Bonner Forschungstradition:
Die geschichtswissenschaftliche Forschung in Bonn zeichnet sich traditionell durch eine besondere Quellennähe aus. Dieser Tradition folgend widmet sich eine Sektion den Quellen. Jede historische Quelle kann als ein Phänomen mit mehreren Schichten betrachtet werden: Diese reichen von der konkreten, physischen Materialität der Quelle und ihres Trägers über ihre Sprachlichkeit und die intentionalen Akteure bei ihrer Entstehung bis hin zum Ereignis, das letztlich kausal und fundamental für das Vorhandensein einer Quelle verantwortlich ist. War eine hypothetische, „traditionalistisch-positivistische“ Geschichtswissenschaft noch der Illusion erlegen, durch alle zuvor genannten Schichten gleichsam unverstellt auf die Ereignisse blicken zu können, haben die diversen „turns“ der modernen Geschichtswissenschaft seit den 1970er/80er Jahren alle Quellenschichten wieder in das Sichtfeld der Forschung gebracht und im positiven Sinne zum „Problem“ gemacht.
Deren vordergründige, aber oft am stärksten übersehene Schicht ist die Materialität der Quellen. Die Ebene der (diplomatisch aktiven) Akteure im Entstehungsprozess einer Quelle nimmt Arno Strohmeyer (Salzburg) in den Blick. Er beleuchtet am Beispiel diplomatischer Korrespondenzen, wie diese Texte zu interpretieren sind, deren Produktion immer in einem komplexen Spannungsfeld zwischen Selbstdarstellungs- und Rechtfertigungsabsicht einerseits und präziser Berichtspflicht andererseits situiert war und dabei stets in Beziehung zu zeitgenössischen Diskurstraditionen und Darstellungskonventionen stand.
Den Blick auf eine bisher weitgehend vernachlässigte Quellengattung richtet Elisabeth Natour (Heidelberg), die nach musikalischen Quellen im Kontext des Friedensschlusses fragt. Hier tritt das Spannungsfeld von Performanz und Materialität besonders deutlich hervor. Schließlich ist über die schriftlich überlieferten Quellen nur ein Nachklang der tatsächlich aufgeführten Werke greifbar, die mitunter hoch politische Botschaften enthielten.
Das „Edieren“ als eine Überführung des „Inhalts“ einer Quelle in eine andere Form liegt der Theorie nach vor jeder wissenschaftlichen Auswertung von Quellen im engeren Sinne (auch wenn dies bereits immer ein Stück weit Auswertung ist). Bei diesem Prozess geht unweigerlich immer Information verloren, gleichwohl wird auch immer neue Information hinzugefügt, und sei es, indem neue Zugriffsmöglichkeiten auf das edierte Material zur Verfügung gestellt werden. Die mediale Übertragung einer gedruckten Edition in eine digitale Edition, wie bei den Acta Pacis Westphalicae (APW) digital, ist eine analog zu betrachtende Transformation. Was bei der Überführung der gedruckten APW in die APW digital mit der Information geschah, die in der Druckfassung implizit in Typographie und Layout enthalten ist, welche Information wie und warum expliziert worden ist und welche nicht, werde ich in meinem Vortrag erläutern.
Eine kurze Darstellung der durch die Digitalisierung neu gebotenen Zugriffsmöglichkeiten wird zu Niels Fabian Mays (Paris) Vortrag überleiten, der erläutern wird, wie die durch die digitale Fassung der APW möglich gewordene statistisch-analytische Auswertbarkeit des Materials für die Geschichtswissenschaft nutzbar gemacht werden kann. Inwiefern das nun maschinenlesbare Korpus die Sprachwissenschaft und Sprachgeschichtsforschung bedienen kann, aber auch, welche Forschungsfragen aus diesem Bereich aufgrund der bereits für die Erstellung der ursprünglichen, dezidiert geschichtswissenschaftlichen Edition getroffenen editorischen Grundsatzentscheidungen grundsätzlich nicht mehr anhand dieses Korpus beantwortet werden können, stellt Sandra Müller (Bonn) in ihrem Vortrag dar.
Für die Moderation und Kommentierung der Sektion konnten zwei hochkarätige Wissenschaftler gewonnen werden, die wie nur wenige andere mit der grundlegenden Arbeit an Schriftquellen im Allgemeinen und den Quellen zum Westfälischen Friedenskongress im Besonderen vertraut sind. Mit PD Dr. Dr. Guido Braun (Bonn) übernimmt ein Forscher die Aufgabe des Moderators, der seinen ersten Doktortitel mit der Edition der französischen Korrespondenzen der Jahre 1646 und 1647 (APW II B 5) erlangte. Trotz seiner Forschungen zur Rezeption des öffentlichen Rechtes des Heiligen Römischen Reiches in Frankreich zwischen 1648 und 1756, der er seinen zweiten Doktortitel verdankt, und zu den Imagines imperii, also den Vorstellungen von und der Perzeption des Heiligen Römischen Reiches durch die Kurie im Reformationsjahrhundert zwischen 1523 und 1585, im Rahmen seiner Habilitation, befasste er sich weiterhin mit dem Westfälischen Friedenskongress. Das zeigen zahlreiche Aufsätze und Herausgeberschaften von Sammelbänden, die sich thematisch z.B. mit der Verwendung von Nationalsprachen als Verhandlungssprachen und deren politische Implikationen oder Konzepten der Friedenssicherung, die in Westfalen und in der nachfolgenden niederländischen Phase der Kongressdiplomatie entwickelt worden sind, befassen. Wie aktuell der Westfälische Frieden wieder geworden ist, zeigt seine Teilnahme an einer Konferenzreihe der Universität Cambridge, die die Nützlichkeit des Westfälischen Friedens als Modell für eine Friedensordnung in Westasien diskutierte.
Mit Magister Thomas Just MAS (Wien) übernimmt ein Mann den Kommentar zu dieser quellenzentrierten Sektion, der kaum besser hätte gewählt werden können. Mit seiner Übernahme der Direktion des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs im Jahre 2009 wurde er Herr über das Archiv zur Geschichte des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches. Wenn einer deren Quellen in ihrer ganzen Materialität und komplexen Überlieferungslage kennt, dann er. Zusammen werden Guido Braun und Thomas Just die in den Vorträgen entwickelten Aspekte der Quellen zum Westfälischen Friedenskongress und ihre mediale Präsentation sowie wissenschaftliche Nutzbarkeit in weiterführende Zusammenhänge stellen und gemeinsam mit den Tagungsteilnehmer/innen in der Diskussion erarbeiten, welche Bilder und Erzählungen auf der Basis der (Schrift-)Quellen (re-)konstruierbar sind. Insgesamt freue ich mich auf eine spannende Sektion in einer außerordentlich spannenden Tagung!
SEKTION 3: BONNER FORSCHUNGSTRADITION: DIE GRUNDLAGE DER BEWERTUNGSHORIZONTE – (UN)GELESENE QUELLEN ZUM WESTFÄLISCHEN FRIEDENSKONGRESS
Moderation: Guido Braun / Kommentar: Thomas Just
- Die Bonner APW-Editionen in germanistisch-linguistischer Perspektive. Chancen und Grenzen für die Forschung (Sandra Müller)
- Zwischen Quellenkritik und Medientheorie – zur Analyse diplomatischer Korrespondenzen (Arno Strohmeyer)
- Erklungen – Verklungen? Musikalische Quellen zwischen Performanz und Materialität (Elisabeth Natour)
- Das Schicksal von Information bei einem Medienwechsel: Das Beispiel APW digital (Tobias Tenhaef)
- Distant Reading & APWdigital: Neue methodische Zugänge zu edierten Quellen (Niels F. May)
Zitierweise:
Tenhaef, Tobias: „Bonner Forschungstradition: Die Grundlage der Bewertungshorizonte – (un)gelesene Quellen zum Westfälischen Friedenskongress“, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 12.07.2017, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2017/07/bewertungshorizonte/