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Dreißigjähriger Krieg im Kinderbuch


Cover des Buches  “Bill Bo und seine sechs Kumpane”

Angriff auf Burg Dingelstein! Die Burg mitten in der Donau…. „Des isch doch nid die Donau, des isch doch der Rhein, du Simpel!“. Das kommt bekannt vor? Fluchen und Schimpfen ist aber nicht alles, was man aus dem alten Klassiker der Augsburger Puppenkiste „Bill Bo und seine Kumpane“ behalten könnte.

Der Dreißigjährige Krieg rückt immer wieder in den Fokus der Literatur, sei es durch Bertolt Brechts „Mutter Courage“ oder zuletzt durch Daniel Kehlmanns Roman „Tyll“.[1] Den Krieg in der Kinderliteratur zu finden, lässt aber stutzen: Dreißig Jahre Totschlag zum abendlichen Vorlesen? Nein, der Dreißigjährige Krieg selbst ist nicht Gegenstand der Erzählungen für Kinder, sehr wohl aber Handlungsrahmen für Geschichten, die sich an unter Zehnjährige richten. In die Kinderliteratur Eingang gefunden hat der Dreißigjährige Krieg schon früh, beispielsweise mit dem Kinderlied „Maikäfer flieg“ im 17. Jahrhundert. In der modernen Kinderliteratur sind die Beispiele aber etwas rarer, eines soll an dieser Stelle herausgegriffen werden: „Bill Bo und seine Kumpane“, geschrieben vom Kinderbuchautor und Serienproduzenten Josef Göhlen.

Bill Bo in Zeit und Raum
Die Geschichte von Bill Bo, dem Hauptmann einer umherziehenden Räuberbande, wurde für das Augsburger Puppentheater geschrieben und 1968 erstmals ausgestrahlt. Es handelte sich um eine der populären Fernsehproduktionen des Traditionsunternehmens, das auf einem 1968 von Josef Göhlen veröffentlichten Kinderbuch basiert.[2]

Die Geschichte des dünnhäutigen Räuberhauptmanns mit Hang zum Fluchen und Raufen und seiner trunkenen Bande ist rasch erzählt: Am Rhein angekommen, will sich der gefürchtete Halunke Bill Bo endlich niederlassen. „Ä Bursch un a Weinbersch“, ist alles, was sich der hesselnde Hauptmann noch wünscht und so sucht er sich Burg Dingelstein aus, den im Rhein gelegenen Sitz des Grafen von Dingelstein, seiner Tochter Ding-Ding und seinem spanischen Neffen Don Iosefo Spinoso von der Lameng.  Also bereitet die Bande den Sturm der Burg vor, doch auch der listige Räuberkumpane Kill Waas kann nicht verhindern, dass der tollpatschige Räuberhaufen von der klugen Grafentochter hinters Licht geführt wird. Die Eroberung der Burg scheitert zunächst und gelingt erst im zweiten Versuch, als die Bande sich in der nahe gelegenen Stadt Allheim als bayerische Landsknechte ausgegeben hatte. Doch selbst im Besitz der Burg unterliegt die Räuberschar aus einem Hessen, einem Schwaben, einem Sachsen, einem Bayer und einem Ungar der Klugheit der Grafentochter.

 

Die Verortung im Dreißigjährigen Krieg erfolgt durch die Vorrede des Erzählers (siehe Video-Ausschnitt Bill Bo und seine Kumpane 1968, mit Genehmigung der hrMEDIA)[3], passt aber auch in Kostümierung und Setting. Räumlich bewegt sich die Handlung am Rhein (nicht der Donau!) und in der „nahe gelegenen Stadt Allheim“. Ob das hessische Alheim, das alles andere als nah läge, gemeint ist, bleibt offen, ist aber für die Geschichte letztlich ohne Belang. In der etwas ausführlicheren Buchfassung erfolgt die Verortung zusätzlich auch zeitlich: Der Leser erfährt durch den Gesang eines Wirtshaus-Barden, dass Tilly schon die Stadt Meißen verloren habe.[4] Wenig später wird die Nachricht von Tillys Eroberung von Magdeburg berichtet.[5] Während die Eroberung von Meißen auf das Jahr 1637 datiert, fand die berühmte Zerstörung Magdeburgs im Mai 1631 statt. Der zeitliche Handlungsrahmen scheint also sehr frei gewählt, in jedem Fall aber mitten in den verheerenden Krieg gelegt.

Wertungskategorien zum Krieg
Kinder also an den Dreißigjährigen Krieg heranführen? Das ist sicher nicht das Ziel von Bill Bo. Aber dennoch entsteht ein Bild, das vielleicht weniger Kinder, aber zumindest die Historiker/innen interessiert. Denn der Dreißigjährige Krieg erscheint durch Wort und Spiel in zwei mikrogeschichtlichen Wertungskategorien: Opportunismus bzw. Unübersichtlichkeit (1) und Entgrenzung von Gewalt und Kriegsgeschehen (2).

(1) Dass im Dreißigjährigen Krieg die Bündniskonstellationen wechselten und selbst die Zuordnung einzelner Heere oder Soldatengruppen zu einer Kriegspartei nicht immer deutlich war, gehört heute zu den Gemeinplätzen über den Krieg. Bei Bill Bo drückt sich diese Unübersichtlichkeit des Kriegsgeschehens beispielsweise so aus:

„Vorgestern hörte ich, daß ein Regiment Landesknechte und Musketiere der Herzoglich-Bayerischen Armee in Allheim eingerückt sei.“ „Ja und? Die haben dort nur Quartier bezogen und können Allheim verteidigen. Die Stadt gehört doch zu den Kaiserlichen.“ „Das weiß man heute nicht so genau, ob kaiserlich oder schwedisch, alles gleich. Wenn Regimenter in eine Stadt einfallen, gibt es meist Mord und Plünderung.“[6]

Daneben steht der Opportunismus, dessen klangvollstes Beispiel der schon genannte Sänger gab. Bevor dieser den bayerischen Feldherrn in höchsten Tönen lobsingt, sang er ein ganz anderes Lied:

„Ich bin ein Postbot, ausgesandt
vom König in Schweden in alle Land.
dem Monsieur Tilly nachzufragen,
der sich aus Meißen hat lassen jagen.
Ei, Lieber, sagt, wo find ich doch
den verlorenen Grafen Tilly noch?“[7]

Der Protest der anwesenden Soldaten aber lässt den Barden rasch andere Töne anstimmen und das Schmachlied wird zur Lobeshymne.[8] Durch ihr Loblied auf Tilly geben sich die Regimentssoldaten in Allheim als bayerische Truppen zu erkennen. Bill Bos Bande hingegen kämpft für niemanden als sich selbst. Als Trupp raubender Marodeure ist die Bande damit geschichtsnäher als die Handlung insgesamt.

(2) Neben Opportunismus und Unübersichtlichkeit der Kriegsbeteiligten bilden die Gewalterfahrung und die Entgrenzung des Krieges in  Gewalt eine zweite Wertungskategorie in Josef Göhlens Kinderbuch. Dass Bill Bo und seine Bande stets gewaltbereit sind, zeigen sie häufig und deutlich allein durch Schlägereien untereinander. Aber auch in der Stadt Allheim lassen es die Räuber drauf ankommen und sprechen mit den Fäusten. Bill Bos Gewalt oder Gewaltandrohungen sind für die Gewalt des Dreißigjährigen Krieges vielleicht aussagekräftiger als die Vorstellung von Schlachten zwischen riesigen Heeren. Es brauchte keine Heere, um das „Rad der Gewalt“ (Maren Lorenz) in Schwung zu bringen, Gewalt gab es in den Soldatenlagern, in den Quartieren und in den Haushalten. Gewalt gab es zu Rekrutierungszwecken, zur Ehrverteidigung, zum Widerstand und als sexuelle Gewalt. Kriegsgewalt ist vielfältig und beschränkt sich nicht symmetrisch auf fraktionell gebundene Kriegsbeteiligte – der Krieg stand im “Lebensumfeld der Bevölkerung”.[9] Selbstverständlich fährt Bill Bo nicht diese Palette der Gewaltanwendungen vor. Seine Gewalt bleibt – kindgerecht – eine Drohung und eine Reputation, die ihren konkretesten Niederschlag in seinem berüchtigten Fluch (“Bombengranatenelementplitzplotzdonnerwettersakramentnochmal”) findet.

Gemeinsam ist beiden Darstellungskategorien der Versuch, zeitgenössische Perspektiven auf den Krieg aufzugreifen. Der Krieg bleibt bei Bill Bo ein lokales Ereignis, das sich insbesondere durch die Präsenz von Landsknechten und Räuberbanden auszeichnet, die dem Opportunismus ebenso wie der Gewaltentgrenzung anheimfallen. Die Strategen an der rheinischen Front heißen nicht Tilly und Wallenstein, sondern Willi und Walli, ein Eichhörnchen und ein Graureiher. Eine Darstellung des Krieges, die junge Leser/innen über den Dreißigjährigen Krieg aufklärt, ist das Buch nicht und will es auch nicht sein.

“Pädagogik von innen”
Was aber dann ist das Ziel dieser Kinderliteratur? „Pädagogik von innen“[10], sagt der Autor Josef Göhlen. Der 1931 geborene Historiker, Germanist und Philosoph arbeitete sein gesamtes Berufsleben im Fernsehen und schrieb nicht nur Bill Bo, sondern verantwortete auch Kinderserienklassiker wie „Biene Maja“ oder „Heidi“, die Straßenfeger des kindgerechten Vorabendprogramms. Göhlen wollte „nie ein Programm mit vorgetragenen pädagogischen Absichten machen“ und suchte nach „literarische[n] Stoffe[n], die diese Inhalte und diese Ansprache mitbrachten und die über den momentanen Zeitgeist hinaus gültig bleiben würden“.[11] Bill Bo gehört vielleicht nicht zu den pädagogikstärksten seiner Werke. Und doch ist der Dreißigjährige Krieg nicht einfach Rahmenhandlung eines grenzenlosen Fluchens, Raufens und Schimpfens. Im Gegenteil steht deren Nihilierung im Spott und in der Bedachtheit im Mittelpunkt. ‘Überlegen’ und wie Kill Waas und Ding-Ding ‘Probleme angehen’ statt zu umgehen sind die handlungstreibenden Verben der Geschichte.

Vor allem aber dient Bill Bo der Unterhaltung. Doch gerade dies führt zu einer weiteren Frage: Der Erinnerungskultur an den Krieg. Auch wenn der Dreißigjährige Krieg selbst nicht Gegenstand der Geschichte ist, so stellt sich im analytischen Objektiv dennoch die Frage nach der Kriegserinnerungskultur: In der neueren Fachliteratur heißt es, der Dreißigjährige Krieg habe nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg seine traumahafte Wirkung verloren.[12] Ist Bill Bo ein Beweis dafür? Könnte man sich ein unterhaltsames Kinderbuch wie Bill Bo über Soldatentrupps des ersten Weltkriegs vorstellen? Dürften wir über Frontenverlauf und Soldatensorgen lachen, ja mitfühlen mit der Tollpatschigkeit phantasierter und doch realistischer Charaktere eines Krieges? Wahrscheinlich nicht. Wenn es aber seit Bill Bo zum Dreißigjährigen Krieg geht, was sind die Voraussetzungen dieses Gedenk- und Kommunikationswandels über Krieg im Kinderzimmer? Wie hielt der Dreißigjährige Krieg, das große Deutsche Trauma, Einzug in die abendlichen Vorlesestunden?

Dieser Blogbeitrag mag ein Gedanke sein, doch weitere sind ebenso möglich wie nötig. Wenn Sie andere Kinderbuchliteratur kennen, die im Kontext des Dreißigjährigen Kriegs spielt, hinterlassen Sie bitte einen Kommentar zu diesem Beitrag.

 

Korrekturhinweis [21. Dezember 2021]:
Das Buch “Bill Bo und seine Kumpane” erschien erstmals 1968 beim Hoch-Verlag und nicht wie in der vorigen Textfassung angegeben in den 1990er Jahren. Für den Hinweis dankt der Autor B. Löschberger.


[1] Jüngst ein Überblick bei Kaiser, Michael: 1618–2018. Eine bibliographische Bestandsaufnahme zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges vor 400 Jahren, in: Zeitschrift für Historische Forschung 45/4 (2018), S. 715-797, hier 754-757.

[2] Göhlen, Josef: Bill Bo und seine sechs Kumpane. Mit Bildern von Horst Lemke, Stuttgart/Wien 1995.

[3] Im Buch finden sich die Verweise unter Göhlen: Bill Bo, S. 5, 25, 29.

[4] Göhlen: Bill Bo, S. 72-74.

[5] Göhlen: Bill Bo, S. 96.

[6] Göhlen: Bill Bo, S. 28, ähnlich auch S. 29.

[7] Göhlen: Bill Bo, S. 72-74.

[8] „Tilly ist ein großer Held, / er schlägt die Feinde, wie ihm gefällt, / er jagt sie aus dem Lande. / In diesem Land, da wird er gar, / bevor zu Ende geht das Jahr, / sie legen in Fesseln und Bande. Oho, oho, bravo, bravissimo!“ Göhlen: Bill Bo, S. 72-74.

[9] Medick, Hans: Der Dreißigjährige Krieg. Zeugnisse vom Leben mit Gewalt, Göttingen 2018, S. 12.

[10] Gangloff, Tillmann P.: „Keine kurzen Hosen“. Interview mit Josef Göhlen zur Entwicklung des Kinderfernsehens in Deutschland, in: Medienkorrespondenz 21/1 (2017), S. 86-89, online unter: www.medienkorrespondenz.de/leitartikel/artikel/keine-kurzen-hosen.html [letzter Zugriff: 08.05.18].

[11] Gangloff: Interview.

[12] Münkler, Herfried: Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648, Berlin 2017.

 


Zitierweise:
Bechtold, Jonas: Dreißigjähriger Krieg im Kinderbuch, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 14.10.2019, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2019/10/30j-krieg-im-kinderbuch/