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Digitales Edieren im 21. Jahrhundert

Anlässlich der Online-Veröffentlichung der Kabinettsprotokolle der Landesregierung NRW 1946 bis 1980 veranstaltete das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen am 3. Und 4. November 2015 in der Villa Horion in Düsseldorf die Tagung „Digitales Edieren im 21. Jahrhundert“.

In drei Sektionen beleuchteten neun Referenten den Themenbereich des digitalen Edierens aus zahlreichen Perspektiven (Tagungsprogramm)[1]. Leitlinien markierten dabei die eingangs von Martin Schlemmer (Duisburg) aufgeworfenen Fragen, ob Editionen „Luxusprodukte oder Auslaufmodelle“ seien und wie den Herausforderungen der Langzeitarchivierung bzw. Ewigkeitslast der dauerhaften Onlineverfügbarkeit begegnet werden kann.

Mit dem Hinweis auf die fundamentale wissenschaftliche Bedeutung von „klassischen“ analogen Editionen setzten sich Francesco Roberg (Marburg) und Hans-Heinrich Jansen (Koblenz) mit dem problematischen Begriff der Onlineedition auseinander. Vielfach lasse sich eine begriffliche Gleichsetzung von Digitalisieren und Edieren feststellen – und damit die Verkennung des wissenschaftlichen Werts von Editionen. Roberg forderte mit Blick auf die fehlende wissenschaftliche Durchdringungstiefe reiner Textabbildungen eine höhere begriffliche Trennschärfe zwischen Materialsammlungen im Netz und Onlinepublikationen nach editorischen Kriterien. Jansen wies auf das Paradoxon hin, dass Editionen im Netz zwar einfacher erreichbar, aber insbesondere für „Nichtexperten“ schwieriger nutzbar seien – der Wegfall klassischer Zugriffselemente, insbesondere des Registers, könne nicht gleichwertig durch eine Volltextsuche ersetzt werden und erschwere eine zielgerichtete Recherche.

Anhand praktischer Beispiele befassten sich Christian Sieber (Zürich), Wolfgang Tischner (St. Augustin) und Sascha Hinkel (Münster) mit dem Themenbereich. Sie beschrieben die Editionsarbeit als archivisches Kerngeschäft, dessen zeitgemäße Form die Onlinepublikation sei. Sieber präsentierte das Staatsarchiv Zürich als einen „Pionier des Medienwandels“ und erläuterte dessen Strategie, zentrale Quellen(serien) des Kantons Zürich online zu edieren. Dabei verwies er auf die Potenziale der verwendeten Volltextsuche, welche Nutzereingaben automatisch um historische Schreibweisen ergänzen und dadurch ursprüngliche und moderne Sprachvarianten zur Verfügung stellen könne. Tischner stellte die Vorteile hybrider Editionen heraus, wobei er darunter nicht retrodigitalisierte Printeditionen, sondern zusätzlich im Druck publizierte Onlineeditionen versteht. Durch die Nutzung hybrider Editions-CMS ließen sich wesentliche Risiken bei der Langzeitarchivierung reduzieren, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verbessern und jederzeit aktualisier- und veränderbare Texte (XML) erstellen. Die Materialmengen insbesondere zeitgeschichtlicher Editionsvorhaben führte er als zwingendes Argument für Onlineeditionen ins Feld. Sascha Hinkel berichtete in seinem Vortrag über die Konzeption und technische Umsetzung der laufenden kritischen Online-Edition der Nuntiaturberichte Pacellis und der Tagebücher Faulhabers. Auch er hob die wesentlichen Vorteile der Publikationsform hervor, die sich mit Blick auf den Quellenumfang ergeben.

Insgesamt bewegte sich die Tagung am ersten Tag zwischen zwei Polen: Während Frank Bischoff (Duisburg) den Mehrwert wissenschaftlich fundierter Onlineangebote und die Perspektiven der kollaborativen digitalen Editionsarbeit betonte, was insbesondere Wolfgang Tischner am konkreten Beispiel ausführte, negierte Roland Reuß (Heidelberg) in seinen Ausführungen am Ende der zweiten Sektion nahezu jeden wissenschaftlichen Wert online publizierter Editionen. Anstelle einer konstruktiven Auseinandersetzung mit relevanten Kritikpunkten, insbesondere den Risiken technischer Angreifbar- und Manipulierbarkeit, standen dabei eine Generalkritik am Prinzip des OpenAccess und der Vorwurf, lediglich „manipulierbare Zeichenketten“ zu produzieren – vorgetragen in Form eines politischen Mantras.

Im Zentrum des zweiten Tages stand die Freischaltung der digitalen Edition der Kabinettsprotokolle im Rahmen des Archivportals NRW durch Staatssekretär Bernd Neuendorf, der die Protokolle als Leitquellen in die Transparenzpolitik der Landesregierung einordnete, da sie Regierungshandeln für jedermann nachvollziehbar machten. Martin Schlemmer bestätigte diese Perspektive: Anschaulich führte er in die Edition im Archivportal ein und machte anhand von Beispielen den Gewinn durch Verknüpfungen mit Gemeinsamen Normdateien (GND), den Geschichtsportalen der beiden Landschaftsverbände und Landtagsdrucksachen deutlich. Darüber hinaus betonte Schlemmer das offene Angebot des kooperativen Arbeitens, das sich mit der weiterführenden Arbeit an der Edition verbinde.

Aus der Sichtweise eines Beteiligten suchte Landesminister a.D. Burkhard Hirsch den Quellenwert der Kabinettsprotokolle für den heutigen Leser zu eruieren. Da der als „aseptisch“ bezeichnete Eindruck dieser Verwaltungspapiere den unverstellten Blick auf politische Wirklichkeiten zunächst verhindere, obliege es dem Leser mit detaillierten Fragen nach der Häufigkeit eines Themas, den Teilnehmern und der Sitzungsdauer an diese heranzutreten, um so schließlich das von Max Weber genannte „Bohren von harten Brettern“ zu erkennen. Das „Sprechen der Quellen“ zu erleichtern stellte Hirsch daher als zentrale Aufgabe einer Edition heraus.

Was heute zu inhaltlichen wie technischen editorischen Standards gezählt werden kann, suchte Karl-Ulrich Gelberg (München) zu ergründen. Ihm erschien sich die Verknüpfung mit internen und externen Inhalten als neuer digitaler Standard herauszubilden, während bisher gesicherte Standards, wie das Register an Bedeutung verlören. Im Dialog mit Archivaren und Bibliothekaren sah Gelberg die Voraussetzung für eine gelungen aufgearbeitete und technisch adäquate Edition gegeben, die im unüberschaubaren Ozean zeitgeschichtlicher Quellen eine Navigationshilfe darstellen und möglicherweise für viele Nutzer den Weg in Archive und Bibliotheken bahnen könnte.

Daran anknüpfend referierten Jakob Wührer (Wien) und Patrick Sahle (Köln) über die Konsequenzen des Wandels des Editionsstandards. Wührer beschäftigte sich mit den editorischen Standards im Hinblick auf die Durchführung eines Editionsvorhabens, das er auch als einen Entfremdungsprozess charakterisierte, beherrscht von einem Spannungsfeld aus Pragmatismus und Tradition. Mit Beginn des digitalen Editionszeitalters gehe ein zwangsläufiger Abschied von bisherigen Standards einher, weshalb Wührer für Qualitätsstandards anstelle von Editionsrichtlinien, das heißt die Reflexion und Offenlegung der eigenen Editionsgrundsätze, plädierte. Sahle bekräftigte, dass eine digitale Edition dem digitalen Paradigma folgt, welches er vornehmlich als Ausschöpfung von Potenzialen umriss. Er stellte fest, dass es sich nicht bloß um einen Wechsel des Mediums, sondern um einen tiefgreifenden Wandel der Wissensweitergabe und -verknüpfung handelt. Dabei gelte jedoch, dass keine genreeinheitliche Edition geschaffen werden kann. Der digitalen Edition sprach Sahle die Chance zu, sich zur „Werkbank“ für übergreifende Fragestellungen und Herangehensweisen zu entwickeln.

Der zweite Tagungstag knüpfte an die vorangegangenen Diskussionen an und vertiefte sie: Übereinstimmend diagnostizierten Gelberg, Wührer und Sahle einen Verlust alter und die Herausbildung neuer Standards. Unter unterschiedlichen Perspektiven gaben sie Aussichten auf Entwicklungspotenziale und Chancen digitaler Editionen im 21. Jahrhundert. Roland Reuß hingegen wiederholte sein fundamentales wie politisches Mantra der Manipulierbarkeit, das insbesondere Patrick Sahle als „Scheingefecht“ entkräften konnte, indem er auf den Institutionalismus digitaler Editionen und die gleichbleibende Aufgabe der Archive verwies – Quellen langfristig als Forschungsmaterial vorzuhalten.


[1] Einige Vorträge sind auf den Seiten des Landesarchivs NRW verfügbar unter: [Link veraltet, Anm. d. Redaktion 02.04.2019]

 

Zitierweise:
Schulz, René: “Digitales Edieren im 21. Jahrhundert. Neue Qualität des kollaborativen Edierens oder Herstellung manipulierbarer Zeichenketten?”, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 03.02.2016 [Aktualisierung am 14.07.2017], http://histrhen.landesgeschichte.eu/2016/02/digitales-edieren-im-21-jahrhundert/