Revolutionsemigranten im Großraum Maas-Mosel-Rhein 1787–1815
Die revolutionsbedingte Emigration nach 1789 reiht sich in die größten Wanderungsbewegungen der europäischen Vormoderne ein. In der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr suchte die Mehrheit der ca. 150.000 Emigranten Zuflucht an den Außengrenzen des revolutionären Frankreich. In übergreifender Perspektive untersucht das Dissertationsprojekt Erscheinungsformen und Wechselwirkungen dieses Fluchtverhaltens in den städtereichen Aufnahmegebieten zwischen Maas und Rhein, wo sich die Migrationsdynamik jahrelang vollauf bemerkbar machte.
Die émigrés in der Historiographie: Ein Problemaufriss
Völlig unabhängig von ihrem sozialen Stand, ihren persönlichen Motiven oder ihren politischen Gesinnungen: Aus der Sicht des Revolutionsregimes galten jene, die Frankreich nach 1789 verlassen hatten, als sogenannte émigrés. Nach Maßgabe der Revolutionsgesetzgebung hatten sie alle, ob sie nun Hochadlige oder Tagelöhner waren, etwas gemeinsam, denn alle hatten sie sich des Hochverrats schuldig gemacht. Diese undifferenzierte Stigmatisierung aller Revolutionsflüchtlinge, die 1791 im Rahmen hitzig geführter Nationalversammlungsdebatten ihren Anfang nahm,[1] sollte dazu führen, dass die Emigrationshistoriographie bis ins 20. Jahrhundert zutiefst gespalten blieb.
Der Exodus der émigrés präsentierte sich somit lange Zeit vor dem Hintergrund des Dualismus von Revolution und Gegenrevolution, von Republikanismus und Royalismus und nicht zuletzt von Gewinnern und Verlierern.[2] Diese vermeintlichen, nichtsdestotrotz effektvollen Gegensätze haben in den letzten drei Jahrzehnten eine Aufweichung erfahren.[3] Vorangetrieben durch das einsetzende Forschungsinteresse an Kulturtransferprozessen, hat sich das Verständnis der revolutionsbedingten Emigration umfassend verändert. Demnach muss sie als eine Phase wechselseitiger Herausforderungen verstanden werden, mit denen sich Flüchtlingsgruppen und Aufnahmegesellschaften gleichermaßen konfrontiert sahen.[4]Die mitunter spektakulären Emigrationsrouten verliefen in alle Himmelsrichtungen. Mit der russischen Zarenstadt St. Petersburg und der damaligen US-amerikanischen Hauptstadt Philadelphia dürften zwei ausgesprochene Außenposten unter den weltweiten Zufluchtsorten benannt sein.[5] In der Tat befasst sich das Gros der jüngeren Emigrationsstudien mit solchen Zufluchts- und Aufnahmegebieten, die geographisch eine signifikante Entfernung und sozio-kulturell geringe Nahbeziehungen zu Frankreich aufweisen.[6] Wie jüngst noch bilanziert werden konnten, legten allerdings vergleichsweise nur wenige ranghohe Kleriker und gutsituierte Adlige größere Entfernungen zurück.[7] Die weit überwiegende Mehrheit der insgesamt ca. 150.000 Emigranten bewegte sich in unmittelbarer Grenznähe zu Frankreich. Damit verbanden sie die Hoffnung, bald die sichere Rückkehr antreten und das Provisorium des Exils aufgeben zu können. Trotz dieser richtungsweisenden Erkenntnisse über quantitative und soziale Verteilungsproportionen steht die systematische Erforschung der zu Frankreich grenznahen und mithin vorrangigen Aufnahmegebiete von Revolutionsflüchtlingen bislang aus.
„Maas-Mosel-Rhein“: Ein Observatorium der Migrationsdynamik
Der von der Emigration unmittelbar betroffene Großraum Maas-Mosel-Rhein besitzt aufgrund der verdichteten Anwesenheit von Emigranten eine herausragende Bedeutung für aktuelle Forschungsfragen. Diese richten sich vor allem auf räumliche Ausprägungen der Migrationsdynamik und auf Formen ihrer sozialen Bewältigung. Der Emigrationsprozess ist dabei zwingend in Wechselwirkungen zu verstehen: Die Verlagerung des Lebensmittelpunkts bot Schutzsuchenden vorübergehende Sicherheit, während der Zulauf tausender Flüchtlinge die Aufnahmeinstanzen vor gewaltige Herausforderungen stellte. Dieser Prozess machte sich besonders in grenznahen Städten mit günstigen Anbindungen bemerkbar. Denn sie fungierten nicht nur als provisorische Refugien, sondern auch als Transitpunkte auf weiterführenden Fluchtrouten in Nordwesteuropa.[8] Immerhin hatte auch Ludwig XVI. zusammen mit seiner Familie, deren geheimer Fluchtversuch im nordfranzösischen Varennes abrupt beendet wurde, geradewegs den grenznahen Ort Montmédy angesteuert, um von dort aus weitere Handlungsoptionen zu erwägen.[9]
Diese Verdichtungs- und Kernzonen an den Außengrenzen Frankreichs sind von strukturellem Interesse für das Verständnis des Gesamtphänomens der Emigration. Denn aufgrund der Ansammlung von Emigrantengruppen lässt sich hier wohl die größte soziale Diversität nachweisen, die es nach 1789 überhaupt unter allen Zielgebieten weltweit gegeben hat. Für Fragen nach der revolutionsbedingten Migrationsdynamik präsentieren sie sich geradezu als ein Observatorium: Hinzu kommt nämlich, dass von einer ausschließlich französischen Emigration nicht die Rede sein kann. Bereits die Brabanter und Lütticher Revolutionen (1787/1789), gefolgt von den militärischen Offensiven der Revolutionsarmee, hatten in weiten Teilen der Österreichischen Niederlande sowie in den linksrheinischen Gebieten des Heiligen Römischen Reiches erhebliches Fluchtverhalten ausgelöst. Auszugehen ist daher von einer ineinandergreifenden Mobilitätsdynamik, die sich, revolutions- wie kriegsbedingt, an Maas, Mosel und Rhein über mehrere Jahre unmittelbar bemerkbar machte.
An spektakulären Emigrationsfällen mangelt es dabei nicht: Rom- und königstreue Priester, die sich im Verborgenen bis zu den Außengrenzen Frankreichs durchschlugen und damit nur knapp der drohenden Deportation entgingen, wie Nicolas Alaidon aus Lothringen;[10] Offiziere, die, tief enttäuscht von der monarchiefeindlichen Stoßrichtung der Revolution, über Nacht desertierten und dabei meist ihre Familien zurückließen, wie der östlich von Paris stationierte Marquis de Varennes;[11] oder Landleute in der entlegenen Provinz, die, alarmiert von allerlei vordringenden Nachrichten, vor den Gewaltexzessen der Terreur flohen, wie tausende elsässische Bauern im Winter 1793/94.[12]
Leitinteressen
Der vielversprechende Betrachtungsraum „Maas-Mosel-Rhein“ ermöglicht und erfordert zweierlei: Zum einen die strukturelle Untersuchung von territorial übergreifenden Ausprägungen der Migrationsdynamik, zum anderen vertiefte Fallstudien zu ihren lokalen Erscheinungsformen. Unter diesen Voraussetzungen verfolgt das Projekt vier übergeordnete Leitinteressen, die sich zusammengenommen als integrative Problembehandlung verstehen:
- Die Fluchtbewegungen an und entlang der französischen Nordostgrenze. Im Interesse an regionalen Bezügen ist es notwendig, unterschiedliche Muster des Fluchtverhaltens im geographischen Umkreis bedeutender, allerdings ungleichmäßig ausgeleuchteter Kernzonen zu rekonstruieren.[13] Verorten lassen sich diese vor allem an Maas (z.B. Namur, Lüttich, Maastricht), Mosel (z.B. Trier, Luxemburg) und Rhein (z.B. Köln, Koblenz, Worms, Karlsruhe). Im Fokus steht somit die grenzübergreifende Topographie der Migrationsdynamik zwischen ca. 1787 und 1815. Das Ende dieses Betrachtungszeitraums fällt zusammen mit dem Abflauen der großen migratorischen Rückkehrbewegungen nach Frankreich.
- Die soziale Zusammensetzung von Emigrantengruppen. Aufgrund der hohen Fluktuation ist nur ein kleiner Teil der Emigranten in den Zufluchtsgebieten aktenkundig geworden. Dies waren zumeist Adlige und Geistliche, und nur selten die vergleichsweise zahlreicheren Schutzsuchenden des Dritten Standes, die Frankreich im Allgemeinen erst später verlassen hatten. Für Fragen nach der sozialen Zusammensetzung der Flüchtlingsgruppen besitzen quantifizierende Untersuchungen daher nur geringe Aussagekraft. Erforderlich sind vielmehr überlieferungs- und quellenübergreifende Studien, die unterschiedliche Perspektiven auf die Flüchtlingsgruppen eröffnen. Als Bezugsfelder präsentieren sich städtische Kernzonen als besonders geeignet, denn erst in lokalen Zusammenhängen verdichten sich Hinweise auf Herkunftsmilieu, Fluchtvergangenheit und Erwartungen der Emigranten.
- Die Wirkungsbereiche sogenannter „Migrationsregime“. Mit diesem funktionalen Begriff fragt die Historische Migrationsforschung nach Handlungsfeldern meist institutioneller Akteure im Hinblick auf Migrationsgeschehnisse.[14] Zwischen Zentralregierungen und Kommunalbehörden agierten intermediäre Amtsträger, deren Einflussmöglichkeiten grundsätzlich als offen zu verstehen sind. Der systematische Blick auf diese Wirkungsbereiche deckt Diskrepanzen zwischen Norm und Praxis auf und ermöglicht damit ein tiefergehendes Verständnis der alltäglichen Herausforderungen im Umgang mit den Schutzsuchenden. Wesentlich mit der staatlichen Emigrantenpolitik zu verknüpfen sind praktische Aspekte vormoderner Verwaltung (z.B. Kommunikationswege, Informationsbeschaffungsmaßnahmen oder Verordnungsbekanntmachungen).[15]
- Die sozio-politischen Wechselwirkungen zwischen Migration und Aufnahmeinstanzen. In weiten Teilen des Reiches kennzeichneten Revolutionsflüchtlinge nach 1789 das Stadtbild und waren schlichtweg „Teil der täglichen Erfahrungswelt“[16]. Trotz hoher Fluktuation und verwirrender Dynamik blieben die Emigranten bis zur französischen Besetzung der interessierenden Gebiete (seit 1794) allgegenwärtig. Für die darauffolgenden Jahre sind neben Epiphänomenen der Migrationsdynamik auch klandestine Emigrantenexistenzen nicht auszuschließen. Die Mobilität und Präsenz hunderter, zum Teil militarisierter Emigranten wurde vielseitig wahrgenommen und auch bewertet, was wiederum unterschiedliche Reaktionen bei Flüchtlingen und Einheimischen auslöste. Somit dürfen weder Aufnahmegesellschaften noch Emigrantengruppen als „monolithische Einheit“[17] verstanden werden.
Spuren der Migrationsdynamik in der europäischen Quellenlandschaft
Die Emigrationsphase hat auf vielfältige Weise deutliche Spuren hinterlassen, die heutzutage zu reichem, allerdings disparatem Quellenmaterial in Frankreich, Deutschland und den Ländern des Beneluxraums führen. Die folgenden, problemorientierten Überlegungen zur Überlieferungssituation mögen dies in rudimentärer Weise verdeutlichen.
Die empirische Erfassbarkeit der Emigration ist untrennbar mit dem Behörden- und Verwaltungsschrifttum verbunden. Dies gilt nach 1789 sowohl für die Aufnahmestaaten wie für das revolutionäre Frankreich. Hier wie dort besaßen die Behörden ein Informationsinteresse hinsichtlich der Migrationsgeschehnisse, wenn auch in unterschiedlicher Weise: Während für das Revolutionsregime jegliches Wissen über emigrierte Landsleute der – für die Staatsfinanzen lukrativen – Anwendung der strengen Emigrationsgesetzgebung zuträglich war, wollten Behörden der Aufnahmestaaten den Emigrantenzulauf aus Erwägungen der öffentlichen Sicherheit überblicken. Vor allem nach der Entfesselung des Ersten Koalitionskrieges im April 1792 fürchtete man in den französischen Grenzstaaten revolutionäre Spionage und die Unterwanderung des alliierten Feldzugs.
Konkrete Ausprägungen der Migrationsdynamik treten in den administrativen Überlieferungen offen zutage, angefangen auf der Ebene städtischer Behörden. Im Blickfeld stehen somit bspw. Verordnungen und Behördenkorrespondenzen, aber auch Lageberichte, Emigrantenlisten und Aufenthaltsgesuche. Die Tatsache, dass es für etliche Aufnahmegesellschaften eine enorme Herausforderung darstellte, den Zulauf bzw. die Unterbringung hunderter Revolutionsflüchtlinge zu bewältigen, hat sich deutlich in diesen Zeugnissen niedergeschlagen. Ausgehend von diesen dichten Beständen auf der unteren Ebene lässt sich die hierarchische Behördenkommunikation bis zur zentralstaatlichen Ebene nachverfolgen. Über den lokalen Rahmen treten damit landesherrliche „Migrationsregime“ in Erscheinung, die wiederum auf regionale Dimensionen des Mobilitätsverhaltens und Grundzüge staatlicher Emigrantenpolitik verweisen. Ferner bieten auch Akten übergeordneter (Verwaltungs-)Instanzen anschauliche Zeugnisse von kollektiver Flüchtlingspräsenz. Die grenzübergreifende Bandbreite dieser Instanzen sei mit den Provinzialräten in den Österreichischen Niederlanden, der landesherrlichen Statthalterschaft in Trier oder den markgräflich-badischen Oberämtern nur andeutungsweise umrissen. Gemeinsam ist diesen Überlieferungen, dass sich Hinweise auf räumliche Ausprägungen der Emigration in dem Maße vermehren, wie die militärische Bedeutung der Gebiete an Maas, Mosel und Rhein seit 1792 zunahm.
In vielen Fällen weiß man demnach nur etwas über die Anwesenheit von Emigranten, insofern sie überhaupt das Interesse von Behörden weckten. Hochadligen etwa, die mit einem großen Gefolge in eine Stadt einzogen, wurde wesentlich mehr Aufmerksamkeit zuteil als mittellosen Tagelöhnern. Demnach muss auch der quellenkritischen Feststellung Raum gegeben werden, dass ein Großteil des verfügbaren Quellenmaterials von anderen Urhebern als den Emigranten selbst stammt und somit einer bestimmten Perspektivität unterworfen ist.[18]
Selbstzeugnisse zwischen biographischer Bewältigung und retrospektiver Rechtfertigung
Im Vergleich zur Masse der deskriptiv-normativen Quellen liegen sie zwar in geringerem Umfang vor, dürfen aber keinesfalls als quantité négligeable gelten: Memoiren, Tagebücher, Reisejournale, Briefsammlungen, Berichte oder Souvenirs von Emigranten. Die Bedeutung dieser Selbstzeugnisse aus der Revolutions- und Emigrationszeit ist von der internationalen Forschung eindrucksvoll nachgewiesen worden.[19] Neben korrigierenden Eigen-Perspektiven (im Verhältnis zu behördlichen Überlieferungen) und wertvollen Hinweisen auf das Fluchtverhalten, vermitteln sie einen Zugang zu den Fremdwahrnehmungen der Emigranten, für die die Flucht- und Exilerlebnisse zweifellos zu den prägnantesten Erfahrungen ihres Lebens gehörten.
Lässt man die ungedruckten Selbstzeugnisse außen vor und nimmt einstweilen a) nur die gedruckten, b) die für den Großraum „Maas-Mosel-Rhein“ relevanten und c) die für die Zusammenhänge der Emigration zutreffenden Selbstzeugnisse in den Blick, so lässt sich die Anzahl der einschlägigen Werke auf mehrere Dutzend beziffern. Dieses relativ dichte Quellenkontingent darf dabei nicht als bloßer Zufall von historischen Überlieferungen gelten, sondern scheint vielmehr auf eine tendenzielle Fluchtbewegung hinzuweisen. Denn für unzählige, vor allem aus dem weiten französischen Norden herkommende Flüchtlinge war es nicht nur aus geographischen Erwägungen eine naheliegende Option, die Grenzgebiete anzusteuern. Die Mehrheit der angrenzenden Territorialstaaten, wie die österreichisch regierten Niederlande, das Kurfürstentum Trier oder die kleine Markgrafschaft Baden, verfolgten in den Anfangsjahren – und sehr zum Missfallen des Revolutionsregimes – eine freundliche bis neutrale Emigrantenpolitik, die nach außen hin Schutz und Sicherheit zu versprechen schien. Hinzu kam sicherlich auch, dass den Emigranten von diesen Gebieten aus die mitunter einfachsten Rückkehrmöglichkeiten vor Augen standen.Das Spektrum der für diese Fluchträume überlieferten Selbstzeugnisse weist eine große Vielfalt auf. Viele (ehemalige) Emigranten schrieben längst nach ihrer Rückkehr Erinnerungen nieder, oftmals auch auf der Grundlage aufbewahrter Notizen. Die Abfassung solcher Schriften war vor allem unter Adel und Klerus verbreitet und erfordert insofern eine differenzierte Auswertung. Familienhistoriographische Aufzeichnungen für private Zwecke finden sich darunter ebenso wie moralische Apologien, die sich als Beiträge zur gesellschaftlichen Aufarbeitung der Revolutionszeit verstanden wissen wollten. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen:
1858/59 schrieb die Comtesse de Dauger, auf Wunsch ihrer Kinder, im Alter von 75 Jahren ihre Erinnerungen an die Emigration nieder. Im Jahr 1790 hatte sie als Sechsjährige in der Obhut ihrer Familie Frankreich verlassen und einige Jahre u.a. in Aachen und Maastricht zugebracht, bis sie schließlich 1799 nach Frankreich zurückkehrte. Rückblickend sah die Gräfin die Emigration als ein tragisches Kapitel in der stolzen Geschichte ihrer Familie an, die sich durch die Ernennung ihres Großvaters zum Kriegsminister unter Ludwig XVI. immerhin zu den Angehörigen des Versailler Hofstaats hatte zählen dürfen. Demgegenüber konnte die 75jährige Comtesse, nunmehr Zeitgenossin von Kaiser Napoleon III., die Kindheitserlebnisse der Emigration nur noch schwermütig als eine Phase „des privations, des peines, des douleurs et peu de joies“ ansehen.[20]
Sieben Jahre später veröffentlichte Maurice de Barberey, Notabler und späterer Bürgermeister seines Heimatortes Essay in der Normandie, die Souvenirs seines Onkels, des Comte de Neuilly. Dieser war 1791 emigriert und nach etwa zehn Jahren im Exil (u.a. in Koblenz, Aachen, Utrecht, Brüssel, Hamburg) zurückgekehrt. Zu Lebzeiten hatte der Graf (†1863) seinem Neffen zuhauf von dieser bewegten Zeit erzählt und sich im gehobenen Alter zur Niederschrift seiner Erinnerungen durchgerungen. Ihre posthume Veröffentlichung versah Barberey mit einem markanten Vorwort, was er im Second Empire sicherlich als Beobachter der anhaltenden Debatten über die zurückliegende Emigrationszeit tat: Zwar sei es immer noch nicht an der Zeit, „de résoudre ces délicates questions“, aber verurteilen dürfe man das Verhalten der émigrés keinesfalls. Ihre Vorfahren hätten nämlich vor einer „redoutable alternative“ gestanden, die sich ein Jeder selbst vergegenwärtigen könne anhand der Frage: „demandons-nous ce que nous eussions fait nous-mêmes dans des circonstances aussi périlleuses“.[21]
Ausblick
Neben anderen Einzelüberlieferungen bieten diese Selbstzeugnisse die Möglichkeit, individuelle Zugänge zu dem ansonsten doch anonym wirkenden Phänomen der Migrationsdynamik zu gewinnen und damit der Herausforderung einer Perspektivenvielfalt zu begegnen. Unter heuristischen Gesichtspunkten kann man sich dieser wertvollen Selbstzeugnisse allerdings nicht bedienen, ohne ihre besondere Entstehungsgeschichte zu berücksichtigen.[22] Wie die Aufzeichnungen aus der Feder der Comtesse de Dauger und des Comte de Neuilly verdeutlichen, führt die Untersuchung der Emigration wiederholt weit in das 19. Jahrhundert hinein.
Das Erfordernis einer Perspektivenvielfalt gilt umso mehr für ein übergreifendes Bezugsfeld, das sich nicht auf territoriale Grenzverläufe von Einzelstaaten beschränkt. Wenngleich diesen Grenzstaaten zumindest anfangs eine freundliche bis neutrale Emigrantenpolitik gemeinsam war, wird von einer gleichförmigen Haltung der Aufnahmegesellschaften gegenüber den Emigranten nicht die Rede sein können. Trotz der gegebenen Grenznähe bedeutete der Zulauf von Emigranten aus Sicht der meisten Aufnahmeinstanzen die erste manifeste Berührung mit den Revolutionsereignissen. Die Konfrontation mit der Situation dieser plötzlich Heimatlosen löste unter den Einheimischen ganz unterschiedliche Reaktionen aus. Vor allem aber wurden dadurch in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht existentielle Ängste geschürt, die sich spätestens mit den ausgreifenden Offensiven der französischen Revolutionsarmee zu bewahrheiten schienen. Unter diesen Bedingungen trifft die Analyse der revolutions- und kriegsbedingten Migration auch auf zentrale Themen der westeuropäischen Regional- und Landesgeschichte, die sich „die Rekonstruktion von Erfahrung und Vergemeinschaftung […] in multiplen, miteinander verschränkten und im Ganzen dynamischen Zusammenhängen“[23] zur Aufgabe gemacht hat.
Das Dissertationsprojekt steht unter der Betreuung von Prof. Stephan Laux (Universität Trier, Fachbereich III, Professur für Geschichtliche Landeskunde). Seit diesem Jahr wird das Projekt durch die Gerda Henkel Stiftung gefördert.
[1] Boffa, Massimo: Art. „Émigrés“, in: François Furet u. Mona Ozouf (Hg.): Dictionnaire critique de la Révolution française: Acteurs, Paris 1992, S. 315–329. Siehe auch den weitgehend unbeachtet gebliebenen Beitrag von Hoock, Jochen: Emigration und Revolution. Zur Emigrationsgesetzgebung der Französischen Revolution 1789–1793, in: Der Staat 5 (1966), S. 189–212.
[2] Rance, Karine: L’historiographie de l’émigration, in: Philippe Bourdin (Hg.): Les noblesses françaises dans l’Europe de la Révolution. Actes du colloque international de Vizille (10–12 septembre 2008), Rennes 2010, S. 355–367.
[3] Vgl. etwa den aussagekräftigen Umgang mit Revolutionsjubiläen, Gersmann, Gudrun: 1789–1889–1989. Vom Umgang mit der Hundert- und Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution, in: Martin Sabrow (Hg.): Historische Jubiläen (Helmstedter Colloquien, 17), Leipzig 2015, S. 71–91.
[4] Pestel, Friedemann/Winkler, Matthias: Provisorische Integration und Kulturtransfer. Französische Revolutionsemigranten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in: Francia 43 (2016), S. 137–160.
[5] Etwa Korotkov, Serguey: La transformation sociale de la colonie française à Saint-Pétersbourg à l’époque de la Révolution française, in: Daniel Schönpflug u. Jürgen Voss (Hg.): Révolutionnaires et émigrés. Transfer und Migration zwischen Frankreich und Deutschland 1789–1806 (Beihefte der Francia, 56), Stuttgart 2002, S. 235–242 u. Potofsky, Allan: The „Non-Aligned Status“ of French Emigrés and Refugees in Philadelphia, 1793–1798, in: Transatlantica – Revue d’études américaines/American Studies Journal 2 (2006), S. 1–9. Einen Überblick über die zahlreichen Studien zu den Zufluchtsgebieten des Alten Reichs bieten Pestel/Winkler, Provisorische Integration und Kulturtransfer.
[6] So auch neuerdings Reboul, Juliette: French emigration to Great Britain in response to the French Revolution, Cham (CH) 2017 und Fournier, Marcel: Les Français émigrés au Canada pendant la Révolution française et le Consulat 1789–1804. Avec la collaboration de Pierre Le Clercq, Québec 2015.
[7] Pestel/Winkler: Provisorische Integration und Kulturtransfer, S. 140.
[8] Blazejewski, Jort/Laux, Stephan: Trier, Luxemburg und die Émigrés der Französischen Revolution seit 1789. Tendenzen und Perspektiven der Forschung, in: Kurtrierisches Jahrbuch 56 (2014), S. 211–242.
[9] Ozouf, Mona: Varennes. La mort de la royauté: 21 juin 1791, Paris 2005.
[10] Thédenat, Henry (Hg.): Journal d’un prêtre lorrain pendant la révolution (1791–1799). Publié avec une introduction, une notice et des notes, Paris 1912.
[11] Ferrieu, Xavier: Les souvenirs d’un ancien émigré. Eugène de Goddes de Varennes, in: Bulletin et mémoires de la Société Archéologique du Département d’Ille-et-Villaine 83 (1981), S. 75–106.
[12] Reuss, Rodolphe: La grande fuite de décembre 1793 et la situation politique et religieuse du Bas-Rhin de 1794 à 1799 (Publications de la Faculté des Lettres de l’Université de Strasbourg, Fasc. 29), Straßburg/Paris 1924.
[13] An monographischen Darstellungen seien genannt Henke, Christian: Coblentz – Symbol für die Gegenrevolution. Die französische Emigration nach Koblenz und Kurtrier 1789–1792 und die politische Diskussion des revolutionären Frankreichs 1791–1794 (Beihefte der Francia, 47), Stuttgart 2000; Diezinger, Sabine: Französische Emigranten und Flüchtlinge in der Markgrafschaft Baden (1789–1800), Frankfurt a.M. 1991; Magnette, Félix: Les émigrés francais aux Pays-Bas (1789–1794) (Académie royale de Belgique. Classe des lettres et des sciences morales et politiques et Classe des beaux arts: Mémoires, 2e série, IV), Brüssel 1907.
[14] Oltmer, Jochen: Einleitung. Staat im Prozess der Aushandlung von Migration, in: Ders. (Hg.): Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, Berlin 2016, S. 1–42.
[15] Zum praktischen Umgang mit Emigranten am Beispiel des Kongressorts Rastatt siehe Blazejewski, Jort: Die Rastatter Kongresspolizei 1797–1799. Anmerkungen zu Status und Funktion einer außerordentlichen Polizeikommission im Spannungsfeld von europäischer Diplomatie und lokaler Praxis, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 165 (2017) [im Druck].
[16] Pestel/Winkler: Provisorische Integration und Kulturtransfer, S. 138.
[17] Hoerder, Dirk/Lucassen, Jan/Lucassen, Leo: Terminologien und Konzepte in der Migrationsforschung, in: Klaus J. Bade (Hg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn u.a. 2007, S. 28–53, hier S. 49.
[18] Blanc-Chaléard, Marie-Claude u.a.: Police et migrants en France 1667–1939. Questions et résultats, in: Dies. u.a. (Hg.): Police et migrants. France 1667–1939 (actes du Colloque organisé à l’ Université d’Orléans les 28 et 29 octobre 1999), Rennes 2001, S. 9–20 und Wadauer, Sigrid: Historische Migrationsforschung. Überlegungen zu Möglichkeiten und Hindernissen, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 19 (2008), S. 6–14.
[19] Gomis, Stéphane: Les écrits du „for privé“ du clergé émigré, in: Annales historiques de la Révolution française 355 (2009), S. 183–204; Rance, Karine: Mémoires de nobles émigrés dans les pays germaniques pendant la Révolution Française, in: Bulletin d’information de la Mission Historique Française en Allemagne 38 (2002), S. 225–234. Systematisch, aber nicht erschöpfend erfasst wurden Emigrantenmemoiren bei Fierro, Alfred: Bibliographie critique des mémoires sur la Révolution. Écrits ou traduits en français, Paris 1988.
[20] Dauger, Comtesse de: Souvenirs d’émigration, Caen 1858, hier S. 113. Obwohl die Souvenirs offensichtlich in den Druck gingen, ist dem Beiträger nur ein einziges Exemplar in der Bibliothèque nationale de France bekannt, dem die Comtesse eine handschriftliche Notiz beigefügt hat.
[21] Dix années d’émigration. Souvenirs et correspondance du comte de Neuilly. Publiés par son neveu Maurice de Barberey, Paris 1865, hier S. IX.
[22] Karla, Anna: Revolution als Zeitgeschichte. Memoiren der Französischen Revolution in der Restaurationszeit (Bürgertum Neue Folge, 11), Göttingen 2014.
[23] Laux, Stephan: Deutschlands Westen – Frankreichs Osten. Überlegungen zur Historiographie und zu den Perspektiven der rheinischen Landesgeschichte in der Frühen Neuzeit, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 49 (2015), S. 143–163, hier S. 163.
Zitierweise:
Blazejewski, Jort: “Revolutionsemigranten im Großraum Maas-Mosel-Rhein 1787–1815. Exposé zum Dissertationsprojekt”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 14.03.2018, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2018/03/revolutionsemigranten-maas-mosel-rhein/