Dinslakens älteste Schöffenurkunde
Das Jahr 2023 stand in Dinslaken ganz im Zeichen des 750jährigen Stadtjubiläums. 1273 hatte der kleine Burgort durch den Klever Grafen ein Stadtprivileg erhalten.[1] So trifft es sich besonders gut, dass ausgerechnet in diesem Jahr bei archivischen Arbeiten im Archiv Schloss Harff (Grevenbroich) eine Urkunde vom 18. Januar 1325 entdeckt wurde, die sich als die (bislang) älteste bekannte Dinslakener Schöffenurkunde herausstellte.[2]
Diese Aussage ist allerdings in zwei Punkten zu relativieren. Von einer “Entdeckung” zu sprechen, ist insofern etwas vermessen, als die Urkunde schon im späten 19. Jahrhundert von Leonard Korth verzeichnet und auch bereits publiziert wurde – und zwar nicht nur als Regest, sondern als Druck im Volltext.[3] Gleichwohl ist sie der Dinslakener Lokalgeschichte, wie auch landesgeschichtlichen Arbeiten zum Klever Territorium, bislang anscheinend gänzlich unbekannt geblieben.[4] Schließlich ist auch die Bezeichnung als “Schöffenurkunde” formal nicht ganz korrekt, da der Aussteller kein Schöffe, sondern “Gyo dictus Hagen” ist. Die Schöffen treten lediglich als Zeugen hinzu und besiegeln die Urkunde gemeinsam mit dem Aussteller. Da uns die Dinslakener Schöffen hier jedoch erstmals in Aktion begegnen und wir es auch mit dem frühesten Beleg des Schöffensiegels zu tun haben, ist die Bezeichnung als Schöffenurkunde aber durchaus berechtigt.
Der Erhaltungszustand der Urkunde ist relativ schlecht. Das Pergament ist gewellt und teilweise verzogen, was auf ältere Feuchtigkeitsschäden hindeutet. Ferner ist die Urkunde an verschiedenen Stellen durchlöchert. Die Schrift ist stark ausgeblichen und nur schwer lesbar. Bereits Korth hat in seiner Edition von 1892 angemerkt, der Text sei “durch Chemikalien lesbar gemacht” worden. Ob der damalige Einsatz dieser Chemikalien den Zustand der Urkunde noch weiter verschlechtert hat, ist nicht mehr festzustellen. Das erste Siegel fehlt, lediglich die Pressel ist noch vorhanden. Das zweite Siegel hingegen – dasjenige der Schöffen von Dinslaken – ist erstaunlich gut erhalten.
Der Rechtsinhalt der Urkunde ist vergleichsweise unspektakulär. Der Aussteller, Gyo Hagen, entlässt – mit Zustimmung seiner Frau Renswindis, seiner Tochter Elisabeth und seines Verwandten “Theodericus dictus Morem” – seinen Sohn Wynand aus einem nicht ganz klar fassbaren Abhängigkeitsverhältnis, dem “Joch der Sklaverei” (iugo servitute). Interessanterweise ist Gyo Hagen aus einer anderen, am 29. September desselben Jahres ausgestellten Urkunde bekannt: Er gehörte zu den Dinslakener Burgmannen und bezeugte eine Einigung, die Mechthild Frau von Dinslaken mit ihren Schwägern Graf Dietrich von Kleve und Johann von Kleve getroffen hatte.[5] Mechthild war die Witwe des 1310 verstorbenen Grafen Otto von Kleve und hatte Dinslaken als Witwengut erhalten. Um die Nachfolge in der Grafschaft Kleve hatte es heftige Konflikte gegeben, da Mechthild mit Unterstützung ihres Onkels, des Kölner Erzbischofs Heinrich von Virneburg, versucht hatte, ihrer Tochter Irmgard das Klever Erbe zu sichern. Der Ausgleich von 1325 zog eine Art Schlussstrich unter diesen langjährigen Streit.[6] Die Familie des Gyo Hagen hatte übrigens eine gewisse Tradition als Burgmannen: Nicht nur, dass 1325 gemeinsam mit Gyo ein Gerhard Hagen als Dinslakener Burgmann begegnet; bereits 1268 war Ritter Gerhard Hagen Burgmann im nahegelegenen Holten.[7]
Als Dinslakener Schöffen nennt die Urkunde namentlich “Henricus de Novo Domo” und “Henricus dictus Prastinc”; als weitere Zeugen werden Anthonius de Holte und Bernardus de Holthusen genannt sowie ein Bernardus, dessen Familienname schon vor 130 Jahren wegen eines Lochs im Pergament nicht mehr lesbar war. Henrik Prastinc begegnet auch 1329, 1338 und 1356 als Schöffe, Henricus de Novo Domo könnte identisch sein mit Henricus dictus Nyenhuys – so die niederdeutsche Übersetzung des lateinischen “de Novo Domo” -, der 1354 als Richter in Walsum genannt wird.[8] Anthonius de Holte gehörte zu Gyos “Kollegen” als Dinslakener Burgmannen. Auch Bernhardus de Holthusen stammte aus einer ritterlichen Familie; möglicherweise ist er identisch mit Bernart van Holthusen, der um 1319 Besitz in Bislich hatte, und einem um 1325 genannten Besitzer von Gütern in Dorsten.[9]
Das Siegel der Dinslakener Schöffen hat einen Durchmesser von 3,4 cm und zeigt im Siegelbild eine Rose mit fünf herzförmigen Blütenblättern. Die Umschrift lautet “+ S(igillum) SCABINORVM DE DINSELAC” – Siegel der Schöffen von Dinslaken. Im Vergleich mit den Schöffensiegeln der übrigen im 13. Jahrhundert gegründeten klevischen Städte ist die Wahl des Siegelbildes eher ungewöhnlich. Die Siegel der Schöffen von Kleve, Kalkar, Kranenburg und Grieth zeigen allesamt Stadtbefestigungen im Siegelbild, genauso wie die Stadtsiegel dieser Städte. In Orsoy zeigt das Schöffensiegel drei Pferdeköpfe und nimmt so das Motiv des Stadtsiegel wieder auf.[10] Das Dinslakener Stadtsiegel zeigt eine Torburg – warum die Schöffen sich für ein gänzlich anderes Motiv entschieden haben, ist unbekannt.
Von diesem ersten Dinslakener Schöffensiegel existiert – nach derzeitigem Kenntnisstand – lediglich noch ein zweiter Abdruck an einer Urkunde von 1331. Dieses Exemplar ist deutlich schlechter erhalten, insbesondere ist die Umschrift fast völlig zerstört.[11] Dieser Umstand unterstreicht den besonderen historischen Wert der hier vorgestellten Urkunde von 1325 mit dem gut erhaltenen Siegelabdruck.
An einer Urkunde von 1337 ist erstmals ein fragmentarisch erhaltener Abdruck des zweiten Dinslakener Schöffensiegels überliefert, das bis in das frühe 17. Jahrhundert in Gebrauch blieb.[12] Irgendwann zwischen 1331 und 1337 muss das Siegel also ersetzt worden sein. Ob dies ein Reflex darauf war, dass die Herrschaft über Dinslaken im Jahr 1337 (oder kurz zuvor) von der Klever Grafenwitwe Mechthild von Virneburg auf deren Schwager Johann von Kleve übergegangen war, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.[13] Im Siegelbild zeigt das neue Siegel einen fünfstrahligen Stern, in dessen Winkeln jeweils drei Kugeln angeordnet sind. Eine plausible Begründung für den Wechsel des Siegels und des Bildmotivs kann aus den bekannten Fakten aber kaum abgeleitet werden.
Die hier vorgestellte Urkunde zeigt, welche Bedeutung solche Zufallsfunde für die landes- und ortsgeschichtliche Forschung haben können, wenn die Quellen der naheliegenden Archivbestände bereits (weitgehend) ausgewertet sind. Insbesondere Adelsarchiven kommt hier eine herausragende Rolle zu, da diese nicht selten über kaum erschlossene und von der Forschung bislang wenig beachtete Bestände verfügen, die noch manche Entdeckung bereithalten dürften.
[1] Manuel Hagemann, 750 Jahre Stadt Dinslaken. Die Stadterhebung im Jahr 1273 und ihr historischer Kontext, in: Kreis Wesel Jahrbuch 2023, S. 134-141; Gisela M. Marzin, Eine Stadt feiert sich. Von der Pergamenturkunde zum Bürgerfest – 750 Jahre Stadterhebung Dinslaken im Jahr 2023, in: ebd., S. 56-65.
[2] Vereinigte Adelsarchive im Rheinland, Archiv Schloss Harff, Urkunde 25.
[3] Leonard Korth (Bearb.), Das Gräflich von Mirbach’sche Archiv zu Harff. Urkunden und Akten zur Geschichte rheinischer und niederländischer Gebiete (Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 55), Köln 1892, S. 39f. Nr. 25. [Digitalisat: https://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/periodical/pageview/8000107]
[4] Sie wird weder erwähnt bei Rudolf Stampfuß/Anneliese Triller, Geschichte der Stadt Dinslaken 1273-1973, Dinslaken 1973 noch bei Margret Wensky (Bearb.), Dinslaken (Rheinischer Städteatlas XVI 85), Köln/Weimar/Wien 2007. Auch Theodor Ilgen, Quellen zur inneren Geschichte der rheinischen Territorien. Herzogtum Kleve. I: Ämter und Gerichte, Bd. 1, Bonn 1921 und Dieter Kastner, Die Territorialpolitik der Grafen von Kleve (Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein 11), Düsseldorf 1972 haben von der Urkunde keine Notiz genommen.
[5] Theodor Josef Lacomblet, Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins, Bd. 3, Düsseldorf 1853, Nr. 207.
[6] Kastner (wie Anm. 4), S. 106-112, 141.
[7] Ludger Horstkötter (Bearb.), Urkundenbuch der Abtei Hamborn, Bd. 1, Münster 2008, S. 59-63 Nr. 7.
[8] 1329: Horstkötter (wie Anm. 7), S. 90-92 Nr. 18; 1338: ebd., S. 102f. Nr. 26; 1354: Ilgen (wie Anm. 4), Bd. 2.1, Nr. 86; 1356: LAV NRW R Marienthal Rep./Hs. 1, fol. 20v.
[9] Manuel Hagemann, Herrschaft und Dienst. Territoriale Amtsträger unter Adolf II. von Kleve (1394-1448) (Schriften der Heresbach-Stiftung Kalkar 17), Bielefeld 2020, S. 564f.; Friedrich Wilhelm Oediger (Hg.), Quellen zur inneren Geschichte der rheinischen Territorien: Grafschaft Kleve. 2: Das Einkünfteverzeichnis des Grafen Dietrich IX. von 1319 und drei kleinere Verzeichnisse des rechtsrheinischen Bereichs (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 38), Düsseldorf 1982, Tl. 1, S. 261 Nr. 397/41, S. 267 Nr. 405/23.
[10] Wilhelm Ewald, Rheinische Siegel III: Die Siegel der rheinischen Städte und Gerichte (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 27), Bonn 1931, Tafel 74 Nr. 6 (Kleve), Tafel 75 Nr. 8 (Kranenburg), Tafel 77 Nr. 9 (Grieth), Tafel 78 Nr. 7 (Kalkar), Tafel 79 Nr. 4 (Orsoy).
[11] LAV NRW R Marienkamp Urk. 1. Beschrieben bei Wensky (wie Anm. 4), S. 8. Auch die Urkunde von 1331 wurde übrigens nicht von den Schöffen ausgestellt, sondern sie werden hier lediglich – wie schon 1325 – als siegelnde Zeugen hinzugezogen.
[12] LAV NRW R Kloster Hamborn Urk. 10. Vgl. Ewald (wie Anm. 10), Tafel 82 Nr. 3.
[13] Manuel Hagemann, Johann von Kleve (+ 1368). Der Erwerb der Grafschaft Kleve (Libelli Rhenani 21), Köln 2007, S. 36.
Zitierweise:
Hagemann, Manuel: Dinslakens älteste Schöffenurkunde. Eine “Entdeckung” zur 750-Jahrfeier, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 29.01.2024, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2024/01/dinslaken-schoeffenurkunde-hagemann