung und den Satzbau.

Kamelle, Klümpchen oder Bonbon?

Kommen wir nun wieder zurück auf die eingangs gestellte Frage nach den Bonbons. Die Gewährspersonen für den DMW sollen auf die Frage antworten:

„Was sehen Sie auf dem Bild?“

Erfragt wird der Singular – „Kamelle, Kamelle“ würde also wohl niemand antworten. Dabei geht es um den Wortgebrauch im Alltag, nicht nur im Karneval. Sind die Erhebungen mit Tonaufnahmen abgeschlossen, wird jede einzelne Antwort an allen Projektstandorten zurechtgeschnitten, transkribiert und ausgewertet, sodass am Ende die Präsentation in einer Karte steht.

Für die Frage nach den Bonbons konnten für das Bonner Erhebungsgebiet schon 165 Interviews, davon 146 Antworten aus der älteren Generation und 19 aus der jüngeren, herangezogen werden, bis zum Ende der Projektlaufzeit im Jahr 2032 werden es noch viele mehr sein. Hier eine Karte mit den vorläufigen Ergebnissen:

Die Antworten der befragten Personen ergeben fünf relativ gut abgrenzbare Areale. Der Süden nutzt Kamelle (hellblau), von Aachen im Westen bis Dortmund im Nordosten überwiegt die Bezeichnung Klümpchen (rosa) in unterschiedlichen Aussprachevarianten. Zwischen dem Klümpchen– und dem Kamelle-Gebiet westlich von Aachen sowie im Norden finden sich einige Belege für Brock (dunkelblau). Die Bezeichnungen Babbelke(n) (gelb) und Bömbsken (grün) sind im westfälischen Bereich zu finden. Die standarddeutsche Variante Bonbon (dunkelgrün) ist im ganzen Gebiet nur zweimal belegt – mitten in Düsseldorf. Dort ist eine weitere Variante zu entdecken, die sonst nirgendwo belegt ist: das Wort Zucker (orange). In den meisten Orten waren sich die Gewährspersonen bei der Wahl des passenden Begriffs einig. Nur in einigen wenigen Fällen wurden von den zwei am Ort befragten älteren Sprecher*innen zwei unterschiedliche Wörter genannt: In der Kartendarstellung ist diese Beobachtung durch die zweifarbigen Punkte abgebildet. Unterschiedliche Nennungen deuten im Allgemeinen darauf hin, dass aktuell eine Veränderung stattfindet und die Sprache vor Ort dabei ist, sich zu wandeln. Es ist anzunehmen, dass die jüngere Generation die Bezeichnung verwendet, die weiter im Raum verbreitet ist. Die Beobachtungen aus den Erhebungen des DMW decken sich erfreulicherweise mit denen weiterer wissenschaftlicher Studien zu Dialekten, Regionalsprachen und der Umgangssprache.

Doch woher kommt nun überhaupt die Variation im Raum? Das Wort Kamelle geht zurück auf das Wort Karamell und bedeutet schlussendlich einfach ‚gebrannter Zucker‘; das heißt, es verweist auf die Zutaten und die Herstellung der Süßigkeit. In diese Kategorie passt auch die Variante Zucker. Dieses Wort ist eine mittelalterliche Entlehnung aus ital. zucchero, das wiederum über mehrere Stationen aus altindisch śárkarā ‚Sandzucker‘ entlehnt wurde. Im Altindischen bedeutete das Wort ursprünglich ‚Kies, Geröll, Grieß‘ , woraus sich eine weitere Bedeutungskategorie eröffnet: die der Form. Die an Stein erinnernde Form ist eine weitere Benennungskategorie in der Region: In diesen Bereich lassen sich auch Klümpchen (Verkleinerungsform von niederdeutsch Klump(en) aus mittelniederdeutsch klump(e) ‚Klumpen, Haufen, Handvoll‘) und Brock (zu niederländisch brok ‚brechen‘, in dieser Bedeutung also ‚Bruchstück, Abgebrochenes‘ vgl. standarddeutsch Brocken) einordnen. Eine dritte Kategorie wird von der Variante Bömbsken vertreten. Dieser Begriff geht auf das standarddeutsche Bonbon zurück: Bömbsken ist wahrscheinlich eine Kürzung von der Verkleinerungsform Bombömsken (Bonbon + chen), wobei es sich bei Bombom um eine Variante mit Ausspracheerleichterung von Bonbon handelt (vgl. Westfälisches Wörterbuch 1991: 1040). Auch Bönnche ist eine Kürzung aus Bonbon mit Verkleinerungsendung. Die Herkunft des letzten Begriffs Babbelke(n) ist schwieriger herzuleiten als die der anderen Begriffe. Eventuell ist das Wort vom Verb babbeln abgeleitet und bezieht sich auf die Lutschbewegung beim Essen eines Bonbons. Eine andere Herleitung wäre in Bezug auf die Form Babeljötche ‚in Papier gewickelte Bonbon‘, die auf frz. papillote ‚Bonbonpapier‘ (bildliche Benennung auf frz. papillon ‚Schmetterling‘) zurückgehen könnte, möglich.

Kamelle ist nicht Kamelle, Klümpchen ist nicht Klümpchen

Mit den Wortgeschichten ist noch nicht alles gesagt. Bei Klümpchen etwa ist eine weitere Unterscheidung möglich: Während im Norden des Erhebungsgebiets die Endung -ken (also Klümpken) dominiert, wird das Wort im südlichen Teil mit der Endung -schen (also Klümpschen) gesprochen. Anhand dieser Endung zeigt sich die Grenze zwischen hoch- und niederdeutschen Dialekten, die als sogenannte Benrather Linie von Ost nach West verläuft. Da es für die Karte um den unterschiedlichen Wortgebrauch ging, sind lautliche Varianten nicht abgebildet. Das geschieht in extra Karten. Da geht es etwa um Varianten bei Verkleinerungen. Diese treten dann nicht nur bei Klümpchen auf, sondern regelmäßig bei allen –chen-Bildungen. Das zeigt die folgende Karte. Zudem gibt es Varianten beim Vokal, die sich ebenfalls abbilden ließen: Was bei den einen wie ein ü klingt, ist bei anderen ein ö oder irgendwo dazwischen.

Kamelle für Jung und Alt?

Im DMW ist auch ein Vergleich zwischen Jung und Alt angestrebt: Zwar sind die Erhebungen der jüngeren Generation erst in diesem Jahr gestartet und den Aufnahmen der älteren somit zahlenmäßig unterlegen, doch lassen sich bereits erste spannende Ergebnisse zeigen: Ob Kamelle, Brock oder Klümpchen, die befragten Sprecher*innen sind sich trotz Altersunterschied einig.

Altersgruppe 1 (ab 70 Jahre):

Altersgruppe 2 (30 bis ca. 45 Jahre):

Die verwendeten Dialektwörter sind in beiden Altersgruppen gleich, einzig ihre Verteilung ist verschieden. Während andere Untersuchungen feststellen, dass sich bei jüngeren Sprecher*innen die standardsprachliche Variante Bonbon etabliert (vgl. Elspaß 2005:9; Cornelissen 2000:280), zeigen die DMW-Ergebnisse bislang über Altersgrenzen hinweg ein konstantes Bild. Dass das Bonbon hier nicht auftaucht, kann einerseits daran liegen, dass in beiden Generationen möglichst standardferne Sprecher*innen befragt werden und andererseits am Wort selbst. Feststeht: Bei der Süßigkeit ist eine Standardisierung (noch) nicht in Sicht.

Schaut man auf den Ort Nideggen-Schmidt (hellblau mit dunkler Umrandung), fällt indes eine andere Entwicklung auf: Die ältere Generation nennt die Süßigkeit Brock, bei einer jüngeren Gewährsperson hingegen ist die Bezeichnung Kamell zu beobachten. Nicht das Standarddeutsche, sondern eine andere dialektale Variante scheint sich weiter zu verbreiten. Dass ausgerechnet der durch den Karneval prominente Begriff an Boden gewinnt, ist nicht verwunderlich. Auch im Rheinischen Wortatlas wird „[d]ie unangefochtene Position“ (Lausberg & Möller 2000: zu Karte 17) von Kamell mit dem hohen Stellenwert des rheinischen Karnevals begründet.

Bonbons für alle?

Die Wahrscheinlichkeit, dass es im Karneval bald „Bonbons! Bonbons“ aus der Menge schallt, ist – zumindest laut der DMW-Datenlage – relativ gering. Weder im rheinischen Karneval noch im Alltag scheinen die regionalen Varianten im Rückgang begriffen zu sein. Ob sie sich für längere Zeit halten oder ob es doch noch eine Überlagerung durch einen überregionalen Begriff geben wird, ist nicht vorherzusagen. Wenn ein Begriff sich durchsetzt, dann möglicherweise die Kamelle. Vielleicht werden in Zukunft ja nicht nur jedes Jahr neue Lieder auf Kölsch überall hin exportiert – vielleicht sind es auch irgendwann die rheinischen Kamelle, die überall geworfen, gefangen und gegessen werden.

 


Literatur

Cornelissen, Georg (2002): Muster regionaler Umgangssprache. Ergebnisse einer Fragebogenerhebung im Rheinland. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, 69. Jahrgang, H3. 275-313.

Elspaß, Stephan (2005): Zum Wandel im Gebrauch regionalsprachlicher Lexik. Ergebnisse einer Neuerhebung. Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, 72. Jahrgang, H1. 1-23.

Lausberg, Helmut & Robert Möller (2000): Rheinischer Wortatlas. Bonn.

Kluge, Friedrich (2011): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin / Boston.

Spiekermann, Helmut H./Tophinke, Doris/Vogel, Petra M./Wich-Reif, Claudia (Hrsg.) (2016ff.): Dialektatlas Mittleres Westdeutschland (DMW). Siegen.

Festkomitee Kölner Karneval (2019); zitiert nach de.statista.com, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/251890/umfrage/wurfmaterial-auf-dem-rosenmontagszug-beim-karneval-in-koeln/ (abgerufen am 08.11.2019).

Westfälisches Wörterbuch (1991): Westfälisches Wörterbuch. Bd. 1 Lfg. 9: Bölleken bis Brambiere. Hg. im Auftrag der Kommission für Mundart- und Namenforschung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, nach Vorarbeiten von Erich Nörrenberg et al. von Jan Goossens. Neumünster.

 

 

Zitierweise:
Edelhoff, Maike/Glaremin, Lisa: Kamelle! Kamelle! Karneval meets Sprachwissenschaft, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 11.11.2019, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2019/11/kamelle/