Zehn Jahre danach
Die meisten Menschen, sofern sie nicht zu jung waren, können sich gut daran erinnern, wo sie am 11. September 2001 waren und was sie taten. Die Historiker und Archivare dieser Generation haben zudem ein ähnliches Verhältnis zum 3. März 2009.
Niemand hatte für möglich gehalten, was an diesem Tag in Köln geschah. Das Magazingebäude eines der größten Kommunalarchive Deutschlands stürzte in eine Baugrube. Kaum eine andere Institution ist mehr Sinnbild für Stabilität und Dauerhaftigkeit, wie Archive. Nach dem Schock war die Hilfsbereitschaft groß. Zu diesem Zeitpunkt dürften nur ausgewählte Personen mit einem wissenschaftlichen oder archivischen Hintergrund den Archivmitarbeitern helfen. Monatelang übernahmen sie die erste Versorgung der Archivalien, unentgeltlich und mit großer Hingabe. Manche weinten. Die ersten drei Monate organisierten wir uns weitgehend selbst, leisteten achtstündige Nachtschichten, Rettungsdienste stellten Erbsensuppe und Brötchen bereit. Größte Stütze war die Feuerwehr, die das schriftliche Erbe Kölns sorgsam und umsichtig barg. Wir säuberten und lagerten die Archivalien in blaue Plastikboxen und Kartons ein – in einer Lagerhalle eines Möbelhauses in Köln-Porz, die auch heute noch das temporäre Magazin und einen der beiden Lesesäle des Historischen Archivs beherbergt.
Drei Monate nach dem Archiveinsturz interviewte mich die Journalistin Sophia Seiderer über die Folgen des Einsturzes für Forschungsarbeiten in der Geschichtswissenschaft.[1] Zentral war dabei die Frage nach der Bedeutung der Wiederherstellung einer raschen Zugänglichkeit für die Forschung unter der Berücksichtigung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Ich willigte in das Interview ein, um zur öffentlichen Diskussion über den Schutz von Kulturgut im Allgemeinen und Köln im Speziellen beizutragen. Denn zum Zeitpunkt des Einsturzes war der Neubau des Historischen Archivs seit Jahren verschoben worden und das Interesse der Öffentlichkeit an der Thematik schwand wenige Wochen danach wieder. Und damit auch die Chance, die sich damals bot: Denn die Katastrophe hatte die große Bereitschaft der Kölner Bürgerinnen und Bürger offenbart, sich für die Geschichte und ihr Archiv ihrer Stadt einzusetzen. Und in Deutschland wurde das allgemeine Bewusstsein für die Fragilität und den gesellschaftlichen Wert dieser Aufgabe selten so klar und vorbehaltlos öffentlich formuliert.
Zehn Jahre danach arbeitet sich das Kölner Archiv nach wie vor Richtung Normalität. Aufgrund der Gegebenheiten ist die Zugänglichkeit der Archivalien im Vergleich zu anderen Archiven weiterhin eingeschränkt. Die juristische Aufarbeitung erweiterte stetig das Wissen um das Ausmaß der damaligen Fahrlässigkeit.[2] Das Archiv und die Kölner Bürgerschaft gedenken jährlich den beiden Opfern.
Die eigentlich notwendige Diskussion über den Schutz von Kultur- und Schriftgut aber verschwand aus der öffentlichen Diskussion. Im Archivwesen beruhigen Notfallverbünde und Notfallkoffer die Archivhüter. Aber die grundsätzliche Situation für unsere Kommunalarchive hat sich nicht verbessert. Weiterhin werden in vielen Gemeinden ihre Mittel bis zur Unbenutzbarkeit zusammengestrichen. Häufig werden sie aus Kostengründen vor die Städte und Orte verlagert, deren Gedächtnis sie sind. Zwischen den Archivalien und dem Schimmel steht häufig nur das Engagement einiger schlecht oder gar unbezahlter Idealisten. Die damalige Chance, auf dem gezeigten bürgerlichen Engagement aufzubauen und sich für ein Umdenken aus der Katastrophe vom 3. März 2009 einzusetzen, blieb ungenutzt.
[1] Der Artikel erschien gedruckt in “Die Welt” und auf welt.de (abgerufen am 2.3.2019).
[2] Umfassende Zusammenfassungen finden Sie beispielsweise bei Deutschlandfunk und Tagesschau (abgerufen am 2.3.2019).
Zitierweise:
Hermel, Jochen: Zehn Jahre danach. Eine kommentierte Erinnerung, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 03.03.2019, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2019/03/3-3-09